Grafik: Universität Zürich, Zentrale Informatik, MELS/SIVIC, Raphael Schoen

Das Potenzial der Bürgerwissenschaft

Daten einer repräsentativen Befragung in der Schweiz zeigen: Viel mehr Menschen könnten sich vorstellen, an Citizen-Science-Projekten teilzunehmen, als bisher bekannt war. Wie erreicht man diese Personen am besten?

Citizen-Science will die Bevölkerung zu „Bürgerwissenschaftlerinnen und Bürgerwissenschaftlern“ machen: Sie lädt alle ein, sich aktiv an wissenschaftlichen Forschungsprojekten zu beteiligen – von der Klassifizierung von Galaxien am Computer über das Katalogisieren von Tier- und Pflanzenarten in der Natur bis hin zur Initiierung und Durchführung von lokal verankerten Forschungsprojekten.1

Citizen-Science ist einerseits für Forschende interessant, etwa, weil sie Datensammlungen in einem Umfang ermöglicht, der anderweitig schwer zu realisieren wäre. Andererseits ermöglicht sie es der Öffentlichkeit, Einblicke in den wissenschaftlichen Arbeitsprozess zu erhalten und eine differenzierte Meinung zur Rolle der Wissenschaft in der Gesellschaft zu entwickeln.23 Es verwundert daher nicht, dass viele Wissenschaftskommunikatorinnen und -kommunikatoren auf eine Ausweitung dieses Ansatzes hoffen, mit dem Ziel, möglichst viele – und möglichst vielfältige – Personen zu beteiligen.4

Leider decken sich Hoffnung und Realität nicht immer: Während bürgerwissenschaftliche Projekte prinzipiell das Potenzial haben, verschiedene Bevölkerungsgruppen in die Wissensproduktion einzubeziehen, zeigen Erhebungen der Teilnehmerstruktur von Citizen-Science-Projekten, dass sie unter einer „Participation Inequality“ leiden, also einer ungleichen Beteiligung.5 Den Studien zufolge sind die Teilnehmenden überwiegend weiß, männlich, hochgebildet und sehr stark am Thema Wissenschaft interessiert.67

Potentielle Zielgruppen für Citizen-Science-Projekte

Dafür gibt es zahlreiche Gründe: Zum Beispiel kann es sein, dass Projektorganisatorinnen und -organisatoren gar nicht wissen, dass andere Bevölkerungsgruppen ebenfalls an Citizen-Science interessiert sind. Ebenso ist vorstellbar, dass diese Zielgruppen zwar erkannt, aber nicht richtig erreicht wurden.

In unserer neuesten Studie „Who wants to be a Citizen Scientist“ haben wir versucht, das Phänomen an der Wurzel anzugehen und gefragt: Wer ist überhaupt daran interessiert, an Citizen-Science-Projekten teilzunehmen? Wir haben uns also auf den potenziellen Teilnehmerpool konzentriert und das allgemeine Interesse an der Teilnahme an wissenschaftlichen Forschungsprojekten ausgelotet. Anhand repräsentativer Befragungsdaten aus dem „Wissenschaftsbarometer Schweiz“ haben wir die Schweizer Bevölkerung ab dem Alter von 15 Jahren untersucht. Diese haben wir mit Hilfe eines statistischen Verfahrens in sechs Gruppen eingeteilt – basierend auf demografischen Ähnlichkeiten, aber auch auf Ähnlichkeiten in ihren Einstellungen zu Wissenschaft und ihrem Interesse an wissenschaftlichen Themen. Fünf Gruppen sind an der Teilnahme interessiert, eine sechste nicht so sehr. Daraus ergeben sich zunächst drei wesentliche Erkenntnisse:

1. In der Schweiz besteht ein großes Interesse an der Teilnahme an Citizen-Science-Projekten.

Wie in der Infografik zu sehen ist, sind rund 64 Prozent der Befragten nicht daran interessiert, aktiv an Forschungsprojekten mitzuwirken. Das bedeutet aber auch, dass 36 Prozent der Schweizer Bevölkerung im Pool der potenziellen Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler sind – hochgerechnet rund zweieinhalb Millionen Menschen, eine erfreulich hohe Anzahl. Aus dem Wissenschaftsbarometer in Deutschland wissen wir, dass dieser Prozentsatz in Deutschland mit 30 Prozent ähnlich ist. Wir vermuten, dass auch Forschende in vielen anderen Ländern über das große Interesse ihrer Mitmenschen an einer Teilnahme an Forschungsprojekten überrascht sein könnten.

Zielgruppen für Citizen-Science in der Schweiz
Grafik: Universität Zürich, Zentrale Informatik, MELS/SIVIC, Raphael Schoen

2. Beim Interesse für Citizen-Science fanden wir keine geschlechts- oder bildungsbedingten Unterschiede. Ein bereits großes Interesse an der Wissenschaft scheint jedoch eine Voraussetzung zu sein.

Die Grafik zeigt, dass alle fünf an einer Teilnahme interessierten Gruppen auch ein erhöhtes Interesse und Vertrauen in die Wissenschaft aufweisen. Aber: Bildung und Geschlecht der Interessierten spielen keine große Rolle. Während Männer in vier Gruppen die Mehrheit stellen, dominieren Frauen die größte Zielgruppe, die „Flexiblen“, die 11 Prozent der Schweizer Bevölkerung ausmachen. Frauen und Männer, hoch oder weniger hoch gebildet, sind gleichermaßen bereit, sich einmal aktiv an einem Forschungsprojekt zu beteiligen. Wer entsprechende Aktionen organisiert, sollte jedoch natürlich nicht erwarten, ohne weiteres Menschen mit einer negativen Einstellung zur Wissenschaft für Citizen-Science rekrutieren zu können.

3. Drei Gruppen, die an Citizen-Science interessiert wären, sind unter den Teilnehmenden bisher nicht repräsentiert.

Unter denjenigen, die sich für die Teilnahme an Citizen-Science-Projekten interessieren, fanden wir zwei Gruppen, die wir als junge und alte „Sciencephile“ bezeichnen. Sie bestehen hauptsächlich aus hochinteressierten und hochgebildeten Männern – und sie sind diejenigen, die bislang überwiegend bei Citizen-Science-Projekten mitmachen. Drei weitere Gruppen sind diverser: „Flexible“ sind meist Frauen um die fünfzig Jahre, die zusätzliches Zeitbudget zur Verfügung haben. „Neugierige Jugendliche“ sind im Durchschnitt nur 18 Jahre alt und zeigen ein Grundinteresse an Wissenschaft, das durch eine positive Erfahrung mit Citizen-Science wachsen könnte. Und „berufstätige Eltern“ schließlich arbeiten meist Vollzeit, wollen aber am Wochenende vielleicht zusammen mit ihren Kindern und Partnern Citizen-Science als familiäre Aktion betreiben. Studien zeigen, dass diese diversen Gruppen bisher nicht oft an Citizen-Science-Projekten teilnehmen.

Wie erreicht man diese Zielgruppen am besten?

Die Daten des „Wissenschaftsbarometers Schweiz“ enthalten auch Angaben dazu, wie häufig Befragte über welche Kanäle (offline und online) mit Wissenschaft und Forschung in Kontakt kommen. Daraus lassen sich drei Erkenntnisse ableiten, wie man die beschriebenen Zielgruppen am besten erreicht:

1. Die jungen und alten „Sciencephilen“ erreicht man problemlos über diverse Kanäle.

Die beiden „Sciencephilen“ sind in Citizen-Science-Projekten bereits häufig repräsentiert. Das verwundert nicht, wenn man sieht, dass diese Gruppen sich über eine Fülle von Kanälen über Wissenschaft und Forschung informieren. Während das Internet ihr primärer Kanal ist, kommen sowohl die jungen als auch die alten „Sciencephilen“ häufiger als alle anderen Zielgruppen via Tageszeitungen und Wochenzeitschriften, Wissenschaftsmagazine wie „Spektrum der Wissenschaft“ oder Sachbücher mit Wissenschaft in Kontakt; sie besuchen auch häufiger entsprechende Vorträge und Veranstaltungen. Bei den Online-Kanälen fällt besonders auf, dass die beiden Gruppen häufig Webseiten von wissenschaftlichen Institutionen und Behörden benutzen.

Besucher im Tierpark
Zwei der neu identifizierten Zielgruppen für Citizen-Science-Projekte sind häufiger in Tierparks und botanischen Gärten anzutreffen als der Bevölkerungsdurchschnitt – diese Orte könnten daher lohnende Ansatzpunkte für eine Rekrutierung sein. Foto: Daiga Ellaby

2. Youtube und Zoos führen zu den drei weiteren Zielgruppen.

Die übrigen drei Zielgruppen sollte man versuchen, mit spezifischeren Kommunikationskanälen zu erreichen. Die „neugierigen Jugendlichen“ tummeln sich sogar noch mehr als die jungen „Sciencephilen“ auf Youtube – entsprechend würde es sich für Citizen-Science-Projekte lohnen, Teilnehmerinnen und Teilnehmer durch dort geschaltete (oder in Videos integrierte) Werbung abzuholen. Die „berufstätigen Eltern“ und „Flexiblen“ dagegen sind schwieriger ohne große Streuverluste zu erreichen. Unsere Daten zeigen jedoch, dass diese beiden Gruppen häufiger in botanischen und zoologischen Gärten unterwegs sind und somit dort, etwa durch Flyer-Kampagnen oder Teilnahmen vor Ort, zu erreichen wären.

3. Diverse Citizen-Science dank „Mund-zu-Mund-Propaganda“

Die einzelnen Zielgruppen gezielt zu erreichen und zu rekrutieren, wird trotz unserer Einblicke eine Herausforderung bleiben. Es dürfte jedoch allen Projektorganisatorinnen und -organisatoren Hoffnung geben, dass alle fünf Gruppen mit Interesse an Citizen-Science auch gerne mit Freunden und Bekannten über Wissenschaft und Forschung sprechen. Schafft man es also, einen kleinen Teil der gewünschten Zielgruppe über ein Projekt zu informieren, stehen die Chancen gut, dass sie anderen in ihrem Umfeld davon erzählen. Citizen-Science-Projekte könnten also davon profitieren, dass ihre Zielgruppen nicht nur am Format selber, sondern generell stärker an Wissenschaft und Forschung interessiert sind und sich gelegentlich darüber austauschen.

Vielfältigere Zielgruppen für vielfältigere Citizen-Science

Unsere Ergebnisse zeigen, dass die Bürgerwissenschaften in der Schweiz – und wahrscheinlich auch in anderen Ländern – vielfältigere Teilnehmende rekrutieren kann, als sie bisher erreicht. Dabei ist es jedoch wichtig, dass Projektorganisatorinnen und -organisatoren bei der Rekrutierung bestimmte soziodemografische Gruppen nicht übersehen. Während wir in der Bürgerwissenschaft meist hochgebildete Männer sehen, gibt es noch weitaus diversere Zielgruppen, die überzeugt werden wollen, sich an zukünftigen Projekten zu beteiligen. Diese muss man entsprechend versuchen, auf passenden Kommunikationswegen zu erreichen, wie oben skizziert.

Wir wissen bislang noch nicht, wie viel Zeit und Aufwand diese Menschen tatsächlich bereit wären, in Citizen-Science zu investieren. Unsere Studie beleuchtet, welche Eigenschaften die Schweizer Zielgruppen charakterisieren und über welche Kommunikationskanäle Forschende sie am besten ansprechen könnten. Es wird interessant sein zu sehen, inwieweit unsere Ergebnisse in anderen Ländern reproduzierbar sind und wie sie sich im Laufe der Zeit verändern werden.

Die Studie

Füchslin, T., Schäfer, M. S. & Metag, J. (2019). Who wants to be a citizen scientist? Identifying the potential of citizen science and target segments in Switzerland. Public Understanding of Science. https://doi.org/10.1177/0963662519852020

Der Volltext der Arbeit ist im Repositorium der Universität Zürich abrufbar.

 

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