Foto: cdd20

„Politik und Wissenschaft folgen unterschiedlichen Logiken“

Viele politische und gesellschaftliche Themen werden vorwiegend als Wissensfragen behandelt. Der typisch politische Aushandlungsprozess gehe dabei verloren, sagt der Soziologie Alexander Bogner. Im Interview spricht er über gemeinsame Wahrheiten, Handlungsoptionen und die Rolle der Wissenschaftskommunikation.


Herr Bogner, Sie schreiben in Ihrem Buch „Die Epistemisierung des Politischen“, dass politische Streitfragen zunehmend als Wissensfragen verhandelt werden und dass das die Demokratie gefährden könne. Warum?

Alexander Bogner ist Soziologe und arbeitet am Institut für Technikfolgen-Abschätzung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Von 2017 bis 2019 war er Professor für Soziologie an der Universität Innsbruck. Sein aktuelles Buch „Die Epistemisierung des Politischen. Wie die Macht des Wissens die Demokratie gefährdet“ ist bei Reclam erschienen. Foto: privat

Das Problem besteht darin, dass es in vielen politischen Auseinandersetzungen vordergründig um Wissensfragen, um Daten, Prognosen und Evidenzen geht. Typische Fragen lauten: Wie hoch ist das Risiko? Wer hat die besseren Daten? Wer hat das bessere Wissen? Was eigentlich das Politische ausmacht, nämlich die Auseinandersetzung mit verschiedenen Interessen und Werten, wird dabei an den Rand gedrängt.

Es entsteht dabei der Eindruck, dass sich aus dem besseren Wissen automatisch Handlungszwänge ergeben. Aber aus der wissenschaftlichen Expertise heraus ergibt sich noch kein politischer Sachzwang.

Wie gelingt es, zwischen epistemischen und normativen Fragen zu unterscheiden und entsprechend zu kommunizieren?
Zunächst muss die Politik sich natürlich schlau machen und die wissenschaftlichen Grundlagen beachten. Das ist im Fall der Elektromobilität oder Nanomaterialien genauso wichtig wie bei der 5G-Technologie, Künstlicher Intelligenz oder eben in der Coronakrise.

„Es entsteht dabei der Eindruck, dass sich aus dem besseren Wissen automatisch Handlungszwänge ergeben.“ Alexander Bogner
Die politische Debatte sollte sich allerdings nicht auf die Beschäftigung mit dem wissenschaftlichen Kontext beschränken. Weder gibt es auf politische Streitfragen stets „richtige“ Antworten, noch ist eine wissenschaftsbasierte Politik automatisch fortschrittlich. In der Politik geht es nicht um Wahrheit, sondern um den konstruktiven Umgang mit Meinungsvielfalt. Am Ende muss man kluge Kompromisse finden.

Könnten Sie das an einem Beispiel illustrieren?
In der Klimakrise spielt der Weltklimarat (IPCC) eine hervorgehobene Rolle. Er hat die Aufgabe, das beste verfügbare Wissen zu bündeln und in Form umfangreicher Sachstandsberichte an die Politik weiterzuleiten. Es ist nicht seine Aufgabe, der Politik Vorschriften zu machen. In der Vergangenheit ist der IPCC immer wieder attackiert worden, wegen handwerklicher Fehler und angeblicher Verschwörungen. Damit wollte man dieses Gremium diskreditieren, um eine fortschrittliche Klimapolitik zu verhindern. Anstelle offener Interessenpolitik betrieb man eine Politik, die ihre normativen Ziele im Kampf um wissenschaftliche Expertise durchzusetzen versuchte.

Wissenschaftliche Politikberatung

Wie Bundestagsabgeordnete wissenschaftliche Expertise nutzen zeigt eine Umfrage im Auftrag der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina. Etwa die Hälfte der befragten Politiker*innen stimmt der Aussage zu, dass wissenschaftliche Erkenntnisse in angemessenem Umfang in politische Entscheidungen berücksichtigt werden. Mehr als ein Drittel empfindet die Berücksichtigung als zu gering. Gründe für die geringe Berücksichtigung sind laut der Befragung Zeitmangel und eine fehlende konkrete Nutzbarkeit.

Gerade im Klimaaktivismus wird immer wieder die Forderung laut „Follow the Science“. Inwiefern würden Sie diesem Leitspruch widersprechen?
Man könnte zurückfragen: Wem sollen wir denn sonst folgen, wenn es um komplexe Zusammenhänge wie in der Klimakrise oder der Coronapandemie geht, wenn nicht der Wissenschaft? Natürlich braucht Politik eine wissenschaftliche Grundlage. Wenn „Follow the Science“ jedoch bedeutet, dass wir der Wissenschaft bedingungslos folgen sollen und es daher keinen politischen Handlungsspielraum mehr gibt, dann ist diese Parole problematisch und schlichtweg falsch. Dann würde sie nahelegen, dass es automatisch gefährlich wird, wenn die Politik nicht dem Expert*innenkonsens folgen.

Welche Rolle sollte Ihrer Meinung nach Wissenschaft und wissenschaftliche Expertise in der Politikberatung einnehmen?
In der Wissenschaft geht es darum, sich um neue oder interessante Erkenntnisse zu bemühen, ohne dabei von vornherein auf politische oder gesellschaftliche Relevanz zu schielen. Die Politik ihrerseits legitimiert sich nicht über Wahrheit oder Wissen, sondern über Mehrheiten und Verfassungskonformität. Das heißt, Politik und Wissenschaft folgen unterschiedlichen Logiken.

Bilden Wissen und Wissenschaft nicht die Basis für die Wertefragen, die die Politik aushandeln soll?
Die Wissenschaft stellt natürlich – besonders in unübersichtlichen Krisenzeiten wie einer Pandemie – wesentliche Erkenntnisse und Deutungen zur Verfügung. Zuallererst müssen wir die aktuelle Bedrohung identifizieren, wir müssen wissen, wie gefährlich das Virus ist, wie die Ansteckungswege verlaufen. Die Einschätzung der Wissenschaft ist also die Voraussetzung für eine geordnete politische Debatte.

„Schließlich gibt es auch in „der Wissenschaft“ aufgrund der verschiedenen disziplinären Standpunkte zwangsläufig Differenzen.“ Alexander Bogner
Im zweiten Schritt, wenn es um die politischen Maßnahmen geht, müssen natürlich unterschiedliche Aspekte und Perspektiven berücksichtigt werden. Und auch da kommt die Wissenschaft wieder ins Spiel.

Schließlich gibt es auch in „der Wissenschaft“ aufgrund der verschiedenen disziplinären Standpunkte zwangsläufig Differenzen. Die Bildungsforschung, Ökonomie oder Psychologie problematisieren eher einen harten Lockdown, Medizin und Virologie dagegen weniger. Auf dieser Grundlage geht es in der öffentlichen und politischen Debatte um eine konstruktive Auseinandersetzung mit der Pluralität verschiedener Wertebilder und Interessen.

Welche Rolle soll Ihrer Meinung nach die Wissenschaftskommunikation einnehmen, wenn es um Themen wie den Klimawandel oder die Coronapandemie geht?
Wissenschaft soll informieren und dabei auch darüber sprechen, wie sie zu ihren Ergebnissen kommt. Wichtig für das öffentliche Vertrauen in Wissenschaft ist, dass die Wissenschaft verständlich macht, wie ihre Prozesse funktionieren, wie sie ihr Wissen produziert und welches Ethos die Wissenschaft antreibt. Es ist nicht wichtig, dass Bürger*innen jede wissenschaftliche Aussagen verstehen, alle Fakten kennen oder alle aktuellen Zahlen. Sie müssen vielmehr verstehen, wie Wissenschaft funktioniert:

„Wissenschaft soll informieren und dabei auch darüber sprechen, wie sie zu ihren Ergebnissen kommt.“ Alexander Bogner
Dass es keine endgültigen Wahrheiten gibt, dass wissenschaftliche Erkenntnisse mit Unsicherheiten behaftet sind und dass sich gerade in Krisensituationen Expert*innen natürlich auch widersprechen. Ich glaube, dass man auch diese Unsicherheiten, Widersprüche und Uneindeutigkeiten kommunizieren muss, weil alles andere sowieso unglaubwürdig wäre. Christian Drosten ist deswegen in den Rang eines Chefberaters aufgestiegen, weil er genau das getan hat. Informationen über aktuelle Erkenntnisse sind genauso wichtig wie die Aufklärung über verbleibendes Nichtwissen.

Wie soll auf der anderen Seite die Politik mit Vorläufigkeit und Dissens umgehen, wenn sie wissenschaftsbasierte Handlungsoptionen ableiten möchte?
Das ist vor allem in Krisenzeiten eine schwierige Situation: Das Wissen ist oft unsicher und uneindeutig, die Datenlage unbefriedigend; es fehlen vorerst wichtige Studien und Expert*innen widersprechen sich. Außerdem steht die Politik unter einem hohen Beobachtungs- und Zeitdruck und muss Entscheidungen treffen. Das einzige Mittel, das hier hilft, ist Transparenz. Die Politik sollte nachvollziehbar machen, auf welche Daten, Studien und Erkenntnisse sie sich stützt. Sie sollte klar zeigen, auf welche Weise sie diese Erkenntnisse verarbeitet hat und warum sie zu diesen Entscheidungen gelangt ist, die sie präferiert. Wenn das gelingt, schafft das Vertrauen.


Weitere Beiträge zu wissenschaftlicher Politikberatung