Nadine Shaabana

Digitale Gewalt ist mehr als Hassrede

Eine nicht-repräsentative Umfrage von Nature.com hat kürzlich gezeigt, wie häufig öffentlich sichtbare Wissenschaftler*innen von Hass im Netz betroffen sind. Wo Betroffene Unterstützung finden und wie sich digitale Gewalt juristisch bekämpfen lässt, erklärt Josephine Ballon von der Beratungsstelle HateAid.

Frau Ballon, was versteht man unter digitaler Gewalt?

Josephine Ballon ist Rechtsanwältin und seit 2019 Head of Legal bei HateAid. Sie setzt sich dafür ein, dass sich die gesetzlichen Rahmenbedingungen für Betroffene digitaler Gewalt verbessern und berät hierzu Politik und Strafverfolgungsbehörden, beispielsweise als Sachverständige im Rechtsausschuss des Bundestages. Foto: Andrea Heinsohn

Wir benutzen bei HateAid ganz bewusst den Begriff digitale Gewalt und nicht wie oft üblich Hate Speech oder Hassrede, weil mit diesen engeren Bezeichnungen ganz viel verloren geht. Unter digitale Gewalt fallen alle Arten von Gewalt, die in irgendeiner Form durch digitale Tools vermittelt geschehen. Wir sprechen über Hasskommentare in den sozialen Netzwerken, Morddrohungen per E-Mail, Veröffentlichung von privaten Informationen, wie der Privatadresse oder dem Namen des*r Partners*in oder Informationen über die Kinder. Auch der Missbrauch und die Manipulation von Bildmaterial gehören dazu, sowie die Fotomontage von Nacktfotos, oder das Anlegen von Fake-Profilen, um damit Lügen zu verbreiten oder Menschen zu diffamieren. Digitale Gewalt umfasst auch das Zusenden von pornografischem Material, wie Dick Pics oder all diese Dinge, die sich Menschen leider ausdenken, um andere im Netz zu schikanieren.

Können Sie benennen, wie groß das Problem ist?

Zu benennen, wie groß es ist, ist schwierig. Wir sehen in Studien, dass insbesondere unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen digitale Gewalt ein massives Problem zu sein scheint und schon beinahe zum Alltag gehört. Ungefähr jede*r Dritte gibt an, schon einmal selbst digitale Gewalt erfahren zu haben.

Digitale Gewalt und Hass im Netz

Laut einer nicht-repräsentativen Umfrage von Nature.com sahen sich 80 Prozent der befragten Wissenschaftler*innen, die sich in der Pandemie öffentlich äußerten, persönlichen Angriffen ausgesetzt. Etwa ein Viertel der Befragten berichten über Androhungen von Gewalt. 15 Prozent geben an, Morddrohungen erhalten zu haben. An der Umfrage haben 321 internationale Forschende, ein Großteil von ihnen aus den USA, Großbritannien und Deutschland, teilgenommen.
Welche Erfahrungen Bürger*innen mit Hassrede im Netz gemacht haben, hat das Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft Jena in einer bundesweiten, repräsentativen Umfrage untersucht. Jede*r zwölfte Befragte gab darin an, bereits direkt von Hassrede betroffen gewesen zu sein. 40 Prozent der Befragten sagten, dass sie bereits Hate-Speech wahrgenommen haben, unter den jüngeren Menschen im Alter von 18 – 24 Jahren lag der Anteil sogar bei 73 Prozent.

Wenn wir uns ansehen, welche Art von Menschen sich an uns wendet, dann sind das vor allem marginalisierte Gruppen. Intersektionalität spielt dabei eine ganz große Rolle. Eine der am schwersten betroffenen Gruppen sind Frauen. Generell betrifft digitale Gewalt häufig Menschen, die sich in der Öffentlichkeit zu gesellschaftlich relevanten Themen äußern, Journalist*innen, Aktivist*innen genau wie Politiker*innen. Vor allem auf kommunalpolitischer Ebene haben wir da schlimme Auswüchse gesehen. Und jetzt eben auch Wissenschaftler*innen, da sie im Zuge der Coronapandemie eine größere Aufmerksamkeit haben. Im Zuge der Pandemie haben sich auch einige Wissenschaftler*innen an uns gewendet, die vor allem aus dem sozialwissenschaftlichen Bereich kommen und zu Desinformation und Verschwörungserzählungen forschen.

Welche Folgen kann digitale Gewalt haben?

„Wir sprechen über Hasskommentare in den sozialen Netzwerken, Morddrohungen per E-Mail, Veröffentlichung von privaten Informationen (…).“ Josephine Ballon
Digitale Gewalt wird häufig genutzt, um Menschen mundtot zu machen. Das erstreckt sich aber nicht nur auf diejenigen, die selbst angegriffen werden. Es geht auch darum, an dieser Person ein Exempel zu statuieren und die Ausstrahlung der Wirkung auf andere zu nutzen. Was dabei geschieht, ist der sogenannte Silencing-Effekt. Der sorgt dafür, dass sich auch die Mitlesenden in Zukunft mehrfach überlegen, ob sie sich zu bestimmten Themen im Netz überhaupt noch äußern. Und das ist genau das Ziel und die Strategie dahinter, um bestimmte Menschen zum Verstummen zu bringen und den Diskurs einseitig zu verschieben zugunsten der Themen von denjenigen, die digitale Gewalt verbreiten. Das ist ein gewollter Effekt.

Diejenigen, die den Hass verbreiten, sind zahlenmäßig eher in der Unterzahl, aber agieren strategisch. Sie sprechen sich ab, nutzen mehrere Profile, arbeiten teils mit Fake-Profilen, sodass der Eindruck verstärkt wird, dass hier ganz viele die gleiche Meinung vertreten und quasi die Mehrheitsmeinung widerspiegeln.

Wie geht man am besten damit um, wenn man von digitaler Gewalt betroffen ist?

Wir haben es mit einer Verschiebung von Realitäten zu tun. Ich glaube, wir würden uns alle darauf einigen, dass es nicht okay ist, auf offener Straße jemandem mit dem Tod zu drohen. Aber online wird das tatsächlich von vielen abgetan, als sei es nicht so schlimm. Und diesen Eindruck gibt es auch auf der Seite der Betroffenen, was zum Teil an jahrelanger Untätigkeit der Strafverfolgungsbehörden auf dem Gebiet liegt.

Ich würde daher allen Betroffenen raten, digitale Gewalt nicht hinzunehmen und anzuerkennen, dass das eine Gewalterfahrung ist, dass es keine Schande ist und sich Unterstützung und Hilfe zu suchen. Das kann im eigenen sozialen Umfeld sein, oder bei einer Beratungsstelle. Zu uns kommen viele Betroffene, denen selbst gar nicht zumutbar ist, von den ganzen Vorfällen Screenshots zu machen, weil sie sich damit nicht weiter befassen können.

„Digitale Gewalt wird häufig genutzt, um Menschen mundtot zu machen.“ Josephine Ballon
Auch die Gesellschaft sollte Betroffene nicht alleine lassen. Wir hören immer wieder, dass es Betroffenen hilft, wenn sie Solidarität erfahren. Wenn viele hasserfüllte Nachrichten kommen, fragen sich Betroffene oft, ob sie allein sind mit dem, was sie denken. Dann fühlt man sich schnell isoliert.

Und natürlich kann man Strafanzeige erstatten, um Täter*innen abzuschrecken. Aber das ist nicht nur Selbstzweck, sondern auch ein Akt der Zivilcourage, denn es geht auch darum, den Strafverfolgungsbehörden überhaupt einmal zu zeigen, dass es Fälle gibt und die Zahlen im System landen. Viele Behörden fragen uns, wozu sie überhaupt spezialisierte Stellen einrichten sollen, die sich mit dem Internet auskennen, wenn doch gar keine Anzeigen kommen. Das ist ein Teufelskreis, den man aufbrechen muss.

Wie kann man juristisch gegen digitale Gewalt vorgehen?

Es ist möglich, Strafanzeige zu stellen, um Täter*innen abzuschrecken. Wir unterstützen auch dabei, Löschanträge zu stellen, um Beiträge auf Social-Media-Plattformen löschen zu lassen. Das ist wenigstens ein Pflaster für die Betroffenen, dass die Beiträge nicht weiter gesehen, geliked und geteilt werden können. Leider funktioniert das auch nur mittelgut, weil die Plattformen das nicht perfekt umsetzen.

Man kann aber auch zivilrechtlich vorgehen. Denn wenn Sie jemand im Netz bedroht, beleidigt oder verleumdet, dann ist das eine Verletzung des Persönlichkeitsrechts und damit hat man gegen diese Personen auch Rechte, die weit über Strafverfolgung und Löschung der Beiträge hinausgehen. Damit hat man umfangreiche Ansprüche auf Unterlassung. Das heißt, man kann dauerhafte Löschung verlangen und zwar auf allen Plattformen und auch Screenshots müssen gelöscht werden. Dieser Unterlassungsanspruch gilt auch für die Zukunft. Die Person darf dann solche Äußerungen auch in Zukunft nicht über einen verbreiten, ansonsten droht ein sehr hohes Ordnungsgeld. Zudem hat man die Möglichkeit, Schadensersatz zu verlangen, beispielsweise wenn Anwaltskosten angefallen sind und als eine Art Schmerzensgeld. Das geht allerdings nur, wenn der*die Täter*in ermittelt werden kann.

HateAid

HateAid ist eine gemeinnützige Organisation, die Betroffene von digitaler Gewalt unterstützt. HateAid bestärkt Betroffene durch stabilisierende Erst-, Sicherheits-, und Kommunikationsberatung und rechtliche Durchsetzung. Als Prozesskostenfinanzierer unterstützt HateAid Betroffene dabei, gegen Täter*innen (zivil-)rechtlich vorzugehen. Im Rahmen des Bündnisses „Keine Macht dem Hass“ kooperiert HateAid mit der Schwerpunktstaatsanwaltschaft ZIT in Hessen.

Wie erfolgversprechend ist der juristische Weg?

Bei einer Morddrohung ist die Wahrscheinlichkeit gar nicht so gering, dass eine Plattform die Daten für die Strafverfolgung freiwillig herausgibt. Damit hat man eine relativ gute Chance darauf, dass das Verfahren tatsächlich stattfindet und nicht vorher eingestellt wird. Bei Beleidigungen, Verleumdungen oder Bildrechtsverletzungen ist das seltener. Dabei hängt es immer auch vom Kontext ab. Aber zumindest ist eine Anzeige dann in der Statistik und somit im System gelandet.

Wie unterstützen Sie bei HateAid die Betroffenen?

Wir dürfen aus rechtlichen Gründen leider keine Rechtsberatung erbringen wie eine Anwaltskanzlei. Deswegen geht es uns vor allem darum, Menschen zu ermutigen, überhaupt erst mal in die Rechtsdurchsetzung zu gehen. Die meisten wissen überhaupt nicht, dass das geht. Wir unterstützen bei der Beweissicherung. Das ist für viele schon eine große Hürde. Und wir unterstützen mit  Prozesskostenfinanzierung. Wir haben auch die App „Meldehelden“ ins Leben gerufen, die es ermöglicht, Sachverhalte niedrigschwellig an uns weiterzuleiten, damit wir sie dann zur Anzeige bringen können. So muss man nicht suchen, wo die nächste zuständige Wache ist oder herausfinden, ob der Prozess auch online geht. Das übernehmen wir. Wir haben eine Kooperation mit einer spezialisierten Staatsanwaltschaft in Hessen, die auf die Identifizierung der Täter*innen spezialisiert ist – so gut, wie es eben unter den gesetzlichen Rahmenbedingungen geht.

„Auf jeden Fall sollte man Mitarbeitende nicht mit dem Problem alleinlassen.“ Josephine Ballon
Wir unterstützen aber auch mit Beratung zu Datensicherheit und dem Schutz persönlicher Informationen, also wie man Profile und Passwörter sicher macht. Denn es macht einen Unterschied, ob man in der Kommentarspalte beleidigt wird oder private E-Mails bekommt, in denen die eigene Adresse drinsteht. In denen steht „Ich weiß, wie deine Ehefrau heißt, ich weiß, wie deine Kinder heißen“. Solch persönliche Informationen werden häufig gesucht und missbraucht, um die Einschüchterung zu maximieren.

Welche Strukturen sind nötig, um Menschen besser vor digitaler Gewalt und Hass im Netz schützen zu können?

Wir bräuchten mehr Anlaufstellen und eine bessere Befähigung von traditionellen Beratungsstellen, die häufig mit der digitalen Komponente überfordert und chronisch unterfinanziert sind. Es gibt eine Beratungsstelle in Rheinland-Pfalz und es gibt HateAid. Wir sind als einzige auf digitale Gewalt spezialisierte Beratungsstelle bundesweit tätig. Das ist nicht genug.

Zur sensibilisierten Beratung brauchen wir auch sensibilisierte Strafverfolgungsbehörden, die Betroffenen nicht einfach sagen, „machen Sie doch den Computer aus“ oder „was schreiben Sie denn auch? Das ist doch kein Wunder, dass so etwas zurückkommt“. Leider wird uns von solchem Verharmlosen und sogar Victim shaming noch berichtet.

<a class=““ href=“https://www.wissenschaftskommunikation.de/schwerpunkt-sprache-und-wissenschaftskommunikation/“ target=“_blank“ rel=“noopener“>

Schwerpunkt Sprache und Wissenschafts­kommunikation Alle Beiträge zum Thema
</a>Wir bräuchten auch mehr Erkenntnisse wissenschaftlicher Natur, mehr Zahlen, zu dem Thema, vor allem auch zu spezifisch betroffenen Gruppen wie beispielsweise Frauen oder Wissenschaftler*innen, um daraus Bedarfe abzuleiten.

Haben Sie Tipps für Universitäten und Forschungsgesellschaften, wie Sie Ihre Forschenden besser unterstützen können?

Generell sollte man Mitarbeitende dafür sensibilisieren, welche persönlichen Daten sie von sich preisgeben wollen. Welche Daten müssen zum Beispiel auf der Website veröffentlicht werden? Muss das Geburtsdatum wirklich preisgegeben werden? Mit dem Namen und Geburtsdatum lässt sich schon viel über Personen herausfinden. Man kann Personen auch im Melderegister sperren, damit niemand den Wohnort herausfinden kann.

Auf jeden Fall sollte man Mitarbeitende nicht mit dem Problem alleinlassen und ihnen auch Informationsmaterial zur Verfügung stellen und dafür sorgen, dass Kommentare auf eigenen Websites oder Social-Media-Kanälen gelöscht werden.


Weitere Beiträge zum Thema

Berichterstattung auf Wissenschaftskommunikation.de

Hintergrund

  • Wie häufig Wissenschaftler*innen, die sich öffentlich zum Pandemiegeschehen äußern, von digitaler Gewalt betroffen sind, zeigt eine nicht-repräsentative Umfrage von Nature.com.
  •  Eine Einordnung von Expert*innen dazu, was die Umfrageergebnisse für die Wissenschaftskommunikation bedeuten, liefert das deutsche Science Media Center.