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Für die Vermittlung von Evidenz ist eine Aggregation des Forschungsstandes wichtig

Sollen Wissenschaftler*innen selbst in den sozialen Medien kommunizieren oder nicht? Um diese These der Kommunikationswissenschaftlerinnen Hannah Schmid-Petri und Mara Schwind entspann auf Twitter eine Debatte. Eine Replik der Autorinnen.

In unserem Beitrag „Twittern für die Wissenschaft“, der in der Forschung & Lehre erschienen ist, ging es darum, wie Forschende soziale Medien nutzen. Besonders der letzte Absatz hat eine Diskussion auf Twitter ausgelöst. Die Diskussion bezog sich auf den letzten Absatz im Artikel, dass „Wissenschaft … gut beraten [sei], ihre Stimmen zu bündeln, bevor sie Erkenntnisse nach außen trägt. Fachgesellschaften, Expertengremien und Universitäten kommen daher als Träger der Social-Media-Kommunikation eher in Betracht; sie können mit den (manchmal unerfreulichen) Reaktionen aus der Öffentlichkeit auch wirksamer umgehen als einzelne Forschende.“ In der Diskussion auf Twitter wurde dieser Absatz darauf verkürzt, dass alleine Universitäten Wissenschaftskommunikation betreiben sollten. 

Für eine differenzierte Betrachtung ist es unseres Erachtens wichtig, den Nutzen und die Funktionen, die soziale Medien für den Einzelnen haben können, zu trennen von der Funktion, die die Diskussion in sozialen Medien für gesamtgesellschaftliche Debatten und die Bearbeitung von gesellschaftlichen Herausforderungen haben kann. 

Wenn Wissenschaftler*innen in sozialen Medien kommunizieren, können sie dies natürlich dazu nutzen, andere auf ihre Projekte aufmerksam zu machen, sich zu informieren oder auch – und dies ist sicher der größte Vorteil von sozialen Medien – mit anderen in einen Austausch und Dialog zu treten. Damit werden einzelne Wissenschaftler*innen und somit auch die Wissenschaft und wissenschaftliches Arbeiten an sich über soziale Medien nahbarer und greifbarer, was selbstverständlich ein sehr positiver Aspekt der Kommunikation über soziale Medien ist. 

Dass wir die (potentielle) Bedeutung von Fachgesellschaften und Wissenschaftsinstitutionen für die Wissenschaftskommunikation über soziale Medien betonen, hat seinen Grund in der Herausforderung, wissenschaftliche Evidenz zu vermitteln. Auf einer übergeordneten Ebene betrachtet, trägt eine Vielzahl einzelner Kommunikationsakte über die Ergebnisse einzelner Studien oder einzelne Forschungsprojekte dazu bei, dass das Bild für Außenstehende und Fachfremde extrem heterogen und unüberschaubar wird. Um aus der vorhandenen wissenschaftlichen Evidenz einen größtmöglichen gesellschaftlichen Nutzen ziehen zu können, wenn beispielsweise evidenzbasiert politische Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels oder einer Pandemie abgeleitet werden sollen, wäre es unseres Erachtens nötig und wichtig, den aktuellen Forschungs- und Wissensstand zu einer bestimmten Fragestellung zu bündeln und zu aggregieren und erst dann wieder der Öffentlichkeit und/oder der Politik zur Verfügung zu stellen. Hierbei könnten übergeordnete Institutionen oder Organisationen eine tragende Rolle spielen und beispielsweise auch über soziale Medien eine konsolidierte Vermittlung der vorhandenen Evidenz zu einer bestimmten Fragestellung leisten. Davon würden außenstehende Nutzer*innen deutlich stärker profitieren als von (zahlreichen) Einzel-Tweets individueller Forscher*innen.

Darüber hinaus bedeutet Wissenschaftskommunikation auch, die Perspektive der Wissenschaft in öffentliche Kontroversen einzubringen. Solche Kontroversen sind bekanntlich nicht immer von einem freundlichen Ton gekennzeichnet und nicht alle Diskursteilnehmer*innen praktizieren Fair Play. Wenn einzelne Wissenschaftler*innen aus der gesellschaftlichen Öffentlichkeit heraus wegen ihrer Social-Media-Botschaften angegangen werden, erzeugt das Stress. Auch in diesem Fall sind fachgesellschaftlich oder institutionell getragene aggregierte Darstellungen von Evidenz hilfreich, denn sie schützen einzelne Wissenschaftler*innen davor, unangenehme Kontroversen allein und persönlich austragen und ertragen zu müssen.

Auf diese Punkte bezog sich der letzte Absatz unseres Beitrags in „Forschung und Lehre“. Wir möchten niemanden zur Zurückhaltung in sozialen Medien auffordern und die Wissenschaftskommunikation über soziale Medien hat wie bereits beschrieben viele Vorteile. Aber wir sind der Meinung, dass es für einen möglichst nutzenstiftenden Beitrag der Wissenschaft zur Lösung gesamtgesellschaftlicher Herausforderungen der sorgfältigen Aufbereitung und Aggregierung von wissenschaftlicher Evidenz bedarf. Diesen Nutzen können individuelle Forscher*innen nur in Einzelfällen oder mit sehr hohem Aufwand (wenn überhaupt) stiften. Aus unserer Sicht hilfreiche Evidenzkommunikation benötigt daher Aggregation und eben keine Stimmenvielfalt, die in „Information Overload“ des Publikums mündet. Wie dies jedoch genau umgesetzt werden könnte und vor allem welche Stellen für eine solche übergeordnete Aggregation am besten geeignet wären, soll und muss natürlich weiter diskutiert werden.


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