Foto: Tim Reckmann | CC BY 2.0

„Ich bin froh über alle, die sich nicht abschrecken lassen“

Die BILD-Zeitung hat Wissenschaftler*innen als „Lockdown-Macher“ betitelt. Ein breites Bündnis aus der Wissenschaft kritisiert diese Berichterstattung scharf. Eine Einschätzung von Elisabeth Hoffmann und Sabine Kunst zur Signalwirkung der Stellungnahmen und Konsequenzen des erzeugten Meinungsklimas für die Wissenschaftskommunikation.

„Einseitig“ und „diffamierend“: So lautet die Kritik an der Berichterstattung der BILD mit dem Titel „Die Lockdown-Macher“ vom 4. Dezember 2021. Darin machte die Boulevardzeitung drei Wissenschaftler*innen namentlich für strengere Corona-Maßnahmen verantwortlich. Auf der Titelseite der Printausgabe prangten die Fotos der Forscher*innen Viola Priesemann, Michael Meyer-Hermann und Dirk Brockmann – über ihren Köpfen stand die Zeile „Experten-Trio schenkt uns Frust zum Fest“. Darunter waren drei Geschenkpakete abgebildet, die die Aufschriften „Geschenke-Kauf 2G“, „Familienfest nach Corona-Regeln“ und „Kino-Verbot für Ungeimpfte“ trugen.


Ein breites Bündnis aus Wissenschafts- und Forschungsorganisationen kritisierte die Berichterstattung in einer Stellungnahme scharf. „Dass und auf welche Weise hier einzelne Forscherinnen und Forscher zur Schau gestellt und persönlich für dringend erforderliche, aber unpopuläre Maßnahmen zur Pandemie-Bekämpfung verantwortlich gemacht werden (…), ist diffamierend“, heißt es in der Stellungnahme der Allianz der Wissenschaftsorganisationen. Darin ruft sie zu mehr Sachlichkeit in der Berichterstattung über die Coronapandemie auf.

Viele Wissenschaftler*innen zeigen sich solidarisch mit den drei Modellierer*innen. Maja Göpel schreibt bei Twitter: „Das ist nicht nur gelogen, sondern Verleumdung & eine Gefahr für die Freiheit von Wissenschaftler*innen, nach bestem Wissen zu beraten.“ Der Virologe Christian Drosten reagiert darauf mit der Forderung an die Politik, sich zu positionieren und die „die betroffenen Wissenschaftler zu schützen“.


Beim Presserat sind inzwischen 94 Beschwerden gegen die BILD eingelegt worden. Dieser hat ein Verfahren eingeleitet und überprüft, ob die Redaktion der im Pressekodex festgeschriebenen Sorgfaltspflicht und dem Wahrhaftigkeitsgebot nachgekommen ist. Zu den Beschwerdeführer*innen zählt auch die Berliner Humboldt-Universität (HU), an der der Physiker Dirk Brockmann einen Lehrstuhl hat. Im Statement verurteit die HU das Vorgehen der BILD als „gefährlich und verantwortungslos“: „Den Leser*innen wird auf diese Weise suggeriert, Wissenschaftler*innen seien verantwortlich für Entscheidungen der Politik.“ Die Forschenden würden dadurch „markiert“ werden. Weiter heißt es im Statement: „Anhänger von Verschwörungstheorien erhalten dadurch mediale Unterstützung für ihre Ansicht, die Wissenschaft sei ein Treiber politischer Entscheidungen“. Die Universität stelle sich schützend vor jedes ihrer Mitglieder, dass Falschbehauptungen und Verleumdung ausgesetzt sei.

Welche Gefahren ein solches Meinungsklima birgt, benennt auch die Stellungnahme der Allianz der Wissenschaftsorganisationen: Es habe bereits bei früheren Vorfällen dazu geführt, „dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sich physischer oder psychischer Gewalt ausgesetzt sahen oder mit ihr bedroht wurden“. Viola Priesemann, die am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen forscht, greift die Stimmungsmache in einem Tweet auf: „Wer macht bei einem solchen Klima Wissenschaftskommunikation oder Wissenschaftsberatung?“


Diese Frage stellt sich auch Elisabeth Hoffmann. Sie ist Leiterin der Stabsstelle Presse und Kommunikation und Pressesprecherin der Technischen Universität Braunschweig. Sie schreibt: „Das ist tatsächlich eine sehr gute Frage. Es braucht sehr viel Mut und, oft unterschätzt, auch Zeit, um gerade in kontroversen Debatten gut zu kommunizieren. Die Antwort, die Professorin Viola Priesemann für sich gefunden hat, ist vorbildlich. Sie macht, wie viele Ihrer Kolleg*innen, trotz aller Diffamierungen mutig weiter. Sie nimmt sich aber auch immer wieder phasenweise aus dem ‚Spiel‘, um Zeit für die Forschung zu finden.“

Elisabeth Hoffmann ist Leiterin der Stabsstelle Presse und Kommunikation und Pressesprecherin der Technischen Universität Braunschweig. Die promovierte Literaturwissenschaftlerin war von 2008 bis 2014 Vorstandsvorsitzende des Bundesverbands Hochschulkommunikation. Sie twittert als @einrehgehege. Foto: privat

Elisabeth Hoffmann ergänzt: „Für Wissenschaftler*innen ist es eine sehr persönliche Entscheidung, sich aktiv in der Wissenschaftskommunikation zu engagieren. Noch viel mehr gilt das für die Kommunikation kontroverser, emotionsgeladener Themen. Ich bin froh über alle, die sich nicht abschrecken lassen und dem Ärger entgegengehen. Die wirksamste Kommunikation findet nämlich dort statt. Wenn wir es schaffen, klar und überzeugend auf kritische oder skeptische Menschen zuzugehen und diese nicht den Stimmungsmacher*innen zu überlassen, können wir deutlich mehr erreichen als mit den innovativsten Formaten, wenn sie wieder vor allem die ohnehin Interessierten erreichen. Doch das ist eine echte Herausforderung wie auch eine Frage der Persönlichkeit und der je eigenen Perspektiven. Und es ist eine Frage des eigenen Umfelds.“

Gefragt nach der Unterstützung, die Wissenschaftler*innen in Öffentlichkeit, Medien und Politikberatung benötigen und verdienen, nennt Elisabeth Hoffmann die Expert*innen in den Kommunikationsabteilungen als erste Ansprechpartner*innen. Diese könnten Forscher*innen schon vor dem ersten öffentlichen Statement durch Schulungs- und Beratungsangebote beim Kompetenzaufbau unterstützen. Dabei helfe es zu wissen, dass ein*e Sparringspartner*in in den Kommunikationsabteilungen ansprechbar ist, wenn gebraucht.

„Es braucht sehr viel Mut und, oft unterschätzt, auch Zeit, um gerade in kontroversen Debatten gut zu kommunizieren.“ Elisabeth Hoffmann
Doch das allein reiche nicht, schreibt Elisabeth Hoffmann weiter: „Auch der Rückhalt der Leitungen in Hochschulen, Forschungseinrichtungen und Instituten ist essenziell. Die jüngsten Angriffe der BILD-Zeitung hat die TU Braunschweig, wie viele andere namhafte Institutionen, scharf kritisiert und auch zur Beschwerde vor dem Presserat gebracht. Das ist ein wichtiges Signal, auch nach innen. Es strahlt auf die gesamte Universität aus und kann Kolleg*innen wie Studierende ermutigen, sich sichtbar vor die betroffenen Wissenschaftler*innen und gegen Attacken zu stellen. Wichtig ist schließlich auch die eigene Fachcommunity, wenn sie Wissenschaftskommunikation heute als Bestandteil des Aufgabenspektrums, nicht als Konkurrenz zur fachlichen Exzellenz auffasst. Wie Frau Priesemann sehr zutreffend sagt: ‚Es hilft allen, diese Arbeit auf viele Schultern zu verteilen.’“

Sabine Kunst ist die Präsidentin der Humboldt-Universität zu Berlin. Die promovierte Ingenieurwissenschaftlerin und Politologin war vor ihrer Inauguration Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kultur in Brandenburg. Bis 2007 hatte die Professorin einen Lehrstuhl für Biologische Verfahrenstechnik an der Universität Hannover inne. Foto: Matthias Heide

Gefragt nach der Signalwirkung solcher Stellungnahmen schreibt die Professorin und Präsidentin der Humboldt-Universität Sabine Kunst: „Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler stehen selten für sich und ihr Fach allein. Sie sind meist auch deshalb als Experten bei Medien gefragt, weil sie einer bekannten oder renommierten Einrichtung angehören, wie zum Beispiel der Humboldt-Universität zu Berlin. Deshalb ist es sehr wichtig, dass diese Einrichtungen sich mit ihrem Namen und ihren Leitungen vor ihre Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern stellen, wenn sie angefeindet und diskreditiert werden. Stellungnahmen sollten andererseits wohl überlegt sein und nicht inflationär eingesetzt werden. Dann wird auch eine Signalwirkung erreicht. Und das ist wichtig, wenn Forscherinnen und Forscher nicht fair behandelt werden.“

Für Politik und Gesellschaft sei es wichtig, dass die Erkenntnisse der Wissenschaft sowohl in gesellschaftspolitische Debatten als auch die Politikberatung einfließen, betonen die Verfasser*innen in der Stellungnahme der Allianz der Wissenschaftsorganisationen. Das zeige sich nicht nur während der Coronakrise: „Daher müssen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre Expertise frei einbringen können.“

„Stellungnahmen sollten andererseits wohl überlegt sein und nicht inflationär eingesetzt werden. Dann wird auch eine Signalwirkung erreicht.“ Sabine Kunst
Sabine Kunst greift diesen Punkt auf: „Die Voraussetzung für Politikberatung durch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ist, dass sie sich ohne Angst äußern können. Wenn dies durch das öffentliche mediale Brandmarken von Expertinnen und Experten nicht uneingeschränkt möglich ist, wird die Politik nicht nach bestem Wissen und Gewissen und zum Wohl der Gesellschaft beraten. Es ist daher die Aufgabe von Hochschulleitungen, ihre Forscherinnen und Forscher dabei zu unterstützen, klar und deutlich ihre wissenschaftliche Bewertung von Herausforderungen und Problemen zu kommunizieren. Darin liegt die gesellschaftliche Verantwortung der Wissenschaft. Der Schulterschluss zwischen Hausleitungen und ihren Mitgliedern ist aber auch wichtig, um der Mär von den ‚Fake News‘-Wissenschaften eine klare Position entgegenzuhalten.“


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