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Im Profil: Judith Reichel

Von der Politik zum Schreiben motiviert: Als Postdoc in den USA beobachtete sie, wie im Präsidentschaftswahlkampf immer und immer wieder wissenschaftlicher Unfug verbreitet wurde. Darum begann sie zu bloggen. Heute ist Judith Reichel Wissenschaftsredakteurin für Bioökonomie und Biotechnologie.

Karriereleiter, Karrieresprungbrett oder Karrierekarussell – Wie war Ihr Weg in die Wissenschaftskommunikation?

Am ehesten trifft es vermutlich eine Mischung aus Karrieresprungbrett und -karussell: Meinen Post-Doc am Albert Einstein College in New York habe ich mit der Absicht angetreten, den einschlägigen akademischen Karriereweg zu gehen – also in der Forschung zu bleiben. Doch meine Zeit dort fiel ausgerechnet in den letzten US-Wahlkampf, der wesentlich länger dauert als ein deutscher Wahlkampf. In dieser Zeit wurde von vielen Seiten wissenschaftlicher Unfug immer und immer wieder wiederholt. Zugleich bahnte sich im Zuge einer Gesetzesänderung für die Zeiterfassung im Mindestlohnsektor eine Umgestaltung an, die letztlich auch das Post-Doc-Gehalt verändern sollte. Beides wurde am College und in der Post-Doc-Association, in der ich aktiv war, rege diskutiert. Schließlich hat es mich sprichwörtlich so sehr in den Fingern gejuckt, dass ich anfing, meine Sicht als Nachwuchswissenschaftlerin bezüglich dieser Themen aufzuschreiben und mithilfe verschiedener etablierter Blogportale zu veröffentlichen. Ein Artikel führte zum nächsten, auf einer Konferenz in Boston traf ich einige andere Blogger und nach und nach konnte ich mir ein kleines „Schreibernetzwerk“ aufbauen. Dadurch wurde auch die Anzahl an potenziellen Auftraggebern und Webseiten für die ich schreiben durfte immer größer. Vor etwa 1,5 Jahren ergatterte ich schließlich in Berlin einen Job als Wissenschaftsredakteurin und schreibe seitdem hauptberuflich über neueste Entwicklungen in der Bioökonomie, Biotechnologie und der Medizintechnik. Wissenschaftspolitische Diskussionen und die Frage, was gute Wissenschaftskommunikation ist, verfolge ich nach wie vor mit Artikeln für verschiedene Blogportale.

Was sind die größten Herausforderungen in Ihrem Job und warum lohnt es sich trotzdem jeden Tag?

Der Perspektivenwechsel war nicht immer einfach am Anfang. Ich musste mich von einigen Formulierungen und Sichtweisen, die ich aus jahrelanger Laborarbeit gewohnt war, verabschieden, und mich in thematisch interessierte aber wissenschaftlich unerfahrene Leserinnen und Leser einfühlen. Zudem muss ich mich als Quereinsteigerin und noch relativ am Anfang meiner hauptberuflichen Schreiberkarriere, auch immer wieder gegen journalistisch erfahrene Kollegen behaupten und beweisen, dass man auch als Quereinsteigerin gute journalistische Texte schreiben kann – und die deutsche Kommasetzung treibt mich nach wie vor regelmäßig zur Verzweiflung.

Der beste Lohn ist natürlich, wenn jemand, der nicht aus der Wissenschaft kommt, meine Texte liest und dadurch das System oder die Forschung selbst etwas besser versteht. Ich versuche, mit jedem Artikel und vor allem meinen Blogbeiträgen eine Facette des Wissenschaftssystems darzustellen, die der Leser vorher nicht kannte. Denn nur wer das System versteht, kann auch neue Erfolgsmeldungen und Publikationen richtig einordnen. Im Optimalfall gebe ich also dem Leser das nötige Werkzeug an die Hand, damit er künftig Neuigkeiten aus der Wissenschaft und Berichte darüber auch eigenständig einordnen kann.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft der Wissenschaftskommunikation?

Ich wünsche mir für die Wissenschaftskommunikation, dass sie mehr Unterstützung sowohl vonseiten der Forschung als auch den Journalisten bekommt. Denn ich habe das Gefühl, beide Seiten belächeln sie gerne mal und unterschätzen ihre Bedeutung und Möglichkeiten. Die Forscher sollten allerdings auch nicht damit alleingelassen werden. Die meisten wollen ihrer Forschung nachgehen und sind mit Prüfungsgremien, Fördergeldanträgen und dergleichen ohnehin schon mehr als ausgelastet.

Gleichzeitig wünsche ich mir von der Wissenschaftskommunikation, dass sie die gleichen ethischen und fachlichen Maßstäbe verfolgt wie guter Journalismus. Soll heißen: Es liegt in der Verantwortung der Wissenschaftskommunikation, neue Forschungsergebnisse so darzustellen, dass der Leser zwar ihre Bedeutung erkennt, sie aber nicht zu sehr aufgebauscht werden. Wir als Autoren sollten also nicht jeden Monat von einer neuen „Heilung für Krebs oder Alzheimer“ sprechen, da dies den Leser auf Dauer mürbe und zynisch werden lässt. Ohnehin glaube ich, dass sowohl dem Leser als auch der Wissenschaft am meisten geholfen ist, wenn das System „Wissenschaft und Forschung“ besser erklärt und vorgestellt wird, wenn also der “Elfenbeinturm” selbst transparenter wird.