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„Wissenschaft muss sich systematisch auf kritische Kontroversen vorbereiten“

Reicht ein Positionspapier, um wissenschaftlichen Konsens auszuhebeln? Bei der aktuellen Debatte rund um das Thema Feinstaub hat es den Anschein. Hannes Schlender, geschäftsführender Gesellschafter der Agentur scienceRELATIONS – Wissenschaftskommunikation, kommentiert diese.

Die Emotionen sind da – in voller Stärke. Ist Feinstaub, sind Stickoxide nun gesundheitsschädlich oder nicht? Sind die Grenzwerte, die in Deutschland zu Fahrverboten für Dieselautos führen, zu niedrig, realistisch oder gar aus der Luft gegriffen? Hat die Wissenschaft ordentlich gearbeitet oder steht sie im Dienst der Umweltschutzlobby? Fragen über Fragen sind plötzlich auf der medialen Tagesordnung. Zweifel an der Wissenschaft steht im Raum. Wie konnte das passieren?

100 Lungenfachärztinnen und -ärzte haben Anfang Januar eine Stellungnahme veröffentlicht. In ihrem Positionspapier bezweifeln die Unterzeichnenden die wissenschaftliche Basis für die Festlegung der Grenzwerte – ja, die Gesundheitsschädlichkeit von Feinstaub und Stickoxiden generell. Basis ihrer Position sind in erster Linie persönliche Erfahrungen aus der ärztlichen Praxis. Die Verfasserinnen und Verfasser sind bereit, auf Nachfrage wissenschaftliche Belege nachzuliefern.

Das mediale und politische Echo folgt prompt (zum Beipsiel FAZ, Der Spiegel). Für die Medien ist das Thema spannend, weil es hochemotional ist und weil David gegen Goliath kämpft: Praxisärztinnen und -ärzte gegen die Wissenschaft. Außerdem bewegt sich was: Die Stimmung kippt gegen Grenzwerte, gegen wissenschaftliche Erkenntnisse zum Thema. Da sollte man dabei sein. Das denkt sich auch die Politik, denn endlich gibt es „Expertenmeinungen“ von Rang und Namen gegen politisch höchst umstrittene Grenzwerte.

Die eine Seite ruft nun seit Tagen: Seht her, so sicher ist das mit der Wissenschaft gar nicht! Lasst uns die Grenzwerte lieber erst einmal aussetzen, bis sich die Wissenschaft bei dem Thema wirklich sicher ist. Die Folgen und Belastungen für Wirtschaft und Autofahrende sind ansonsten unzumutbar hoch.

Die andere Seite hält dagegen: Natürlich sind die Grenzwerte berechtigt, sie sind noch zu niedrig! Die Studien, auf deren Basis sie festgelegt wurden, sind hochkomplex, aber von der internationalen Gemeinschaft der Forschenden anerkannt. Und sie schützen Menschen vor Gesundheitsschäden; vor allem Kinder, Kranke und Alte.

Nahezu die einzige Partei, die in der Debatte nicht sichtbar wird, ist die institutionelle Forschung. Als die Diskussion richtig hochkocht, werden zwar Forscherinnen und Forscher interviewt und Expertinnen und Experten befragt. Aber auf den Internetauftritten von Universitäten, Instituten und Forschungsorganisationen spielt das Thema keine Rolle. Eine eigene Stellungnahme ist nicht in Sicht.

Laien, Zeitungslesende und Fernsehzuschauerinnen und -zuschauer fragen sich in dieser Situation: Wem kann ich denn nun trauen? Zweifel bleiben zurück, selbst bei den Gutwilligsten und den Forschungsfans.

Was hilft? Gegen Verwirrung und Zweifel hilft zu allererst seriöser Wissenschaftsjournalismus. Aber auch Hintergrundrecherchen wie die des Science Media Centre (SMC) oder Formate wie das Debattenforum (Anmerkung der Redaktion: Gemeint ist das Projekt „Die Debatte“) von Wissenschaft im Dialog, dem SMC und der Technischen Universität Braunschweig. Das allein reicht aber nicht.

Wenn Wissenschaft in Deutschland ihre Basis nicht verlieren will, muss sie sich systematisch auf kritische Kontroversen vorbereiten. Kontroversen, in denen – absichtlich oder nicht – Zweifel an wissenschaftlicher Herangehensweise und wissenschaftlichen Ergebnissen gesät wird.

Universitäten und Wissenschaftsorganisationen, Forscherinnen und Forscher müssen die Mechanismen des zu erwartenden öffentlichen Diskurses kennen, verschiedene Verlaufsvarianten der Diskussion vorherbestimmen und sofort sprechfähig sein, wenn es knallt.

Sonst kann es sein, dass ein griffig formuliertes und gut lanciertes Positionspapier ausreicht, um in wenigen Tagen einen wissenschaftlichen Konsens zu diskreditieren, der sich im Laufe von Jahren und auf der Basis unzähliger wissenschaftlicher Studien herausgebildet hat.

Gastbeiträge spiegeln nicht zwangsläufig die Meinung unserer Redaktion wider.