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Raushalten ist keine Option

Wie hat sich der Diskurs im Internet in den letzten Jahren verändert? Dazu forscht Kommunikationswissenschaftlerin Lena Frischlich. Im Interview spricht sie über Informationsunordnung, wie Moderation zu demokratischer Resilienz beitragen kann und warum Wissenschaftskommunikation und Journalismus in digitalen Räumen präsent sein sollten.

Frau Frischlich, Sie beschäftigen sich in Ihrer Arbeit unter anderem mit Diskursräumen im Internet. Wie hat sich der Diskurs aus Ihrer Sicht in den letzten Jahren verändert?

Was man grundsätzlich sagen kann, ist, dass sich der Wandel von Medienumgebungen, der immer schon jede technologische Innovation begleitet hat, noch mal rapider geworden ist. Guckt man sich die Entwicklungen der letzten 20 Jahre an, dann hat sich hier viele verändert. Der Siegeszug von Google, die Erfindung des Smartphones und die Entwicklung von Sozialen Netzwerken haben verändert, wie wir uns miteinander vernetzen, wie oft wir uns vernetzen, wie wir uns informieren und worüber wir reden. Das bietet einerseits ganz viele tolle Optionen. Gleichzeitig ergeben sich auch Gelegenheitsstrukturen für Inhalte, die nicht dem entsprechen, wie idealer politischer und gesellschaftlicher Diskurs aussehen sollte.

Welche positiven und negativen Folgen sehen Sie da konkret?

Lena Frischlich vertritt derzeit eine Professur für Kommunikationswissenschaft mit dem Schwerpunkt Medienwandel an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Außerdem leitet sie an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster die Nachwuchsforschungsgruppe DemoRESILdigital: Demokratische Resilienz in Zeiten von Online-Propaganda, Fake news, Fear- und Hate speech. In Ihrer Forschung beschäftigt Sie sich mit der Veränderung der digitalen (Medien-)Gesellschaft und neuen Gelegenheitsstrukturen für Manipulation aber auch die Stärkung von Mediennutzenden gegen Manipulationsversuche. Foto: Susanne Lüdeling.

Das Internet ermöglicht es Menschen, sich miteinander zu verbinden und es ermöglicht Menschen die Teilnahme an der Gesellschaft, denen es früher nicht so leicht möglich war, weil sie beispielsweise aus dem ländlichen Raum waren und damit schlicht nicht nah genug dran waren an den Entscheidungsprozessen. Gleichzeitig wird das Ideal einer deliberativen Demokratie im Online-Diskurs nicht immer getroffen. Hasserfüllte Diskurse und die Verbreitung von Informationen, die nicht faktisch korrekt sind und aus den unterschiedlichsten Gründen verbreitet werden, sind hier zwei der ganz großen Themen, mit denen wir uns beschäftigen. Claire Wardle von First Draft beschriebt die Veränderungen, die wir dabei erleben als Informationsunordnung und ich finde, dass es dieser Begriff sehr gut erfasst. Wir leben in einer Welt, in der wir sehr viel Zugang zu Informationen haben, aber gleichzeitig auch viel häufiger entscheiden müssen, wie wir diese Informationen bewerten. Das war vielleicht früher ein bisschen leichter.

Kann man sagen, wie gut Menschen mit dieser Informationsunordnung zurechtkommen?

„Die vielfältigen Anforderungen, die die heutige Informationslandschaft an Menschen stellt, können unterschiedliche Menschen unterschiedlich gut bewältigen.“ Lena Frischlich
Die Frage danach, was man braucht, um sich souverän und selbstbewusst in dieser Umwelt zu bewegen, ist sehr komplex. Oft werden diese Fähigkeiten unter Medienkompetenz zusammengefasst und dafür spielen viele unterschiedliche Dinge eine Rolle. Kinder und Jugendliche sind beispielsweise vielfach sehr intuitiv in der Nutzung von neuen Medien und Geräten, sind aber auf der anderen Seite oft noch nicht so gut darin oder brauchen Unterstützung dabei, Quellen einzuordnen und Informationen zu bewerten. Bei älteren Mediennutzenden ist es teilweise umgekehrt. Die vielfältigen Anforderungen, die die heutige Informationslandschaft an Menschen stellt, können unterschiedliche Menschen unterschiedlich gut bewältigen. Vieles davon kann man lernen, aber ich glaube, insgesamt gibt es noch viel, was wir uns individuell eben erst erarbeiten müssen.

Immer wieder taucht im Zusammenhang der neuen Kommunikationsumwelt der Begriff der „Kommunikationsblase“ auf. Ist das wirklich ein neues Phänomen?

„Je extremer und radikaler Einstellungen werden, desto mehr besteht ein Interesse daran, diese fundamentalen Einstellungen nicht zu hinterfragen.“ Lena Frischlich
Der Begriff der Kommunikationsblasen ist ein sehr populärer Begriff, aber wissenschaftlich ist er durchaus umstritten. Einer der Gründe dafür ist eben die Frage, ob es solche Blasen nicht immer schon gab. Und wenn man zurückblickt, dann fällt sehr schnell auf, dass die Kommunikationskreise früher nicht zwangsläufig größer und vielfältiger waren, wenn nicht sogar kleiner und stärker davon abhängig, wo man lebte und mit wem man sich direkt umgab. Die andere Kritik ist, dass Studien, die zeigen, dass Menschen sich eher mit Menschen umgeben, die ihrer Meinung sind, häufig nur eine Plattform untersuchen. Die meisten Menschen haben aber kein auf eine Plattform beschränktes Mediennutzungsverhalten, sondern nutzen verschiedene Medien und Informationsquellen. Wir nennen das eine Mediendiät und die kann beispielsweise aus einem präferierten Sozialen Netzwerk, einem Nachrichtenkanal und Freunden oder der Familie bestehen. Dadurch sind die Grenzen zu unterschiedlichen Blasen nicht so hart, wie man es oft hört. Das bedeutet allerdings nicht, dass es überhaupt keine Blasen gibt. Je extremer und radikaler Einstellungen werden, desto mehr besteht ein Interesse daran, diese fundamentalen Einstellungen nicht zu hinterfragen. Man vermeidet dann als Resultat daraus Informationsquellen, die die eigenen Sichtweisen infrage stellen. Für die große Mehrheit der Leute findet aber sehr viel Austausch mit verschiedenen Kommunikationssphären statt.

Wäre es im Sinne eines besseren Austauschs nicht sinnvoll für den Journalismus, sich aus bestimmten Kommunikationssphären auch rauszuhalten?

„Sich rauszuhalten ist also, zumindest wenn man relevant bleiben möchte, keine Option.“ Lena Frischlich
Wir bewegen uns auf verschiedenen Plattformen und in sehr unterschiedlichen Kontexten. Dabei ist die Frage für den Journalismus allgemein, in welchen Räumen er präsent sein muss. Das gilt auch für die Wissenschaftskommunikation. Wir haben 2017 Interviews mit Community-Managerinnen und -Managern geführt, in denen wir sie unter anderem danach gefragt haben, wie die Strategie im Umgang mit Hass im Internet sind. Viele der Interviewpartnerinnen und -partner haben da gesagt, dass es wichtig ist, dort zu sein, wo die Leute sind. Sich rauszuhalten ist also, zumindest wenn man relevant bleiben möchte, keine Option. Man sollte aber darauf achten, dass man nicht einfach seine Inhalte auf jeder Plattform gleichmäßig verteilt. Jede Plattform hat andere Ansprüche, Logiken und Funktionalitäten und sich an diese anzupassen ist natürlich sehr herausfordernd. Es gibt Angebote, denen dies sehr gut gelingt. Das Video von MaiLab zur Corona-Pandemie beispielsweise ist das meistgesehene YouTube-Video 2020 und ist ein gutes Beispiel dafür, dass man über neue Plattformen auch andere Zielgruppen mit wissenschaftlichen Inhalten erreichen kann.

Gibt es Kanäle, die besonders anfällig für Desinformationen und Verschwörungsmythen sind?

Es gibt nur wenige Studien, die Plattformen miteinander vergleichen. Wir arbeiten derzeit an einer Studie, die vermutlich im Januar erscheint, in der wir uns angeschaut haben, wer Hate Speech verbreitet und wo. Die Ergebnisse zeigen, dass Soziale Medien hier schon eine große Rolle spielen, insbesondere Plattformen, die einen Ruf für Hate Speech haben. Wenn ich schlechte Laune habe und schimpfen möchte, dann gehe ich in der realen Welt eher zum Stammtisch oder in die Kneipe und nicht in die Bibliothek und so ähnlich ist es auch im Netz. Derzeit wird beispielsweise viel über Parler diskutiert, eine Free Speech Alternative aus den USA, die explizit sagt, dass bei ihnen gar nichts moderiert wird und alles stehen bleiben darf. Solche Anbieter springen also in die Lücke, die sich auftut, weil andere Plattformen inzwischen klare Regeln gegen Hate Speech haben. Man muss allerdings sagen, dass die Reichweiten dieser Plattformen derzeit noch gering sind.

Der Anteil der hasserfüllten Inhalte dominiert also nicht?

„Der Anteil der klassisch erkennbare Hassrede enthält, ist nicht groß. Es gibt aber einen großen Graubereich, über den wir in einer Zivilgesellschaft streiten dürfen und können.“ Lena Frischlich
Nein, in der Regel nicht. Es gibt eine Studie von der Universität Oxford, die sich mit den Facebookdiskussionen rund um die äthiopische Wahl beschäftigt. Das ist ein sehr interessanter Fall, weil es viel Konfliktpotential rund um die Wahl gab und weil man hier die Möglichkeit hatte, das gesamte Themenfeld zu analysieren. Das ist sehr selten möglich. Der Anteil an tatsächlich hasserfüllten Inhalten ist letztendlich nicht wirklich groß gewesen. Das bestätigen auch Analysen, die wir gemacht haben, in denen wir uns Kommentare bei Spiegel Online angeschaut haben. Der Anteil, der klassisch erkennbare Hassrede enthält, ist nicht groß. Es gibt aber einen großen Graubereich, über den wir in einer Zivilgesellschaft streiten dürfen und können. In vielen Bereichen ist es nicht eben ganz schwarz und weiß.

Hat sich durch die Corona-Pandemie im Diskurs etwas verändert?

„Ob es wirklich mehr oder weniger Falschinformationen gibt, kann man kaum sagen, weil es sehr schwierig ist an Daten zu kommen und das gesamte Internet auszuwerten.“ Lena Frischlich
Was sich verändert hat, ist die pure Nutzungsdauer. Sowohl etablierte und traditionelle Medien als auch die Sozialen Medien und andere Internetangebote haben einen extremen Zuwachs verzeichnet. Die uneditierten und nicht unter redaktioneller Kontrolle stehenden Angebote im Netz bieten in einer solchen Phase viele Möglichkeiten, aber eben auch viele Möglichkeiten für Unfug. Ob es wirklich mehr oder weniger Falschinformationen gibt, kann man kaum sagen, weil es sehr schwierig ist, an Daten zu kommen und das gesamte Internet auszuwerten.

Dennoch muss man sagen, dass gerade die Leute, die Fakten im Internet überprüfen, also Factchecker, relativ einheitlich sagen, dass die Lage sich verschärft hat und einzelne Fälle sich weltweit verbreiten. Das liegt zum einen daran, dass die Menschen mehr Zeit hatten und zum anderen, dass wir ein Ereignis haben, was Menschen auf der ganzen Welt direkt betrifft. Das haben wir sehr selten. Selbst 9/11 – eines der einschneidenden Erlebnisse meiner Jugend – hat mich nicht direkt und unmittelbar selbst betroffen. Das ist jetzt anders. Jede und jeder von uns hat einen konkret persönlichen Bezug dazu. Ein persönliches Bedürfnis nach Information, Sicherheit und Austausch. Das sind Situationen, in denen eine Vielzahl von Erklärungen und Haltungen auftaucht.

Sie forschen unter anderem zum Thema demokratische Resilienz. Wie kann man diese denn ausbilden?

Es gibt verschiedene Stellschrauben, an denen man ansetzen kann. Zum einen muss man das große Ganze im Blick behalten. Sehr viel Desinformation, Hate Speech und Ahnliches gibt es nicht erst, seitdem es das Internet gibt. Es sind oft Jahrhunderte alte Machtungleichheiten, Angst vor Fremdem, religiöse Vorurteile, die da verbreitet werden. Stellt man sich also die Frage, in welcher Gesellschaft wir leben möchte, dann greift eine Beschränkung auf das Netz zu kurz. Wenn wir das Internet also morgen abschaffen, werden die Probleme nicht weggehen. Trotzdem kann man auf Ebene der Plattformen und der Betreiber einiges tun und da ist Moderation ein großer Faktor. Mit Moderation meine ich nicht nur das Löschen strafrechtlich relevanter Inhalte, sondern eine Moderation auf Augenhöhe mit Wertschätzung des Publikums. Da gibt es klare Belege, dass solche Dinge dazu führen, dass der Diskurs konstruktiver gestaltet wird.

„Außerdem müssen wir als Gesellschaft das Internet und den Lebensraum, den es für Menschen darstellt, ernster nehmen.“ Lena Frischlich
Außerdem müssen wir als Gesellschaft das Internet und den Lebensraum, den es für Menschen darstellt, ernster nehmen. Dazu gehört eben auch, dass wir Gesetze durchsetzen und uns um den Austausch dort bemühen und diesen ernstnehmen. Das ist ein Wachstumsprozess und den hat dieses Jahr in gewisser Weise auch beschleunigt, weil sich die Menschen stärker damit befasst haben. Man muss aber auch Respekt vor unterschiedlichen Lebenswelten haben. Hier ist dann die entscheidende Frage, wie man die Informationsmenge im Internet benutzerfreundlicher gestalten kann.

Muss man die Plattformen dazu letztendlich zwingen?

Wir versuchen derzeit im regulatorischen Bereich vielfach Plattformen dazu zu bringen, Inhalte zu löschen. Gleichzeitig sind wir aber nicht sehr präzise darin zu sagen, welche Inhalte genau gelöscht werden sollen. Gerade bei internationalen Plattformkonzernen bin ich mir daher nicht sicher, ob das, was in Deutschland als inzivil oder als Hass gilt, auch in anderen Ländern als Grenzüberschreitung definiert wird. Da brauchen wir eine stärkere Verständigung über Werte und Normen innerhalb der Gesellschaft. Die Verantwortung darf da nicht allein bei den Plattformen liegen. Dabei geht es natürlich nicht um strafrechtliche Inhalte, da gibt es bestehende Gesetze, sondern um die Grauzonen und da brauchen wir einen stärkeren Diskurs darüber. Das Internet ermöglicht es aber mehr Menschen, an dieser Debatte aktiv teilzunehmen, was ja das schöne an einer Demokratie ist.

Es gibt ja bereits erste Bemühungen der Plattformen, aktiv zu werden. Wie bewerten Sie diese?

Die Forschungslage, ob diese Maßnahmen einen Effekt haben, ist noch unklar. Gerade die Frage der Label, also der Kennzeichnung von Inhalten als irreführend, ist nicht so einfach zu bewerten, weil es viele Einflussfaktoren gibt. Die erste Frage ist, ob wir dem Label vertrauen. Die Zweite ist dann, ob das Label dazu führt, dass Fakten, die noch nicht gecheckt wurden und daher kein Label haben, dann vielleicht automatisch als vertrauenswürdiger wahrgenommen werden. Und die dritte Frage ist, wie wir damit umgehen, dass Menschen sehr gut darin sind, ihre Aufmerksamkeit an Dingen vorbeigleiten zu lassen. Der Mensch ist sehr gut darin, Dinge wie etwa Werbung nicht wahrzunehmen und dazu könnte es auch bei den Labeln kommen. Deshalb muss es zusätzlich noch andere Maßnahmen gehen.

Was würden Sie sich denn Wünschen, damit der Diskurs positiver abläuft?

„Das bedeutet, dass man Mediennutzerinnen und -nutzern mehr begründete Entscheidungen zutraut, sich in bestimmten Bereichen des Internets zu bewegen.“ Lena Frischlich
Ich wünsche mir, dass es für Nutzerinnen und Nutzer einfacher zu erkennen ist, was sie erwartet, wenn sie einen bestimmten Raum betreten. Also mehr Transparenz über die etablierten Umgangstöne in den verschiedenen Räumen und mehr Transparenz über die Inhalte. Das bedeutet, dass man Mediennutzerinnen und -nutzern mehr begründete Entscheidungen zutraut, sich in bestimmten Bereichen des Internets zu bewegen.

Gleichzeitig wünsche ich mir eine leichtere Zugänglichkeit zu Informationen, die wirklich hilfreich sind im Alltag. Häufig ist es so, dass qualitativ hochwertige Informationen hinter Bezahlschranken versteckt sind. Damit ist es schwieriger, an diese Informationen heranzukommen. Wir müssen uns hier fragen, welche Formen von Wissen, wir wie zugänglich machen wollen. Damit meine ich nicht, dass Journalismus umsonst sein sollte, nur weil Falschinformationen oft kein Geld kosten sind, aber es ist eben eine entscheidende Frage, wer dafür zahlt.