Foto: Solen Feyissa, Carolin Thiergart

„Die Idee ist, TikTok zu verstehen“

Marcus Bösch forscht an Desinformationskampagnen in Online-Medien, insbesondere auf TikTok. In seinem wöchentlichen Newsletter informiert er über neue Entwicklungen auf der Content-Plattform. Wie sie im Ukrainekrieg genutzt wird, um prorussische Narrative zu verbreiten, erklärt er im Interview.


Herr Bösch, Sie schreiben seit Juli 2020 den Newsletter „Understanding TikTok“ über neue Entwicklungen auf der Social-Media-Plattform. Was gab den Anstoß zum Newsletter?
Die Idee hinter dem Newsletter ist, TikTok zu verstehen – was ich damals definitiv nicht tat. Ob ich diese Mission jemals erfüllen werde, weiß ich nicht, aber ich nähere mich ihr in kleinen Schritten. Für meinen wöchentlichen Newsletter muss ich mich intensiv mit der Plattform beschäftigen, weil so viel auf ihr passiert. Ich experimentiere seit 2006 mit sozialen Medien und habe bereits in Workshops versucht, mit dem Tiktok-Vorläufer Musical.ly journalistische Inhalte zu vermitteln.

Marcus Bösch ist gelernter Journalist, forscht zur Content-Plattform TikTok und gibt seit 2020 den wöchentlichen Newsletter „Understanding TikTok“ heraus. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der HAW Hamburg im Projekt HybriD – Echtzeiterkennung und Nachweis hybrider Desinformationskampagnen in Online-Medien. Foto: privat

Was fasziniert Sie an diesem Kanal und seiner Nutzungsweise?
Auf der Plattform gibt es eine Menge neuer Techniken und Kommunikationsmöglichkeiten, wie den stark dialogischen und interaktiven Formaten Duett oder Stitch. Sie werden jetzt von anderen Plattformen kopiert, stammen aber von TikTok. Mich interessiert die Weiterentwicklung von Formaten: 2016 hat beispielsweise Instagram ein Story-Feature eingeführt, dass es wiederum von SnapChat übernommen hat. Das fühlte sich damals sehr neu, aufregend und schnell an. Vier Jahre später wird die Schraube schon weitergedreht, denn Stories wirken verglichen mit den Videoformaten von TikTok langsam und veraltet. Die Videos zeichnen sich durch high density aus, also komprimierte Inhalte mit sehr vielen Schnitten, Übergängen und Ebenen. Diese neuen Elemente von TikTok bieten ein geballtes Feuerwerk an Realness und Vibe, die das digitale Erzählen im Internet maßgeblich prägen. Das finde ich spannend.

TikTok ist als Unterhaltungsplattform gestartet. Inwiefern haben sich die Inhalte und das Nutzer*innenverhalten im Laufe der Zeit verändert?
Die Plattform entwickelt sich konstant. Entsprechend hat sich auch das Nutzer*innenverhalten in ganz vielfältige Genres unterteilt – weg vom Klischee von jungen, tanzenden Menschen hin zu ästhetisch waghalsigen, visuellen Experimenten. Sowohl was die Form als auch die Urheber*innen angeht, entwickelte sich TikTok in die Breite. Inzwischen finden sich viele Inhalte von Journalist*innen, Supermarktketten oder Politiker*innen auf der Plattform. Die Mainstream-Adaption hat aber nicht dazu geführt, dass es keine Nischen mehr gibt – im Gegenteil, es kommen beständig neue dazu.

Stitch und Duett

Die Content-Plattform erlaubt es Creator*innen, mit den Inhalten anderer TikToker*innen zu interagieren. Virale Trends nachzuahmen und Videoelemente wie Sounds zu remixen, gehört zur Nutzungsweise von TikTok dazu. Funktionen wie das Duett oder der Stitch erhöhen die Interaktion auf der Plattform. Beim Duett wird das eigene Video gleichzeitig neben dem Video eines anderen Accounts abgespielt. Durch das Feature können TikTok-Nutzer*innen auf Inhalte anderer reagieren, sie neu interpretieren und erweitern. Creator*innen nutzen das Duett, um beispielsweise Videoinhalte anderer zu debunken oder ein Interview zu führen. Mit dem Feature Stitch lassen sich maximal fünf-sekündige Videosnippets anderer Nutzer*innen ausschneiden und in das eigene Video einfügen.

Welche Inhalte sehen Sie sich an, um die Plattform besser zu verstehen?
Ich sehe mir viel TikTok und dann die erste Abstraktionsebene, also die Berichterstattung und Beiträge über TikTok in anderen sozialen Medien wie Twitter an. Durch die kurzen Veröffentlichungszyklen des Newsletters bin ich relativ nahe dran, was aktuell passiert. Die Forschung tut sich seit jeher schwer, mit sehr aktuellen und sich entwickelnden Dingen wie sozialen Netzwerken Schritt zu halten. Das liegt an den Veröffentlichungszyklen: Erst muss geforscht, dann der Artikel geschrieben, begutachtet und überarbeitet werden. In der finalen Publikation stehen dann Erkenntnisse, die womöglich nicht mehr dem Stand der Dinge entsprechen, weil sich beispielsweise Features verändert haben oder die Karawane weitergezogen ist.

Könnten Sie dafür ein Beispiel nennen?
Nach der Invasion Russlands in der Ukraine gab es noch am Abend des 25. Februars erste Untersuchungen und Berichte über Falschmeldungen und Desinformation auf der Plattform – quasi in Echtzeit. Mit dieser Geschwindigkeit kann man im akademischen Kontext nicht mithalten. Ich habe dieses TikTok Video direkt im Newsletter aufgegriffen, woraufhin es einige Presseberichte vom Deutschlandfunk, dem Spiegel oder der FAZ gab. Es reizt mich, so nah wie möglich am Geschehen zu sein.

Nicht zuletzt während des Ukrainekriegs steht die Plattform – wie andere soziale Netzwerke auch – stark in der Kritik nicht ausreichend gegen Desinformation vorzugehen. Wie weit verbreitet ist das Problem?

„Die Forschung tut sich seit jeher schwer, mit sehr aktuellen und sich entwickelnden Dingen wie sozialen Netzwerken Schritt zu halten." Marcus Bösch
Der Krieg in der Ukraine hat wie unter einem Brennglas aufgezeigt, wie viel Mis- und Desinformation auf TikTok gestreut wird. Journalistische Recherchen konnten beispielsweise belegen, wie Akteur*innen die Plattform nutzen, um eigene Narrative zu verbreiten. Dabei werden auch bezahlte Influencer*innen eingebunden. Das ist kein reines TikTok-Phänomen. Das soziale Netzwerk hat allerdings eine besondere Rolle durch den Cross-Plattform-Effekt. TikTok erlaubt, Videos in Gänze herunterzuladen, um sie auf anderen Plattformen zu teilen. Eine ganze Reihe von Falschinformation haben sich auf Telegram, Twitter und Facebook wiedergefunden, die von TikTok-Videos stammen.

Wie wird TikTok genutzt, um Narrative zu verbreiten?
Das Magazin Vice hat bei den Recherchen eine Telegram-Gruppe mit einem russischen Administrator gefunden, in der Influencer*innen dazu aufgerufen wurden, ein TikTok-Video zu drehen. Dazu gab es ein Redeskript, nach dem die Creator*innen typische Propagandanarrative wie eine angebliche Befreiung der Ukraine von den Faschist*innen oder die Brüderschaft zum Donbass thematisieren sollten. Auf der Plattform konnte man beobachten, wie es hunderte solcher Videos gab. Einige Influencer*innen haben sogar Teile der Anweisungen unverändert in die Videobeschreibung übernommen, sodass man dieselben Textbausteine fand. Das zeigt, dass es eine konzertierte Aktion war. Ein anderes Beispiel ist ein bestimmter Tanz oder ein Lied, dessen Performance darin mündet darin, dass die Influencer*innen ein Z-förmiges Handzeichen machen. Das „Z“ ist mittlerweile ein Identifikationssymbol für Menschen, die den Krieg in der Ukraine unterstützen.

„TikTok steht wie andere soziale Medien vor dem Problem, dass man noch so viele Moderator*innen einstellen kann, sie stehen einer unglaublichen Flut von Informationen gegenüber." Marcus Bösch

Inwiefern greift TikTok moderierend ein?
Das soziale Netzwerk ist in kurzer Zeit sehr schnell gewachsen und bringt nicht wie Facebook jahrelange Erfahrung in der Content-Moderation mit. Laut Recherchen des Wall Street Journals zeichneten sich die ersten zwei Wochen nach der Invasion der Ukraine bei TikTok durch Chaos aus. Man wusste nicht, welche Inhalte man sperren sollte. TikTok war von der schieren Menge erdrückt. Während die Community-Guidelines gewaltverherrlichende Darstellungen oder Abbildungen von Waffen untersagen, wurde die Plattform mit konkreten Kriegshandlungen überschwemmt. Man sieht Soldaten, die schießen oder rollende Panzer. Allein schon zur Dokumentation von Kriegsverbrechen und deren juristische Untersuchung gibt es ein allgemeines Interesse am Erhalt dieser Informationen. Inzwischen werden vom russischen Staat bezahlte Accounts mit einem Banner versehen und viele Videos gelöscht. TikTok steht wie andere soziale Medien vor dem Problem, dass man noch so viele Moderator*innen einstellen kann, sie stehen einer unglaublichen Flut von Informationen gegenüber. Außerdem ist es schwieriger Video- und Audiomaterial automatisiert zu überprüfen wie beispielsweise Text bei Twitter.


Im Projekt HybriD forschen Sie an Methoden zur Echtzeiterkennung von Desinformationskampagnen in Online-Medien. Was ist das Ziel des Projekts?
Wir wollen mehr darüber herausfinden, wie sich Desinformationskampagnen abspielen. Das Projekt hat zwei Forschungsstränge: Der Bereich der Wirtschaftsinformatik der Universität Münster konzentriert sich darauf, wie solche Kampagnen aufgebaut sind. Sie arbeiten im Verbundprojekt mit dem Partner Complexium an einem Tool, das große Informationsmengen im Netz in Echtzeit analysiert und zeitliche Muster darin erkennt. Der typische Verlauf von Desinformationskampagnen ist ein schneller Peak von Begriffen oder Themen, der dann wieder abflacht, um sich in einem nachgelagerten Verwertungsprozess noch einmal aufzubäumen, nachdem die Desinformation gestreut ist. Wenn man solche Muster erkennt, kann man schneller auf Kampagnen reagieren.

„Wir wollen mehr darüber herausfinden, wie sich Desinformationskampagnen abspielen." Marcus Bösch
Der andere Forschungsstrang beschäftigt sich mit qualitativen Aussagen über solche Kampagnen. Beteiligt sind die HAW Hamburg und Kolleg*innen der Kommunikationsforschung in Münster. Wir führen Leitfrageninterviews mit Expert*innen und Betroffenen durch, um herauszufinden, welche Features die Kampagnen haben und an wen sie sich richten. Die Erkenntnisse wandern wieder in das Tool zurück, um es zu verbessern und ein konkretes Werkzeug zur Erkennung von Desinformation anzubieten.

Ergeben sich die Themen aus den Peaks bei der Mustererkennung oder haben sie schon bestimmte in den Blick gefasst?
Aktuell sammeln wir viel Material zum Thema Ukraine. Die Leitfrageninterviews unterteilen sich in die verschiedenen Bereiche Politik, Wirtschaft und Journalismus. Jetzt mit aufgenommen haben wir den Wissenschaftsbereich und Wissenschaftskommunikation. Im Kontext von Covid-19 gibt es zahlreiche Beispiele von Desinformation, die wir näher untersuchen wollen.

Welche Kanäle schauen Sie sich an?

Die Informatiker*innen schauen sich einzelne Social-Media-Plattformen oder Online-Foren an. Sie haben beispielsweise alle Tweets, die den Hashtag #Ukraine enthalten gescraped, also die Daten automatisiert extrahiert und gesichert. Ich analysiere derzeit welche Features auf TikTok zur Verbreitung von Desinformation genutzt werden. Dabei fokussiere ich mich aktuell auf die Verwendung von Sounds. Ein anderes Themenfeld ist die Nutzung von Memes. Zusammen mit meinem Kollegen Nils Vief schaue ich mir text- und bildbasierte, aber zunehmend auch audiovisuelle Memes genauer an. Bei TikTok findet sich das sehr spannende und neue Phänomen so genannter Audiomemes heraus, die soundbasiert Informationen verbreiten.