Jahresrückblick 22 – Was erwartet uns im neuen Jahr?

Wir sind bereits mittendrin im neuen Wisskomm-Jahr. Zeit, nicht nur einen Blick zurückzuwerfen, sondern besonders auf das, was uns in diesem Jahr erwarten wird. Was waren für Christian Kleinert, Beatrice Lugger und Annette Leßmöllmann die Wisskomm-Highlights 22 und was erwarten sie vom neuen Jahr? Wir haben nachgefragt.

Innovative Impulse– gelingt der Transfer?

Christian Kleinert ist Geschäftsführer von Wissenschaft im Dialog*. Foto: WiD

Jahresrückblicke an Jahresanfängen sind ja so eine Sache für sich – eigentlich ist man zu spät, aber wie soll man das Jahr wohl rückblickend und komplett schon Mitte Dezember oder gar im November betrachten oder beurteilen können, wenn man droht, doch noch aufregende Last-Minute-Entwicklungen zu verpassen? So geschehen ganz am Ende des letzten Jahres, als der Chatbot „ChatGPT“ veröffentlicht wurde und einen ersten, dafür aber sehr beeindruckenden Fingerzeig bescherte, welche Auswirkungen KI-basierte Systeme künftig auf die Arbeit allgemein, insbesondere aber auf die Tätigkeit von Menschen in der Forschung und Kommunikation haben werden. Dieses Thema wird also auch die Wissenschaftskommunikation zukünftig auf mehreren Ebenen stark beschäftigen.

Schauen wir aber auf eine Sache, die zwar 2022 abgeschlossen wurde, jedoch für die WissKomm in die Zukunft weist: Die Policy Recommendations der Future of Science Communication Conference 2.0, die zusammen von WiD und ALLEA auf den Weg gebracht wurden. „Strengthening Networks and Evidence-Based Practices for Science Communication in Europe” ist das Ergebnis-Papier überschrieben und damit ist (fast) schon alles gesagt. Als Ergebnis der Konferenz, an der 2021 über 1.000 internationale Expert*innen teilgenommen hatten und deren Ergebnisse im Frühjahr 2022 in einer zweiten Runde von 70 ausgewählten Fachleuten verdichtet wurden, liegen nun Empfehlungen vor, die als Fokus und Impuls für die europäische Wissenschaftskommunikations-Community dienen sollen – ein Prozess, der also weitergeht.

Ebenfalls beendet, aber noch nicht abgeschlossen ist auch das Wissenschaftsjahr 2022 – Nachgefragt!, in dessen Rahmen Bürger*innen in einem „IdeenLauf“ ihre Fragen und Wünsche an die Wissenschaft formulieren konnten (Interview zum Auftakt, Interview zum Abschluss). Das daraus entstandene Ergebnispapier beinhaltet nun sage und schreibe 59 Themen-Cluster und neun Zukunftsräume – insgesamt waren über 14.000 Fragen von Bürger*innen eingegangen, die von einem Science Panel, einer Jury und einem Citizen Panel zu diesem Papier verdichtet wurden. In diesem Jahr sollen nun die Ideen auf Umsetzbarkeit geprüft und in einen weiteren Prozess eingespeist werden. Der Erfolg des gesamten Wissenschaftsjahres wird sich daran messen lassen müssen, ob dieser Transfer gelingt.

 

Beatrice Lugger ist Geschäftsführerin des Nationalen Instituts für Wissenschaftskommunikation (NaWik)*. Foto: NaWik

Forschende unter Beschuss

Mein persönliches Top-Thema des Jahres 2022 ist, wie wir kommunizierenden Wissenschaftler*innen Rückendeckung geben können, wenn diese öffentlich diffamiert bis angegriffen werden. Neben diversen Einzelberichten haben eine im Frühjahr veröffentlichte Umfrage von Science unter dem Titel „Science under attack“ und eine aus dem Vorjahr von Nature verdeutlicht, dass Forschende hier besonderen bis extremen Belastungen ausgesetzt sind. Einzelne Forschungseinrichtungen haben darauf bereits reagiert und begonnen Beratung für Forschende anzubieten. Weil es aber gar nicht so einfach ist, hier wirklich umfassend zu unterstützen, planen der Bundesverband Hochschulkommunikation und Wissenschaft im Dialog gemeinsam eine spezielle Anlaufstelle für kommunizierende Forschende, an der sie fach-und sachkundige juristische sowie psychologische Unterstützung bekommen können. Deutlich niedrigschwelliger funktioniert der „Mayday-Button“ im WissKon-Netzwerk. Hier stehen Community-Mitglieder anderen potenziell beratend zur Seite.

Besonders gefreut hat sicher viele, dass die vom BMBF 2020 auf den Weg gebrachte #FactoryWisskomm mit der Convention’22 im September 2022 in eine zweite Phase gestartet ist (Statements). Jetzt können Anknüpfungspunkte identifiziert werden und in Task Forces sowie ergänzenden agilen Formaten Themen weiter ausgearbeitet oder in die Umsetzung gebracht werden – mindestens im Laufe der aktuellen Legislaturperiode. Wie sehr dies etwa – um nur ein Metathema zu nennen – zur Qualitätssicherung und -steigerung beitragen kann, werden wir auf Wissenschaftskommunikation.de sicher weiterverfolgen.

Sich sehen, reden, streiten, diskutieren, vernetzen: Neben der Convention waren sowohl das Forum Wissenschaftskommunikation, als auch die Wissenswerte und die WissKon22 geprägt von der wieder neuen Nähe zum Gegenüber. So direkt Face-to-Face, in Panels oder Kaffeepausen werden Diskussionen zur Wissenschaftskommunikation durchaus intensiver und tragen vielleicht auch mehr Früchte. Dort ging es unter anderem um wichtige Papiere, wie Empfehlungen für Hochschulkommunikation als strategische Aufgabe der Hochschulrektorenkonferenz (Interview), die Richtlinie Wissenschafts-PR mit der sich der Deutsche PR-Rat erstmals zur Wissenschaftskommunikation verhält (Kurzvorstellung, Interview). Debattiert wurde auch, welche Effekte für die Wissenschaftskommunikation die weitere Schaffung von Chief Communication Officer Positionen an deutschen Hochschulen haben wird (Gespräch). Nicht zuletzt war das Thema Partizipation wegen notwendiger gesellschaftlicher Transformationsprozesse und mit dem Schwung des Wissenschaftsjahres 2022 viel besprochen (Schwerpunkt).

Offen bleibt zum Jahresende, auf welchen sozialen Kanälen wir in 2023 hauptsächlich wertvolle Inhalte, Links und Diskussionen teilen werden. Wurde zur Jahresmitte Twitter noch infolge der Corona-Pandemie als eine Art Leit-Sozial-Medium der Wissenschaftskommunikation beschrieben, sieht die Lage nach der Übernahme des Mediums durch Elon Musk ganz anders aus. Viele wechseln nun zu Mastodon, behalten beide Kanäle, sind unsicher (Einschätzungen). Das bleibt spannend und kann die Online-Kommunikation nachhaltig verändern.

Annette Leßmöllmann hat am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) den Lehrstuhl für Wissenschaftskommunikation* mit dem Schwerpunkt Linguistik inne. Foto: Lehrstuhl für Wissenschaftskommunikation

Künstliche Intelligenz– ein Thema das bleibt

Mein Top-Thema des Jahres – des vergangenen und des neuen – ist Künstliche Intelligenz. Denn wir erleben gerade, wie KI die ganze Wissenschaftskommunikation umkrempelt.Wenn mit ChatGPT Hausarbeiten, Promotionen, Papers, Pressemitteilungen etc. pp. erzeugt werden können, ist damit jede Form und Variante der Wissensproduktion und -verbreitung künstlich erzeugbar. Und dann stellt sich in Zukunft bei jedem Text die Frage: Wer hat’s erfunden? Und wenn es ein Algorithmus erzeugt hat, muss man sich die Frage stellen: Hat da noch jemand drüber geschaut? Das Thema ist nicht neu; Debatten zur Relevanz von KI für die menschliche Interaktion gibt es seit Jahrzehnten. Aber jetzt ist es in den wissenschaftlichen Institutionen, den Redaktionen und Kommunikationsabteilungen greifbar, fassbar und konkret angekommen, dass alle wissenschaftlichen Texte auch KI-Texte sein können, bei denen erstmal geklärt werden muss, ob hier eigentlich ein Mensch oder eine Maschine schreibt. Oder ob die Verantwortung fürs Drüberschauen heimlich, still und leise an einen Algorithmus delegiert wurde. Und was es für die Wissenschaft bedeutet, wenn die Maschine auch sehr schöne Papers schreiben kann. Notiere ich in der Pressemitteilung dann: „Autor – ChatGPT, nochmal drüber geschaut hat Dr. X“? (Hier habe ich ein wenig darüber gescherzt, dass dieses Thema ja auch für Drittmittelanträge relevant ist.). Vielleicht wird ChatGPT auch nur als Tool genutzt, wie Google für die Recherche und Word fürs Schreiben, und alle prüfen hinterher brav, ob alles richtig ist, was das Programm ausgegeben hat. Aber auch Google und Word haben das wissenschaftliche Publizieren verändert. ChatGPT wird das auch tun.

Bitte nicht falsch verstehen, KI kann in vielen wissenschaftlichen Prozessen sehr nützlich sein; der Linguist Noah Bubenhofer hat etwa, wie viele andere Forschende, dazu ein wenig öffentlich experimentiert. Trotzdem verschiebt sich dadurch im Diskurs die Last des Nachweises, ob man einem Text vertrauen kann, noch mehr in Richtung der Nutzenden von Texten. Es muss nicht falsch sein, was eine KI schreibt. Es kann vielleicht sogar auf beängstigende Art und Weise richtig sein. Was wird das mit uns machen, unserem Vertrauen in „die werden ihren Job schon gut machen, die Forschenden/Lehrenden/Kommunizierenden“? Ein Aspekt ist hier auch einfach die schiere Richtigkeit von Texten. Lehrer*innen in der Schule, Dozent*innen an der Uni, Lektor*innen, Redakteur*innen in wissenschaftlichen Magazinen müssen doppelt, dreifach prüfen, ob etwas auch wirklich Hand und Fuß hat, oder einfach nur sprachlich schön daherkommt, aber Unsinn ist. (Auch Schüler*innen müssen prüfen, ob ihnen Lehrer*innen nicht vielleicht ChatGPT-generierte Nachrichten geschickt haben, aber das nur nebenbei. Dass sie in Zukunft bei ihren Netzrecherchen eigentlich doppelt aufpassen müssen, was sie lesen, versteht sich von selbst. Völlig klar, dass auch die Schulen gerade Kopf stehen.)

Sprich, wir brauchen KI-Literacy, die sich klug mit Science Literacy verbindet. Wir Alle. Und das wird uns sehr beschäftigen. Gehen wir’s konstruktiv an (jede*r sollte mit ChatGPT experimentiert haben, um mitreden zu können, das wäre der erste Schritt), denn das Thema geht nicht mehr weg. Und es ist nicht ein Thema unter vielen, sondern ein großes Menschheitsthema, genauso wie der Klimawandel – weil es unsere Art des Kommunizierens, unseren Bezug zur Wahrheit, unsere Auffassung, was Wissen ist, und vieles mehr, fundamental tangiert. Also allen zentralen Fragen der Wissenschaftskommunikation.

 

*Wissenschaft im Dialog (WiD), das Nationale Institut für Wissenschaftskommunikation (NaWik) gGmbH und der Lehrstuhl von Annette Leßmöllmann sind die drei Träger des Portals Wissenschaftskommunikation.de.