Foto: Belinda Fewings

Dialog um jeden Preis?

Nach der Kritik am Beitrag „Die Lockdown-Macher“ der BILD-Zeitung treten die Wissenschaftsorganisationen mit ihr in einen Dialog. Die Ankündigung löste zahlreiche Diskussionen auf Twitter aus. Ein Versuch, die Debatte zusammenzufassen.

Nachdem die BILD-Zeitung im Dezember drei Wissenschaftler*innen als „Lockdown-Macher“ betitelte, regte sich – nicht nur in der Wissenschaft – viel Kritik: verleumderisch, falsch, hetzend sei diese Art der Berichterstattung. 94 Beschwerden gingen beim Presserat ein. Die Allianz der Wissenschaftsorganisationen sowie die Universitäten der betroffenen Forscher*innen veröffentlichten Stellungnahmen, in denen sie die Boulevardzeitung scharf kritisierten.

Jetzt will ein Teil der Wissenschaftsorganisationen mit der BILD-Zeitung ins Gespräch kommen. Die öffentliche Online-Veranstaltung findet am 28. Januar 2022 um 12:30 Uhr statt. Auf dem Podium werden der Helmholtz-Direktor Otmar D. Wiestler, die Wissenschaftler*innen Viola Priesemann, Michael Meyer-Herrmann und Michael Hallek sowie der BILD-Chefredakteur Johannes Boie sitzen.

In der Pandemie seien Wissenschaft und Journalismus besonders herausgefordert, „in der Wechselwirkung kommt es auch zu Reibung“, schreibt die Hochschulrektorenkonferenz bei der Ankündigung auf Twitter. Dabei spiele der Boulevardjournalismus eine besondere Rolle. Man wolle damit die „öffentliche Debatte um die gesellschaftliche Rolle und Verantwortung von Medien und Wissenschaft“ vorantreiben, kommentiert die Max-Planck-Gesellschaft auf die Frage, warum man mit der BILD in den Dialog trete.

Auf Zustimmung und Kritik stieß der Ankündigungstweet zur Veranstaltung in den sozialen Medien. Befürworter*innen und Kritiker*innen führten verschiedene Argumente an.

Die Veranstaltung legitimiert die Arbeitsweise der BILD

Die Erklärung der Allianz der Wissenschaften gegen Angriffe auf Wissenschaftler*innen sei „wichtig und richtig“ gewesen, twittert die Philosophin Amrei Bahr. „Dieses Dialogformat hingegen irritiert mich: Der BILD auf diese Weise Aufmerksamkeit und Legitimität zu verschaffen, halte ich für problematisch und weder sachgemäß noch zielführend“, ergänzt sie. „Erst ist die Allianz zur Seite gesprungen, dann gibt sie wieder klein bei. So wird das nicht funktionieren“, schreibt der Wissenschaftsforschung-Student Jan Cloppenburg. Ein miteinander reden sei auch immer ein „mit legitimieren. Die Grenzen dessen verschieben, worüber es normal ist zu reden“, twittert der Physiker und Wissenschaftskommunikator Markus Pössel.

Ein Dialog kann zu mehr Verständnis führen

„Kritische Sichtweisen und Einstellungen kann man besser bekämpfen, wenn man sie thematisiert als wenn man sie ignoriert“, entgegnet die HRK-Vizepräsidentin Anja Steinbeck den Kritiker*innen. Dabei sei die Veranstaltung eine „Chance klarzustellen, dass Wissenschaftler*innen Erkenntnisse vermitteln, aber eben keine Entscheider („Lockdown-Macher“) sind.“ Die Diskussionsveranstaltung sei eine Möglichkeit für „wissenschaftliche Akteure, Eigengesetzlichkeiten und Differenzierungen zu sensibilisieren“, kommentierte die ZEIT-Journalistin Anna-Lena Scholz im Wissen Drei-Newsletter.

Die öffentlichkeitswirksame Podiumsdiskussion ist das falsche Format für den Austausch

„Dialog ist ja toll. Das meine ich vollkommen unironisch. Miteinander sprechen, gegenseitig zuhören, evtl. sogar die Perspektive der Gegenseite verstehen… Aber: muss das in dieser Form sein?“, fragt der Sozialwissenschaftler und Dozent für Wissenschaftskommunikation Marc Scheloske. Auch die Wissenschaftler*in Magdalena Beljan übt Kritik nicht generell an der Auseinandersetzung mit der BILD-Zeitung, sondern am Format: „Derzeit ist es eine PR-Veranstaltung von und für die BILD-Zeitung. (…) Um die BILD-Zeitung zu ‚sensibilisieren‘, gäbe es andere Formate, die aber weniger öffentlichkeitswirksam (…) wären.“ Mit ihrem Tweet nahm sie Bezug auf den Kommentar von Anna-Lena Scholz. Auch andere kritisieren die Veranstaltung als „BILD-Marketingmaßnahme“.

Die Veranstaltung findet nicht auf neutralem Terrain statt

Die Kritik richte sich nicht nur gegen das Format, sondern auch gegen dessen Rahmung und Design, schreibt Amrei Bahr: Nicht nur die Ankündigung sei im Corporate Design der BILD gehalten, die Veranstaltung ist auch Teil einer BILD-Eventreihe. „Die Anmeldung findet über die Event-Seite der BILD statt. Neutrales Terrain für eine Podiumsdiskussion (…) ist das sicher nicht“, twittert auch Magdalena Beljan.

Die Wissenschaftsorganisationen können mehr bewirken als einzelne Wissenschaftler*innen

Der Pflanzenforscher Robert Hoffie halte es „prinzipiell für wichtig, auch die Leserschaft der BILD mit Infos aus der Forschung zu erreichen“. Er selbst habe allerdings eine Anfrage der BILD-Zeitung „mit Verweis auf Wissenschaftsberichterstattung abgelehnt“. Dennoch sei er davon überzeugt, dass die Wissenschaftsorganisationen in der Diskussion um den Umgang der Boulevardzeitung mit Wissenschaftler*innen mehr bewegen könnten als einzelne Forscher*innen. „Ich finde die Initiative nicht verkehrt, sie muss sich aber natürlich hinterher daran messen lassen, ob etwas erreicht wurde“, twittert er. Auch Anna-Lena Scholz greift diesen Punkt in einem Thread auf, in dem sie auf die Kritik an ihrem Kommentar eingeht: „Dass Einzelpersonen mit der BILD nichts zu tun haben wollen, auch um sich persönlich zu schützen: Verständlich und richtig. Für wissenschaftliche Institutionen aber ist Rückzug keine Option. Sie sind einflussreiche Akteure.“

Das Framing der Veranstaltung ist verharmlosend

Der Sozialpsychologe Mathias Kauff kritisiert das Framing der Veranstaltung: „Schwierig ist in meinen Augen vor allem auch die euphemistische Bezeichnung ‚zugespitzte Berichterstattung‘. BILD macht Politik, verbreitet Unwahrheiten und hat im erwähnten Artikel Wissenschaftler*innen der Öffentlichkeit zum Fraß vorgeworfen.“ Auch der Experimentalpsychologe Martin Grund kritisiert das Wording und Gestaltung der Einladung: „Eingeladen im Schriftsatz der BILD mit Aussagen wie ‚BILD nimmt Kritik Ernst.‘, unterschrieben durch die Präsidenten.“

Beide Seiten können mehr über die Arbeitsweise der anderen lernen

„Es gibt zwischen Wissenschaft und Journalismus große Verständnishürden, v.a. über die jeweilige Arbeitsweise“, schreibt Anna-Lena Scholz. Man könne durch den Austausch womöglich etwas über Wissenschaftskommunikation lernen.


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