Foto: Janne Steenbeck

Radioballett – Wissen und Debatten erlebbar machen

In einem Radioballett wird das Publikum selbst zur Performancegruppe und ist dadurch gleich mittendrin im Thema. Was das Format ausmacht und wie sich verschiedene Themen damit umsetzen lassen, erklären Janne Steenbeck und Thea Mattern von Körperfunkkollektiv.

Wenn eine Gruppe von Menschen beieinandersteht und Kopfhörer auf den Ohren trägt, scheint die naheliegendste Erklärung: Audiotour oder Silent Disco. Aber dann beginnt die Menge, sich zu bewegen und miteinander auf unterschiedliche Weise performativ zu interagieren. Spätestens jetzt entstehen die ersten gedanklichen Fragezeichen: Was geht hier vor sich? Radioballett? Was ist das?

Radioballett ist ursprünglich eine Art performativer Intervention in öffentlichen Räumen und wurde vom Hamburger Kunstkollektiv LIGNA erfunden. LIGNA erforscht dabei die Grenze zwischen gesellschaftlich geduldetem oder aber nicht geduldetem Verhalten, indem es sogenannte Smartmobs, also Flashmobs mit politischer oder sozialer Botschaft, organisieren.

Handlungsanweisung per Kopfhörer

Beim Radioballett des Körperfunkkollektivs wird das Publikum hingegen selbst zu Darstellerinnen und Darstellern innerhalb einer Geschichte: Über Funkkopfhörer lauschen sie einer Erzählung, in die Handlungsweisungen eingeflochten sind. Indem sie diese Anweisungen befolgen, interagieren sie miteinander innerhalb einer akustisch real gewordenen (fiktiven) Welt. Innerhalb dieser Welt schlüpfen die Teilnehmenden in die unterschiedlichsten Rollen und können dabei nicht nur entscheiden, wie sie ihre Rolle darstellen, sondern zum Teil auch, welche Rolle sie spielen möchten. In mehrere Gruppen aufgeteilt hören sie die Geschichte aus unterschiedlichen Perspektiven und befolgen so auch unterschiedliche Anweisungen. So agieren sie mal innerhalb, mal außerhalb ihrer eigenen Gruppe oder sogar mit außenstehenden Personen. Dabei wissen sie nicht, welche Anweisungen die jeweils andere Gruppe gerade hört. Auf diese Weise entstehen eine Geschichte und eine Performance, die für die Teilnehmenden unerwartet, einbindend, neu, herausfordernd und intim sein kann. Sie selbst erwecken durch ihr Handeln die Geschichten zum Leben.

Radioballett auf der Utopiekonferenz der Leuphana Universität Lüneburg. Foto: Janne Steenbeck

Themen von Identität bis Naturschutz

Die Geschichten, die die Teilnehmenden performen, werden vom Körperfunkkollektiv konzipiert und beschäftigen sich in der Regel mit gesellschaftlichen Fragen. So werden die Teilnehmenden in einem Stück beispielsweise zu Weggefährtinnen und -gefährten auf dem Schiff des antiken Griechenkönigs Theseus Schiff. Sie begeben sich mit ihm auf eine Reise durch die Zeit und durchleben die Entwicklungsprozesse von Medien und die wechselseitigen Einflüsse von Mensch und Technik.  Spielerisch nähern sie sich so der Frage nach der menschlichen Identität an.

In anderen Stücken schlüpfen sie in die Rolle von Landwirtin oder Landwirt, Biene oder Pflanze, um den Einflüssen des Menschen auf die Natur nachzugehen. Oder sie finden sich in einem umgekehrten Märchen wieder, das die gesellschaftlichen Konstruktionen von Gender erfahrbar macht. Durch das bewusste Eintauchen in einen interaktiven Handlungsstrang und das gemeinsame Kreieren von Situationen in der Rolle einer fiktiven Figur haben die Teilnehmenden die Chance, Wissen performativ zu erfahren und auszutesten.

Mittendrin im Spannungsfeld

Der spielerische und interaktive Ansatz des Radioballetts macht es zu einem unkonventionellen und erlebnisorientierten Format. Es ermöglicht, komplexe Themen niedrigschwellig zu kommunizieren und den Zugang zu einer facettenreichen, offenen Diskussion zu erleichtern. Dabei wird die traditionelle Rolle von Zuschauenden, Darstellenden und Vermittelnden aufgehoben: Indem die Teilnehmenden selbst Teil der Geschichte werden, wird die Thematik auf unmittelbare Weise erfahrbar; Viel mehr, als es bei einem konventionellen Theaterstück oder Vortrag der Fall wäre. Die Teilnehmenden stehen hier mitten im Spannungsfeld: Mal agieren alle synchron und sie verbinden sich in gemeinsamen Bewegungsmustern zu einem momentanen Kollektiv. Dann wiederum zerstreut sich die Gruppe und alle bringen durch individuelle Gestik und Mimik eine eigene Position zum Thema zum Ausdruck.

Während der Feministischen Agora des „PLATZprojekts“ in Hannover feierte das neue Radioballettstück zum Themenfeld Privilegien seine Premiere. Foto: Diana Cabrera Rojas

Entstanden ist das erste Radioballett des Körperfunkkolektivs – damals allesamt Studierende der Leuphana Univertität Lüneburg – im Jahr 2014 und wurde bei einem studentisch organisierten Campus-Festival aufgeführt. Mittlerweile haben sich die Standorte des Kollektivs auf Berlin und Hamburg ausgeweitet. Seit 2016 findet Radioballett als Programmpunkt nicht nur auf Musik- und Kulturveranstaltungen, sondern auch im Rahmen diverser wissensvermittelnder Formate statt (re:publica, TINCON, YOU:KO Jugendkongress Bochum, CLUB OF ROME Bildungskonferenz, Klima Bar Camp Berlin, ZUKUNFT FÜR ALLE Kongress u.v.m.). Mit Wissenschaft im Dialog* arbeitete das Körperfunkkollektiv bereits mit dem Projekt Jugend präsentiert sowie zur Maker Woche von Make Your School zusammen.

Radioballett auf Abstand

Aufgrund der gegenwärtigen Situation, die eine auf körperliche Berührungen angelegte Performance unmöglich macht, fokussiert sich die Arbeit des Kollektivs zurzeit auf die Entwicklung neuer, kreativer Ansätze für digitale Versionen des Radioballetts. So entstanden dieses Jahr zwei neue Formate: Zum einen das über Soundcloud frei zugängliche Stück „#meandmyobjects“. Es kann zu jeder Zeit und von überall via eigenem Endgerät, alleine oder mit der eigenen Hausgemeinschaft, Corona-konform durchgeführt werden. Dabei gehen die Teilnehmenden auf Entdeckungstour durch ihre eigene Wohnung und beschäftigen sich mit dem eigenen Verhältnis zu ihren Besitztümern. Da die Interaktivität aber nicht ganz verloren gehen sollte, gibt es ein zweites Stück, das auf die Durchführung auf Videokonferenz-Plattformen ausgelegt ist. Darin erfahren und diskutieren die Teilnehmenden die negativen wie positiven Effekte von Anonymität in digitalen Räumen.

Die Arbeitsweisen des Körperfunkkollektivs sind also insgesamt vielfältig: Neben der Konzeption eigener Stücke, die auf unterschiedlichen Veranstaltungen angeboten werden, haben sie bereits in Kooperationen mit den Non-Profit-Organisationen Viva con Agua oder lemonaid gemeinsame Formate entwickelt, konzipieren auf Anfrage neue Stücke für unterschiedliche Auftraggeberinnen und Auftraggeber, geben Workshops zu performativen Vermittlungsformaten oder halten Vorträge über die vielseitigen Möglichkeiten des Formates Radioballett.


Projektsteckbrief

Träger: Das Körperfunkkollektiv ist ein Zusammenschluss freier Kunstschaffender, die performative Vermittlungsformate entwickeln. Dabei haben sie sich auf die Konzeption von Radioballettstücken spezialisiert, in welchen Teilnehmende zu Darstellerinnen und Darstellern einer Geschichte werden und unterschiedliche Themen performativ erleben.

Finanzierung: Das Körperfunkkollektiv ist unabhängig und finanziert sich über Honorare, die je nach Arbeitsauftrag und -umfang mit den Auftraggeberinnen und Auftraggebern ausgehandelt werden.

Ziele: Ziel des Projektes ist es, Menschen mit gesellschaftsrelevanten Themen, aktuellen Forschungsansätzen oder ganz fundamentalen Fragen des Zusammenlebens über ein niedrigschwelliges und erlebnisorientiertes Format in Berührung kommen zu lassen. Pro Veranstaltung werden je nach Anzahl der Durchgänge rund 50–500 Personen erreicht. Pro Durchgang sind es jeweils 50 Teilnehmende.

Zielgruppen: Ein audiophiles, neugieriges Publikum jeden Alters

Weitere Informationen: www.koerperfunkkollektiv.de

*Wissenschaft im Dialog ist auch einer der drei Träger der Plattform Wissenschaftskommunikation.de.