Foto: Paul Slezak

Teestunde mit Forschenden

Marie Niederleithinger bringt Forschende zu Tee und Gespräch in eine Wiener Seniorenresidenz, um dort über Themen wie Radioaktivität in der Krebsbehandlung oder Gendermedizin zu diskutieren. Im Gastbeitrag stellt die Dokrorandin ihr Projekt vor und gibt Tipps zum Nachmachen.

Das passiert mir kein zweites Mal! In der Bibliothek der Seniorenresidenz sitzen zu meiner Linken eine Dame und ihr Mann. Die beiden haben über den Verteiler des „Kuratoriums Wiener Pensionisten-Wohnhäuser“ von meinem Nachmittagsprogramm „Teestunde mit Forschenden“ erfahren. Im Gegensatz zu den meisten anderen in der Runde, wohnen sie nicht im Haus Augarten. Sie sind an diesem ersten Donnerstag im März extra gekommen, um mit mir und der Radiochemikerin Marie Brandt über Radioaktivität in der Medizin zu sprechen. Nun hat besagte Dame uns zwei Maries mit ihren verdächtig kennerischen Fragen ins Stocken gebracht. Kein zweites Mal werde ich es versäumen, die Teilnehmenden zu Beginn unserer gemeinsamen Stunde neben ihren persönlichen Erfahrungen mit dem Thema auch nach ihrem beruflichen Hintergrund zu fragen! Besagte Dame hat in Seibersdorf als Radiotechnikerin gearbeitet, erfahren wir. In der niederösterreichischen Gemeinde steht das hierzulande bekannteste Forschungszentrum für radioaktive Anwendungen. Als sie schwanger wurde, habe ihr Mann hinter ihrem Rücken für sie gekündigt. Sie sei sehr böse auf ihn gewesen, erinnert sie sich, denn sie hatte sogar mehr als er verdient. Es waren aber auch deutlich andere Bedingungen, unter denen damals mit Radioaktivität hantiert wurde. Das Forschungsgebiet ist noch heute ein „heißes“, wie wir im Fachjargon zu allem Radioaktiven sagen.

Marie Curie war Wegbereiterin darin, Radioaktivität zur Behandlung von Krebs einzusetzen. Marie Brandt ist Postdoc am Ludwig Boltzmann Institut Applied Diagnostics und meine Partnerin aus der Wissenschaft für diese erste Ausgabe der „Teestunde mit Forschenden.“ Da sie zudem außergewöhnlich gut mit der Nähmaschine umgehen kann und sich für das Leben unseres historischen Vorbilds interessiert, trägt sie heute ein Curie-Kostüm. Da stehen wir zwei Maries also vor den Seniorinnen und Senioren und ich befinde mich in einer seltsamen Doppelrolle – als Moderatorin und angehende Expertin.

Am Institut, wo ich seit einigen Monaten an meiner Dissertation arbeite, forschen wir an medizinischer Bildgebung zur Diagnose von Prostata- und Dickdarmkrebs. Die Patientinnen und Patienten bekommen dabei radioaktiv markierte Moleküle in Kleinstmengen gespritzt, die in verschiedener Weise insbesondere an oder in Krebszellen hängenbleiben. Außerhalb des Körpers können sehr empfindliche Sensoren die radioaktiven Signale aufzeichnen. Computerprogramme helfen uns zu rekonstruieren, wo die Tumoren sitzen. Einer der Senioren erzählt uns knapp davon, dass auch er Prostatakrebs hatte. Offensichtlich möchte er aber nicht ins Detail gehen. Seine zwei Sitznachbarinnen haken ein: Genau das mache alles noch schlimmer – dass die Männer nicht über die Erkrankung reden würden. Sie hätten da auch so welche in ihrem Bekanntenkreis, sagen sie. Während wir unsere verschiedenen Expertisen zum Thema Prostatakrebs austauschen, merken wir nicht, dass es an diesem Winternachmittag in der Bibliothek inzwischen schummrig geworden ist.

Eine Freundin von mir betätigt hinten im Raum den Lichtschalter. Jetzt kann unser Publikum die Aufnahme einer Schilddrüse deutlich besser sehen, die meine Kollegin ausgedruckt hat und auf der das Organ durch die angereicherte Radioaktivität leuchtet. Marie Brandt ist gerade dazu übergegangen, von weiteren, viel häufigeren Anwendungen von Radioaktivität in der Klinik zu erzählen. Die Funktion der Schilddrüse auf diese Weise zu überprüfen, ist so ein Beispiel. Mit der Untersuchung hat noch niemand im Raum Erfahrung gemacht, sagen sie uns. Dafür erzählt uns jetzt eine Dame von dem Apparat, der in ihrer Kindheit im Schuhgeschäft gestanden hat. Mittels Röntgenstrahlen wurde damals doch tatsächlich nachgesehen, wie gut der Fuß in den Schuh passte. Aus einer Vorlesung wusste ich von dieser nach heutigem Verständnis von Strahlenschutz absurden Praktik – dass ich aber mal mit einer Zeugin über unsere Forschung sprechen würde, hätte ich mir nicht träumen lassen. Eine andere Dame deckt nun auf, dass sie als Krankenschwester an jenem Krankenhaus, an dem heute auch unser Institut angesiedelt ist, ebenfalls oft ionisierender Strahlung ausgesetzt war. Damals sei sie noch mit den Worten „du hast ja schon zwei Kinder“ in den Untersuchungsraum geschickt worden.

Eine verletzliche Zielgruppe in Zeiten der Pandemie

Die erste Teestunde hatte all meine Erwartungen übertroffen. Dann kam der Lock-Down. Es wurde undenkbar, gemeinsam in der gemütlichen kleinen Bibliothek zusammenzusitzen. Umso mehr habe ich mich gefreut, als meine Ansprechpartnerin  des Haus Augarten mir das „Go“ gab, die Veranstaltung im Garten fortzuführen Seitdem habe ich die Seniorinnen und Senioren einen Donnerstagnachmittag im August besucht. Auch jetzt zum Septembertermin  ist der Himmel strahlend blau. Doch es ist schon merklich frischer im schönen Garten der Seniorenresidenz. Dennoch können wir noch einmal in das sichere Draußen ausweichen und mein Partner-Café im Viertel hat Eistee für mein Publikum beigesteuert. Ich bin nervös: Zum ersten Mal begleitet mich eine Person, mit der ich nicht vertraut bin. Die Gender-Mainstreaming-Beauftragte der Medizinischen Universität Wien, Sandra Steinböck, wird gleich darüber sprechen, welchen Einfluss Geschlecht und Geschlechterrollen darauf haben können, wie wir Erkrankungen erleben und welche Erfahrungen wir im Gesundheitssystem machen.

In meinem Ehrgeiz, für meine Expertin Publikum anzuwerben, lade ich die kartenspielenden oder sich auf der Hollywood-Schaukel unterhaltenden Seniorinnen und Senioren ein, sich zu uns zu setzen. Mit dieser Methode hatte ich schon beim letzten Mal Erfolg – als mich Cornelia Schneider mit ihrem Beitrag zu menschlichen Zellen im Labor Kultur begleitet hatte. Allerdings ist es keine leichte Aufgabe, mit Forschungsthemen gegen eine feste Nachmittagsverabredung zu Rommé und Co. anzukommen. Die Damen auf den Hollywoodschaukeln bekunden uns ihr Interesse – unter der Voraussetzung allerdings, dass wir die Teestunde just dort abhalten, wo sie sich gerade befinden.

Die direkte Ansprache lohnt sich

Immer mehr Seniorinnen und Senioren setzen sich spontan zu uns und wir beginnen vor meinem bislang größten Teestunden-Publikum damit, über Herzinfarkt und Depressionen zu sprechen. Die Blätter in meiner Hand entreißt mir der Wind beinahe. Ich habe hundert Frauen- und hundert Männericons ausgedruckt. Gemeinsam schätzen wir, wie viele von ihnen in Österreich in ihrem Leben an den beiden Erkrankungen leiden. Ich muss leider mehr dieser kleinen Figuren mit einem Filzstift ausmalen, als die Damen und Herren  vermutet haben. Der Wind macht sich derweil an den Flipchart-Papieren zu schaffen, die wir in diesem spontanen Setting mitten in unserem Sitzkreis auf dem Boden mit Steinchen beschwert haben. Auf ihnen mache ich mir Notizen zu den Erfahrungen, Anregungen und Themenwünsche meines Publikums. Die meisten meiner Mitschriften sind heute von einer Dame inspiriert, die uns erzählt, sie habe sich als Leiterin eines großen Teams in ihrem Berufsleben keine längeren Auszeiten für ihre Genesung gegönnt – so auch nach einem Herzleiden. Laut meiner Gastexpertin verhalten sich Frauen statistisch gesehen oft so, weil sie in ihrem sozialen Umfeld Fürsorgerollen einnehmen und glauben, sich da nicht herausnehmen zu können. Von ihnen würden nach einem Herzinfarkt viel weniger eine Reha in Anspruch nehmen als Männer es tun. Abgesehen davon, dass ihre möglichen Symptome viel weniger bekannt sind und wertvolle Zeit vergehen kann, bis Infarkte als solche erkannt werden.

Wir wechseln zur zweiten Erkrankung anhand derer wir „Gesundheit und Geschlecht“ mit „Biologie und Gesellschaft“ in Verbindung setzen wollen. Bei Depressionen haben die Männer schlechtere Karten – angefangen damit, dass ein prominentes Bild vom männlichen Verhalten auch heute noch Stärke fordert und Gefühle zu unterdrücken sucht. Die ehemalige Karrierefrau kommentiert: „Buben dürfen nicht weinen – was ist das für eine Welt?“ Ihrer Meinung nach sollten sie auch Puppen haben und „raunzen“ dürfen – was so viel bedeutet, wie weinerlich zu sein. Die Stimme einer anderen Dame lenkt unsere Aufmerksamkeit nun zu einer der beiden Hollywood-Schaukeln. Sie selbst lebt mit Depressionen, erzählt sie uns. Eine große Stütze seien ihr ihre Freundinnen in der Residenz. Meine Gastexpertin knüpft daran an: Unterstützende Netzwerke zu bilden, sei ein Schutzfaktor, mit dem mehr Frauen als Männer ihrer Erkrankung etwas entgegensetzen würden. Ich bin wieder einmal überwältigt und dankbar, wie offen die Seniorinnen und Senioren uns an ihren teils sehr schmerzhaften Erfahrungen teilhaben lassen. Zum Abschluss der Teestunde erzähle ich ihnen von einem weiteren geplanten Gast: Eine Gedächtnisforscherin will mich demnächst begleiten. Das Thema findet großen Anklang in der Runde. Ich für meinen Teil hoffe, dass das Haus Augarten und ich ihnen die Freude eines Besuchs in den kommenden Monaten machen können.


Projektsteckbrief

Träger: One-Woman-Show, die in ein kollektives Organisieren durch Forscherinnen und Forscher münden soll.

Budget/Finanzierung: Wenn die Leitung der Seniorenresidenz neue Programmpunkte für ihre Bewohnerinnen und Bewohner fördert, sind Raum und die wenigen benötigten Materialien gratis. Eine Teestunde braucht aber auch besonders guten Tee.  Dafür zahlt sich eine Partnerschaft mit einem lokalen Café oder Teehandel aus. Um Menschen aus der Umgebung – potenzielles Publikum sowie Gastexpertinnen und -experten – auf das Format aufmerksam zu machen,  kann man 20–30 Euro in das Drucken von Flyern investieren.. Auch hier kann man ein Sponsoring bei Druckereien mit passendem Schwerpunkt – etwa denen von Uni-Verlagen – anfragen. Insgesamt braucht es so kaum Budget und lediglich Kapazitäten für die Koordination.

Ziele: Rund 18 Prozent der Bevölkerung in Deutschland sind 65 Jahre oder älter. Die wachsende Gruppe der Seniorinnen und Senioren kann mit diesem Format Einblicke in die aktuellen Entwicklungen der Wissenschaft bekommen. Die Forschenden wiederum können im Gespräch mit den Seniorinnen und Senioren von deren großen Erfahrungsschatz der persönlichen Erlebnisse oder beruflichen Vergangenheit profitieren.

Zielgruppen: Seniorinnen und Senioren sowie interessierte Personen jeglichen Alters aus der Umgebung. Durch ein Öffnen des Formats für die Nachbarschaft kann die Residenz so auch zur Begegnungsstätte werden.

Zahlen zur Zielerreichung: Drei „Teestunden mit Forschenden“ haben in der Wiener Seniorenresidenz Haus Augarten rund 25 Seniorinnen und Senioren erreicht, von denen einige ihre sehr persönliche Erfahrungen mit den Forscherinnen geteilt haben. Zu der  Teestunde läuft außerdem eine qualitative Studie. Die dabei gesammelten Daten werden aktuell für eine Masterarbeit ausgewertet. Dabei wird untersucht, ob das Gespräch mit dieser Zielgruppe einen Einfluss auf das Selbstverständnis der Forschenden haben könnte.