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„Manchmal kann weniger Offenheit mehr Offenheit bedeuten“

Open Science und partizipative Wissenschaftskommunikation: ein Paradigmenwechsel? Wie Wissenschaft offener gestaltet und kommuniziert werden kann, erklären der Wissenschaftler Philipp Schrögel und die frühere Projektleiterin für das Fellow-Programm „Freies Wissen“ bei Wikimedia Sarah-Isabella Behrens im Interview.

Foto Sarah Behrens
Sarah-Isabella Behrens ist Koordinatorin des Bündnis Freie Bildung. Zuvor arbeitete sie von 2016 bis 2021 als Projektmanagerin für das Fellow-Programm „Freies Wissen“ bei Wikimedia Deutschland. Sie twittert als @SIBehrens. Foto: Oliver Look

Frau Behrens, was versteht man unter Open Science?
Sarah-Isabella Behrens: Open Science ist ein weites Feld. Darunter kann man verschiedene Prinzipien zusammenfassen, die mehr Transparenz und Öffnung in Forschung und Lehre herbeiführen und so zu einem höheren Innovationspotenzial in der Wissenschaft beitragen sollen. Dazu zählen beispielsweise Konzepte wie Open Educational Ressources, Open Data, Open Source, Open Access und Open Peer Review. Wissenschaftskommunikation kann auch ein Teilelement von Open Science sein.

Herr Schrögel, was haben Open Science und Wissenschaftskommunikation gemein?
Philipp Schrögel: Beides sind übergreifende Terme, die sich in den letzten Jahren herausgebildet und weiter etabliert haben. In der Wissenschaftskommunikation fand ein Wandel statt. Es gibt nicht nur Wissenschafts-PR und -journalismus, Wissenschaftskommunikation umfasst als Dachbegriff viele Formen. Ähnlich ist es bei Open Science. Viele Ansätze, die sich aus verschiedenen Bereichen herausgebildet haben, werden seit etwa zehn Jahren verstärkt als übergreifendes Paradigma verstanden.

Philipp Schrögel ist Forschungskoordinator und Wissenschaftskommunikator am Käte Hamburger Kolleg für Apokalyptische und Postapokalyptische Studien an der Universität Heidelberg. Er ist Alumnus des Fellow Programms „Freies Wissen“ von Wikimedia Deutschland und war Co-Sprecher der Arbeitsgruppe Partizipation der #FactoryWisskomm. Er twittert als @schroep. Foto: privat

Und worin unterscheiden sich die beiden Felder?
Schrögel: Ein zentraler Unterschied ist, dass sich Open Science auf das gesamte Verständnis von wissenschaftlichem Arbeiten bezieht: publizieren, analysieren, Daten veröffentlichen. Es gibt auch die Überlegung, inwieweit Citizen Science ein Teil von Open Science ist. Wissenschaftskommunikation hat dahingegen einen stärkeren Fokus auf den kommunikativen Aspekt, also die Kommunikation über die Ergebnisse und Prozesse der Wissenschaft aus der Wissenschaft in Öffentlichkeiten und mittlerweile auch vermehrt aus den Öffentlichkeiten zurück in die Wissenschaft.

Wie hat sich dieses Kommunikationsverständnis in den letzten Jahren verändert und welche Rolle spielt dabei Open Science?
Schrögel: Es gab einen gezielten Paradigmenwechsel im Verständnis von Wissenschaftskommunikation. Das Verständnis der Wissenschaft vis-à-vis der Gesellschaft hat sich über die Zeit gewandelt von einem getrennten Miteinander von Gesellschaft und Wissenschaft hin zu einer beidseitigen, partizipativen Kommunikation. Es geht dabei auch nicht nur darum, Ergebnisse zu kommunizieren, sondern auch Rahmenbedingungen und Prozesse von Wissenschaft. Dieser offene Ansatz ist beim modernen Verständnis von Wissenschaftskommunikation und Open Science vergleichbar.

Open Science

Das Ziel von Offener Wissenschaft (Open Science) ist es, Forschung transparenter, fairer und zugänglicher zu machen und somit die wissenschaftliche Arbeit zu verbessern. Dabei ist Open Science ein Sammelbegriff für die Offenheit in der Wissenschaft. Open Science setzt auf kollaborative Ansätze und kann auf unterschiedlichen Ebenen ansetzen: Neben den Ergebnissen sollen auch die Prozesse, Theorien, Methoden, Anwendungsfelder und Zwischenergebnisse der Wissenschaft aufgezeigt, geteilt und einer Vielzahl von Menschen zugänglich gemacht werden. Das Vorgehen soll für mehr Nachvollziehbarkeit sorgen. Offene Wissenschaft umfasst verschiedene Prinzipien, darunter Open Access (freier Zugang zu Volltexten von Publikationen), Open Data (frei verfügbare Forschungsdaten) oder Open Source (quelloffene Software). Glossare wie das des Framework for Open and Reproducible Research Training (FORRT) oder der Open Knowledge Foundation liefern Definitionen.

In beide Konzepte fließen auch viele Schlagworte und Konzepte aus unterschiedlichen theoretischen Disziplinen ein. Es geht um Ko-Produktion und eine Kontextualisierung von Wissen, den wechselseitigen Austausch und die politischen und gesellschaftlichen Implikationen. Aber das ist ein Paradigma, das längst nicht so gelebt wird. Viele Menschen die Kommunikation oder Wissenschaft betreiben, tun das noch in einem sehr konservativen – oder sogar veraltetem – Verständnis.

Was verstehen Sie unter diesem konservativen Verständnis von Wissenschaftskommunikation?
Schrögel: Damit meine ich den Fokus auf Wissensvermittlung, die sich am Defizit-Modell orientiert. Auch Dialog ist durch jahrelange politische Vorgaben als Begriff angekommen, aber wird im besten Fall als Podiumsdiskussion verstanden. Dass es auch relevanten Input aus anderen gesellschaftlichen Bereichen in Wissenschaft geben kann, wird von sehr vielen Leuten noch nicht gesehen.

Behrens: Man muss erst einmal verstehen, was das Feld eigentlich umfasst. Welche Möglichkeiten habe ich als Wissenschaftler*in, mich dessen Werkzeugen zu bedienen? Wie transferiere ich das in die Praxis? Je nach Forschungsinteresse und -prozess ist das ganz unterschiedlich. Aber es stellt sich hierbei immer die Frage, wo man ansetzt, wie man Wissenschaftskommunikation für sich nutzen kann und warum sie relevant für einen selbst ist. Dabei geht es am Anfang um ganz elementare Überlegungen zur Zielgruppe und den Formaten, mit denen ich diese erreichen kann. Mit Blick auf Open Science steht man dann vor der Abwägung, welchen Grad an Offenheit es dann braucht.

Was meinen Sie mit dem „Grad an Offenheit“?
Behrens: Open Science ermöglicht, in unterschiedliche Fachdisziplinen einzutauchen und zu gucken, wie Offene Wissenschaft zum Tragen kommen kann. Die Kernfrage dabei ist: Wie viel Offenheit funktioniert? Es gibt den radikalen Ansatz, alles innerhalb des Forschungsprozesses offenzulegen. Aber was hängt da alles noch mit dran? Muss man beispielsweise datenschutzrechtliche Fragen berücksichtigen? Kann man das Maß an Offenheit, das man möchte, überhaupt umsetzen, ohne Persönlichkeitsrechte zu beeinträchtigen? Manchmal ist maximale Offenheit auch gar nicht sinnvoll, sondern es lohnt sich nur Teile des Prozesses zu öffnen. Der Grad der Offenheit hängt stark vom Thema, der Zielsetzung, Rahmenbedingungen und Kooperationspartner*innen ab. Das muss man abwägen.

Schrögel: Das sah man auch in der Pandemie. Teilweise waren Preprints und Forschungsdaten schon im öffentlichen Diskurs, bevor sie von der Fachcommunity angeguckt wurden. Dagegen spricht erst einmal nichts, aber es stellt sich die Frage, wie man damit kommunikativ verantwortungsvoll umgeht. Nur weil es ein Preprint ist, ist es nicht schlecht. Man muss eben überprüfen, von wem das Preprint kommt und ob es methodisch solide gemacht ist. Das ist ein Lernprozess.

Herr Schrögel, Sie haben ein Forschungsprojekt im Rahmen des Fellow-Programms Freies Wissen von Wikimedia, das das Prinzip der Offenen Wissenschaft fördern sollte, durchgeführt. Könnten Sie an einem Beispiel den angesprochenen Abwägungsprozess erklären?
Schrögel: Bei der Forschung im Rahmen des Fellow-Programms bin ich auf ein Paradoxon gestoßen: Manchmal kann weniger Offenheit mehr Offenheit bedeuten. Viele Open-Science-Enthusiast*innen betreiben Open Source oder Open Data und verwenden dabei nur freie Software. Das kann aber für viele Menschen, die diese Tools nicht gewohnt sind, eine Hürde darstellen. Manchmal kann der Einsatz von proprietärer Software Partizipation fördern, weil man auf Gewohnheitseffekte setzen kann. Das schließt nicht aus zu versuchen, Menschen längerfristig an die freien Alternativen zu gewöhnen.

„Nur weil etwas offen ist, heißt das nicht, dass man nicht reflektieren sollte, wer daran partizipieren kann oder nicht.“ Philipp Schrögel
Auch jede Art der Datenaufbereitung und Interpretation ist geprägt durch die Wissenschaftler*innen. Deshalb gibt es die Ansicht, auch alle Rohdaten herauszugeben. Das überfordert aber alle, die nicht total im Fach drin sind. Das Maximum an Offenheit und Transparenz kann also dazu führen, dass einige nicht teilhaben können. Deshalb macht es manchmal Sinn, beispielsweise einen aufbereiteten Datensatz zur Verfügung zu stellen. Aber dabei muss man transparent machen, welche Annahmen eingeflossen sind oder welche Tools dazu genutzt wurden. Nur weil etwas offen ist, heißt das nicht, dass man nicht reflektieren sollte, wer daran partizipieren kann oder nicht.

Auch Datenschutz ist kein totales Block-Argument: Natürlich kann man, gerade in der qualitativen Sozialforschung, personenbezogene und Interviewdaten nicht einfach veröffentlichen. Aber es geht beispielsweise in anonymisierter Form.

Wie können Wissenschaftler*innen dabei unterstützt werden, Open Science in ihrer Arbeit mitzudenken?
Schrögel: Dabei sind zwei große Aspekte wichtig: die unmittelbar fachspezifischen Überlegungen und der fächerübergreifende Austausch. Je nach Fach gibt es unterschiedliche Rahmenbedingungen. In manchen Wissenschaftsdisziplinen wie den Naturwissenschaften sind Open Source, Open Data oder Preprints bereits weit verbreitet. Manche Disziplinen sind vielleicht eingeschränkter als andere und man kommt langsamer voran. Nichtsdestotrotz ist ein fächerübergreifender Austausch zu den Möglichkeiten und Einsatzgebieten von Open Science wichtig. Man muss sich daher mit der Frage nach Offenheit ganz fachnah beschäftigen: Was ist möglich? Was ist nötig? Wo liegen die Grenzen und worin Vorteile für meine eigene wissenschaftliche Arbeit? Gerade junge Wissenschaftler*innen haben in diesem Prozess die Rolle, das voranzubringen.

Erkenntnisse zu Offener Wissenschaft

Das Fellow-Programm „Freies Wissen“ von Wikimedia Deutschland hatte zum Ziel, die Idee von Offenheit und freiem Wissen in der Wissenschaft zu fördern. Über fünf Jahre erhielten insgesamt 90 Wissenschaftler*innen ein Stipendium über acht Monate. Durch Mentoring, Qualifizierungs- und Vernetzungsangeboten sollten die Fellows lernen, wie sich die Prinzipien Offener Wissenschaft in die eigene wissenschaftliche Arbeit integrieren lassen. Ein Abschlussbericht fasst zusammen, was das gemeinsame Programm mit dem Stifterverband und der VolkswagenStiftung erreichen konnte.

Frau Behrens, das Fellow-Programm „Freies Wissen“ ist nach fünf Jahren abgeschlossen. Was war das Ziel?
Behrens: Wir wollten Forscher*innen jeglicher Disziplinen für Open Science qualifizieren und sie dabei fördern. Sie sollten die verschiedenen Anwendungen kennenlernen und maßgeschneidert auf ihre individuelle Situation in die Praxis umsetzen. Denn es gibt nicht den einen Weg, Open Science zu betreiben. Das Fellow-Programm dauerte acht Monate und war ein Experimentierfeld, um sich auszuprobieren und den Entwicklungsprozess innerhalb der Gruppe und auch nach außen transparent zu machen. Dabei wurden die Fellows durch Mentor*innen unterstützt.

Sie haben die Erfahrungswerte der beteiligten Wissenschaftler*innen und das Projekt ausgewertet. Was sind die Erkenntnisse?
Behrens: Bei der Entwicklung des Programms wurden drei zentrale Wirkungsfelder definiert, anhand derer der Erfolg des Programms gemessen wurde: Kompetenzaufbau, Praxis-Community und institutionelle Veränderungen.

„Die größte Wirkungskraft zeigte sich beim Kompetenzaufbau mit Blick auf die Qualifizierung der Fellows zu Prinzipien Offener Wissenschaft und ihre Rolle als Multiplikator*innen für Open Science.“ Sarah-Isabella Behrens
Die größte Wirkungskraft zeigte sich beim Kompetenzaufbau mit Blick auf die Qualifizierung der Fellows zu Prinzipien Offener Wissenschaft und ihre Rolle als Multiplikator*innen für Open Science. Sie wurden individuell durch Mentor*innen betreut, die die Fellows entlang spezifischer Bedarfe bei der Umsetzung ihrer Forschungsvorhaben unterstützten. Dieses Zusammenspiel war die Basis dafür, dass sich im Laufe der Programmdauer eine lebendige und produktive Community herausgebildet hat. Aus diesem Netzwerk sind selbständig verschiedene Aktivitäten hervorgegangen, um gemeinschaftlich Offene Wissenschaft in Institutionen, Netzwerken und Communities zu verankern. Längerfristige Effekte, die auf institutioneller Ebene ansetzen, erfordern Zeit und unterschiedliche strategische Ansätze. Daher sprechen wir im Rahmen des Programms eher von punktuellen, institutionellen Veränderungen, die zur Förderung einer Offenen Wissenschaftpraxis in Forschung und Lehre beigetragen haben und als wegweisende Signale zu werten sind, die eine Öffnung von Wissenschaft weiter begünstigen können.

Zudem teilten die Fellows ihre individuellen Erfahrungen über Abschlussberichte und über die eigene Projektseite auf Wikiversity, um einzelne Meilensteine und potenzielle Hindernisse bei der Umsetzung von Open Science für andere sichtbar zu machen. Nicht jedes Projekt hatte am Ende ein fertiges Produkt, teils ging es auch darum Teile des Forschungsprozesses zu öffnen. Wir wollten damit zeigen, dass Open Science nicht nur ein Trend ist. Wir wollten verdeutlichen, wie wissenschaftliche Qualität verbessert und Partizipation ermöglicht werden kann. Damit das Beständigkeit hat, braucht es neben aktivem Engagement von Wissenschaftler*innen, die entsprechenden politischen Rahmenbedingungen.