Foto: Petri Heiskanen

Kurz vorgestellt: Neues aus der Forschung im Juli 2022

Über welche Themen und Kanäle kommunizieren die Landesregierungen in der Pandemie? Wirken sich Schwellenwerte für Herdenimmunität auf die Impfbereitschaft aus? Und wie diskutieren Niederländer*innen über Genom-Editierung bei Nutztieren? Das sind Themen im Forschungsrückblick für den Juli.

In unserem monatlichen Forschungsrückblick besprechen wir aktuelle Studien zum Thema Wissenschaftskommunikation. Diese Themen erwarten Sie in der aktuellen Ausgabe:

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Krisenkommunikation auf Landesebene

In der Coronapandemie spielen die Regierungen der Bundesländer eine zentrale Rolle – unter anderem beim Erlass von Infektionsschutzverordnungen. Floriane Drerup und Thomas Birkner von der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster haben untersucht, wie die 16 Landesregierungen während des ersten Pandemie-Jahres auf Facebook, Twitter und in Pressemitteilungen kommunizierten. Dabei wollten sie unter anderem wissen, welche Themen bei unterschiedlichen Kommunikationskanälen und zu unterschiedlichen Zeitpunkten im Mittelpunkt standen. 

Methode: Die Grundlage der Analyse bildeten die Texte aller Pressemitteilungen, Tweets und Facebook-Posts der 16 Landesregierungen zwischen dem 27. Januar und dem 31. Dezember 2020. Der Untersuchungszeitraum beginnt somit mit dem Bekanntwerden des ersten Covid-19-Falls in Deutschland und endet kurz nach dem Start der Impfkampagne. Das Textkorpus umfasst 6164 Facebook-Posts, 17822 Tweets und 3126 Pressemitteilungen. Sofern eine Landesregierung kein eigenes Facebook- oder Twitter-Profil hatte, wurden die Accounts der Ministerpräsident*innen herangezogen. Die Forscher*innen untersuchten bewusst auch Dokumente ohne Coronabezug, um die Rolle der Pandemie in der Gesamtkommunikation einschätzen zu können. Das Material unterzogen die Forscher*innen einer (teil-)automatisierten Inhaltsanalyse. Dabei wurden zuerst mithilfe einer Statistiksoftware durch die Suche nach bestimmten Worten (u.a. covid*, *corona, Pandemie, COVID) bestimmt, wie viel Platz die Corona-Thematik in der Gesamtkommunikation einnahmen. Um die Bedeutung verschiedener Themen zu analysieren, nutzten die Forscher*innen die Methode des Topic Modeling. Dabei werden automatisiert häufige Worte und deren Auftauchen im Zusammenhang mit anderen Worten bestimmt. So ergaben sich Themenfelder, die die Forscher*innen interpretieren konnten. 

Ergebnisse: Es zeigt sich, dass der Beginn der Coronapandemie im März und April 2020 zu einer deutlich gesteigerten Kommunikation der Landesregierungen führte. Auch im restlichen Jahr blieb die Kommunikation stärker als im Februar 2020, kurz vor Beginn des Untersuchungszeitraumes. Etwas weniger als die Hälfte aller Dokumente zeigt einen eindeutigen Corona-Bezug. Der Anteil schwankt von 37 Prozent in Mecklenburg-Vorpommern und 56 Prozent in Thüringen. Unterschiede zwischen den einzelnen Kommunikationskanälen lassen sich dabei kaum festmachen: 56 Prozent der Pressemitteilungen haben Coronabezug, 51 Prozent der Facebook-Posts und 46 Prozent der Tweets. 

Für Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern ist „Bildung“ am wichtigsten. Bayerns Hauptthema hingegen ist „Presse“ (25 Prozent).
Bei der Auswertung des Topix Modeling zeigt sich, dass das am häufigsten auftauchende Thema „Solidarität“ ist. Es findet sich in 15 Prozent aller Dokumente im Datensatz. Im Fokus dieses Themas steht der Dank an Personen, die sich solidarisch zeigen, sowie der Appell, Regeln zu befolgen und zusammenzuhalten. Inhaltliche Nähe weist das Thema zu Dokumenten des Topics „Corona-Maßnahmen“ auf, dem acht Prozent der Dokumente angehören. Darin geht es vor allem um aktuelle Regeln, Gesetze und Verordnungen. Das zweithäufigste Topic im Datensatz ist „Bildung“ (13 Prozent der Dokumente). Dabei geht es beispielsweise um die Schließung von Schulen, Kitas und Kindergärten, um Homeschooling und Notbetreuung. 

An dritter Stelle steht „Würdigung“ (12 Prozent der Dokumente). Hierunter fallen – mit nur vereinzeltem Corona-Bezug – Ehrenamtsprojekte, Auszeichnungen, Feiertage oder Kondolenzbekundungen. Das Topic „Wirtschaft“ (11 Prozent) widmet sich einerseits den Corona-Soforthilfen in den Bereichen Wirtschaft, Sport und Kultur, andererseits wirtschaftlichen Aspekten der Arbeit der Landesregierungen. Es ist thematisch mit dem Topic „Zukunft“ (10 Prozent) verbunden. Hierbei liegt der Fokus nicht primär auf Corona, sondern eher allgemein auf Themen wie Forschung, Universitäten oder Klimaschutz. Das Topic „Presse“ (9 Prozent) richtet sich mit Ankündigungen etwa von Veranstaltungen an Medienschaffende. Beim Topic „Infektionszahlen“ geht es vor allem um Updates zum Infektionsgeschehen. 

Die Bundesländer setzen in ihrer Kommunikation unterschiedliche thematische Schwerpunkte. Beispielsweise ist „Solidarität“ in Rheinland-Pfalz (27 Prozent), Niedersachsen (24 Prozent), dem Saarland (22 Prozent) und in Baden-Württemberg (17 Prozent) das wichtigste Topic, den geringsten Anteil macht es mit sechs Prozent in Thüringen aus. Dort hingegen spielen „Infektionszahlen“ (42 Prozent) eine große Rolle. Für Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern ist „Bildung“ am wichtigsten. Bayerns Hauptthema hingegen ist „Presse“ (25 Prozent). Dies ist laut der Forscher*innen vermutlich auf die Rolle von Markus Söder bei den Bundestagswahlen zurückzuführen. Auch in Nordrhein-Westfalen ist das Topic präsent (16 Prozent), was entsprechend mit Armin Laschets Rolle zu tun haben mag. 

Unterschiede zeigen sich auch zwischen den Kommunikationskanälen. Topics wie „Wirtschaft“ oder „Zukunft“, die ausführlicherer Erklärungen bedürfen, kommen vor allem in Pressemitteilungen vor. Auch „Würdigung“ ist dort stark vertreten. Auf Facebook wird eine große Bandbreite an Themen kommuniziert, am stärksten solche mit Coronabezug. Auf Twitter hingegen machen tagesaktuelle und kurzlebige Topics mit dem Fokus auf Infektionszahlen zusammen rund 25 Prozent aller Tweets aus. In den Pressemitteilungen ist es lediglich ein Prozent, auf Facebook widmen sich 11 Prozent aller Posts dieser Art von Topics.

Die Topics unterliegen im zeitlichen Verlauf der Pandemie Schwankungen. „Solidarität“ bewegt sich im gesamten Untersuchungszeitraum auf einem hohen Niveau – mit Ausschlägen im März, April, Oktober und Dezember. Das weist darauf hin, dass besonders in Lockdown-Phasen an das Verantwortungsbewusstsein der Bevölkerung appelliert wurde. Manche Topics („Infektionszahlen“, „Wirtschaft“, „Bildung“) wurden auf verschiedenen Kanälen im Zeitverlauf ähnlich stark behandelt. Bei anderen zeigen sich deutliche Unterschiede. Das Topic „Zukunft“ etwa wird im Social-Media-Bereich während der ersten und zweiten Welle wenig stark aufgegriffen, in den Pressemitteilungen spielt es im März hingegen eine große Rolle. 

Schlussfolgerungen: Die Studie zeigt, dass die Landesregierungen spezifische Themen setzen und zum Teil Kommunikationskanäle unterschiedlich nutzen. Deutlich wird, dass sie auf das gesteigerte Informationsbedürfnis in der Krise reagieren. Besonders am Anfang der Pandemie spielte Corona eine herausragende Rolle in der Kommunikation. Dass das Thema im Verlauf des Untersuchungszeitraum an Gewicht verliert, werten die Forscher*innen als Reaktion auf die einsetzende „Corona-Müdigkeit“ der Bevölkerung. Die Bedeutsamkeit von Themen wie Solidarität und Bildung zeige, dass die Kommunikation auf die Breite der Bevölkerung ausgerichtet sei. Die Landesregierungen folgten damit Empfehlungen aus der Forschung, in denen die Würdigung von Mitarbeiter*innen im Gesundheitswesen, die Förderung der Selbstwirksamkeit der Bürger*innen sowie die Anerkennung von Ängsten und Sorgen als Zeichen gelungener Krisenkommunikation aufgefasst werden. 

Bemerkenswert sei, dass die Landesregierungen kaum auf Probleme oder möglicherweise falsche Entscheidungen einzugehen scheinen.
Dass die Länder bei der Kommunikationen von Maßnahmen und Infektionsgeschehen unterschiedliche Schwerpunkte setzen, erklären die Forscher*innen mit unterschiedlichen Herausforderungen in verschiedenen Regionen. Ein weiterer Grund für Unterschiede sei die bundespolitische Profilierung einzelner Landeschefs. Insgesamt heben die Forscher*innen hervor, dass neben der Pandemie auch andere Themen behandelt werden, also eine monothematische Kommunikation vermieden werde. 

Entgegen der Ergebnisse früherer Forschung offenbart sich Twitter in dieser Studie nicht als „Elitekanal“1 2 für die Kommunikation mit Journalist*innen, sondern wird wie Facebook für die allgemeine Kommunikation genutzt. Zwischen Pressemitteilungen und Social Media unterscheiden sich die Inhalte, zwischen Facebook und Twitter hingegen nicht. Das könne laut der Forscher*innen daran liegen, dass die Kommunikationsabteilungen bisher nicht hinreichend ausdifferenziert sein könnten.

Bemerkenswert sei, dass die Landesregierungen kaum auf Probleme oder möglicherweise falsche Entscheidungen einzugehen scheinen. Transparente Kommunikation aber werde in der Fachliteratur als förderlich für das wahrgenommene Verantwortungsbewusstsein und die Legitimation zukünftiger Pläne angesehen. Kaum eine Rolle spiele außerdem die internationale Pandemiesituation, obwohl diese in der Forschung als wichtiges Thema identifiziert wurde. 

Einschränkungen: Zwar wurden die Inhalte der Kommunikation der Landesregierungen untersucht, deren Einfluss müsste jedoch in weiterergehender Forschung analysiert werden. Die Forscher*innen verweisen darauf, dass die Anzahl der Follower*innen der Social-Media-Kanäle vieler Landesregierungen eher gering ist. Möglicherweise aber haben sie in der Pandemie an Einfluss gewonnen. 

Drerup, F., Birkner, T (2022) Themen & Timing. Die Krisenkommunikation der deutschen Landesregierungen in der Corona-Pandemie – eine (teil-)automatisierte Inhaltsanalyse zentraler Kommunikationskanäle. Medien & Kommunikationswissenschaft (M&K). https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/1615-634X-2022-3-256/themen-timing-die-krisenkommunikation-der-deutschen-landesregierungen-in-der-corona-pandemie-eine-teil-automatisierte-inhaltsanalyse-zentraler-kommunikationskanaele-jahrgang-70-2022-heft-3?page=1

Zusammenhang zwischen Herdenimmunität und Impfbereitschaft

Ein viel diskutiertes Thema in der Coronapandemie war vor allem zu Beginn die Frage, ob und wie Herdenimmunität erreicht werden kann. Dabei geht es darum, dass genügend Menschen Immunität erreichen, um die Ausbreitung der Krankheit zu stoppen. Immunisierte Personen können als Barriere zwischen Personen wirken, die sich anstecken und die Krankheit verbreiten können. Welche Rolle spielt dabei die Kommunikation verschiedener Schwellenwerte für die Impfbereitschaft der Bevölkerung? Das haben Per A. Andersson, Gustav Tinghög und Daniel Västfjäll von der Linkoping University an einer repräsentativen Stichprobe von umgeimpften Menschen in Schweden untersucht. 

Methode: Mithilfe eines Rekrutierungsunternehmens haben die Forscher*innen zwischen dem 18. und 27. Mai 2021 eine für Schweden repräsentative Stichprobe von umgeimpften Personen zwischen 18 bis 51 Jahren zusammengestellt. In dem Land wurden Impfungen zu diesem Zeitpunkt hauptsächlich Personen in Risikogruppen oder im Alter von mehr als 55 Jahren angeboten. Die Antworten von 1269 Personen wurden ausgewertet. 

Die Kommunikation verschiedener Schwellenwerte für die Herdenimmunität zeigte keinen direkten Einfluss auf die Impfbereitschaft.
Die Teilnehmer*innen wurden zufällig drei Gruppen zugeordnet. Der ersten wurde eine niedrigere Schwelle für Herdenimmunität (60 Prozent) und der zweiten eine höhere Schwelle (90 Prozent) kommuniziert. Beide Gruppen bekamen eine kurze Information der schwedischen Gesundheitsbehörde zur Herdenimmunität zu lesen. Ein GIF visualisierte zudem die Ausbreitung innerhalb einer Population mit geringer Immunität gegenüber einer Population mit hoher Immunität. Die Teilnehmer*innen der Kontrollgruppe bekamen keine Informationen zur Herdenimmunität.

Die Teilnehmer*innen aller drei Gruppen beantworteten Fragen unter anderem dazu, ob sie sich in der nächsten Woche impfen lassen würden, und ob sie bereit wären, sich alle sechs Monate impfen zu lassen. Außerdem sollten sie einschätzen, welcher Prozentsatz der Bevölkerung sich impfen lassen werde und wie wahrscheinlich es sei, dass der jeweilige Schwellenwert der Herdenimmunität erreicht werden würde. Es folgten weitere Fragen – unter anderem zu ihrer Einschätzung, wie viele der ihnen nahestehenden Personen sich impfen lassen würden. 

Ergebnisse: Die Kommunikation verschiedener Schwellenwerte für die Herdenimmunität zeigte keinen direkten Einfluss auf die Impfbereitschaft – weder auf die sofortige noch auf die halbjährliche. Die Teilnehmer*innen sahen es erwartungsgemäß als wesentlich wahrscheinlicher an, dass die Schwelle von 60 Prozent geimpfter Personen erreicht wird als die Schwelle von 90 Prozent. Was die Einschätzung angeht, wie viele nahestehende Personen sich impfen lassen werden, zeigten sich keine Unterschiede zwischen den Gruppen. Die erste Gruppe (Schwelle bei 60 Prozent) glaubte im Mittel, dass sich 71,6 Prozent der Bevölkerung impfen lassen werde, bei der zweiten Gruppe (Schwelle bei 90 Prozent) lag das Mittel bei 74,9 Prozent. Sowohl eine stärkere Überzeugung, dass der Schwellenwert für Herdenimmunität erreicht werden könne, als auch die Annahme, dass sich mehr Menschen impfen lassen, erhöhten die Impfbereitschaft. 

Die Forscher*innen fanden dabei scheinbar paradoxe Effekte: Bei einem hohen Schwellenwert glauben Menschen eher weniger, dass dieser erreicht wird. Dadurch verringert sich ihre eigene Impfbereitschaft. Gleichzeitig zeigte sich aber auch, dass bei einem hohen Schwellenwert Menschen eher davon ausgehen, dass sich auch mehr Menschen impfen lassen. Das wiederum wirke sich positiv auf die eigene Impfbereitschaft aus. 

Diese beiden indirekten Effekte wirken sich gegensätzlich auf die Impfbereitschaft aus und heben sich aufgrund ihrer vergleichbaren Größe im Gesamteffekt auf, schreiben die Forscher*innen. In Bezug auf die Bereitschaft, sich halbjährlich impfen zu lassen, findet sich ein identisches Muster.

Schlussfolgerungen: Die Ergebnisse zeigen, dass die Kommunikation derselben Zahlen unterschiedliche Auswirkungen haben kann. Bestimmte Personengruppen können von einem hohen Schwellenwert ermutigt werden, sich impfen zu lassen. Andere wiederum könnten sich dadurch entmutigen lassen, weil ein solcher Wert schwerer zu erreichen ist. In der Wissenschaftskommunikation muss folglich mitgedacht werden, dass dieselben Informationen teilweise gegensätzliche Reaktionen auslösen können. 

Der Kampf gegen Covid-19 sollte demnach vielleicht nicht als „Sprint zu einer bestimmten Schwelle“, sondern „als Dauerlauf“ kommuniziert werden.
Inzwischen hat sich gezeigt, dass die Covid-19-Impfstoffe keine vollständige Immunität bieten. Als die vorliegende Studie durchgeführt wurde, war das noch anders. Damals wurde ein nur sehr kleiner Teil von sogenannten Impfdurchbrüchen erwartet. Grundsätzlich hängt der Anteil der geimpften Personen, die notwendig ist, um Herdenimmunität zu erreichen, von verschiedenen Faktoren ab. Die Kommunikation von Spektren sei deshalb realistischer als konkrete Schwellenwerte, schreiben die Autor*innen. Da die Ergebnisse der Studie zeigen, dass die Kommunikation von konkreten Werten enorme Unterschiede machen kann, sei ein vorsichtiger Umgang mit solchen Zahlen ratsam. Die Autor*innen schreiben, es könne womöglich realistischer sein, den Begriff einer „schrittweisen Herdenimmunität“ zu verwenden. Der Kampf gegen Covid-19 sollte demnach vielleicht nicht als „Sprint zu einer bestimmten Schwelle“, sondern „als Dauerlauf“ kommuniziert werden. 

Einschränkungen: In der Studie haben die Teilnehmer*innen Informationen von der schwedischen Gesundheitsbehörde zur Herdenimmunität bekommen. Unklar ist jedoch, wie viel sie selbst zu dem Zeitpunkt schon über das Thema wussten und ob sie sich nicht schon eine Meinung gebildet hatten. Dadurch, dass nur Menschen unter 55 Jahren befragt wurden, kann die Studie zudem keine Aussagen darüber treffen, wie ältere Menschen antworten würden. 

Andersson, P. A., Tinghög, G., Västfjäll, D. (2022) The effect of herd immunity thresholds on willingness to vaccinate. Humanities & Social Sciences Communications. https://journals.sagepub.com/doi/full/10.1177/09636625221111900

Gespräche über Genom-Editierung bei Nutztieren

Techniken wie das CRISPR-Cas-System bieten neue Möglichkeiten, um DNA gezielt zu verändern. Genom-Editierung kann in verschiedenen Bereichen eingesetzt werden – unter anderem in der Viehzucht. So könnten hornlose Kühe, vogelgripperesistente Hühner oder Schweine gezüchtet werden, die gegen bestimmte Viren immun sind. Die neuen Techniken werfen auch ethische Fragen zum gesellschaftlichen Umgang mit Tieren auf. Wie steht die Öffentlichkeit zur Genom-Editierung in der Viehzucht? Das haben Senna Middelveld und Franck Meijboom von der Utrecht University mit Phil Macnaghten von der Wageningen University & Research am Beispiel der Niederlande untersucht. 

Methode: Die Forscher*innen stützen sich auf das Konzept des antizipativen öffentlichen Engagements (anticipatory public engagement). Dessen Ziel ist, die Öffentlichkeit in einem frühen Stadium wissenschaftlicher und technologischer Entwicklungen einzubeziehen, wenn die Problemdefinitionen, Bedenken und Positionen noch ausgehandelt werden. 

Die Teilnehmer*innen sahen in den Techniken der Genom-Editierung ein Streben nach Perfektion, dessen Folgen nicht abzuschätzen seien.
Um über Genom-Editierung zu diskutieren, bildeten die Forscher*innen fünf Gruppen von je acht Personen aus den Niederlanden, die von einem Rekrutierungsunternehmen ausgewählt wurden. Die Teilnehmer*innen repräsentierten prototypische Segmente der niederländischen Gesellschaft, darunter Fachleute aus dem öffentlichen Sektor, Landbewohner*innen, Gesundheits- und Wellnessbegeisterte, junge Eltern und Vertreter*innen des privaten Sektors. Expert*innen im Bereich der Genom-Editierung waren nicht Teil der Gruppen. Der*die Moderator*in gab Informationen dazu, wie das Thema von Industrie, Regierung, Nichtregierungsorganisationen und Wissenschaftler*innen diskutiert wird. Dieser Input sollte die Gruppen dabei unterstützen, ihre eigenen Problemdefinitionen und Interpretationen zu entwickeln. Gespräche über Beziehungen zu Haustieren oder anderen Tieren wurden genutzt, um einen Einstieg zu finden. Die etwa zweieinhalbstündigen Gespräche wurden transkribiert und mit einem narrativen Ansatz untersucht. Es wurden Geschichten und Erzählungen herausgearbeitet, die die Teilnehmer*innen verwendeten, um die Probleme der neuen Technologie zu verstehen. 

Ergebnisse: Die Untersuchung zeigt, dass sich Menschen auf unterschiedliche Erzählungen stützen, um Genom-Editierung von Nutztieren zu diskutieren. Darunter finden sich laut der Forscher*innen Narrative, die ihren Ursprung in antiken Klassikern sowie der Philosophie haben und durch Filme, Science-Fiction oder Videospiele auch in der heutigen Zeit bekannt sind – darunter etwa das Bild vom Trojanischen Pferd. Die Forscher*innen identifizierten vier Komplexe von Bedenken, die die Teilnehmer*innen äußerten: der Zweck der Technologie, die gerechte Verteilung von Vorteilen, Unsicherheit und Risiken sowie Governance. Außerdem arbeiteten die Forscher*innen fünf Narrative heraus, die die Teilnehmer*innen nutzten, um ihre Bedenken zu äußern.

  1. Als Technological fix (Reparatur durch Technik) bezeichnen die Forscher*innen ein modernes Narrativ, das besagt: Versuche, auf gesellschaftliche Probleme mit technischen Mitteln zu reagieren, rufen neue Probleme hervor. Die Teilnehmer*innen äußerten Zweifel, ob Genom-Editierung die richtige Lösung für das richtige Problem sei. Denn es adressiere keine grundlegenden Probleme wie den Konsum von tierischen Produkten in einer wachsenden Weltbevölkerung, den Klimawandel oder den Verlust biologischer Vielfalt.
  2. Das Narrativ der Marktregeln: Die Teilnehmer*innen argumentierten, dass die Logik des Marktes dazu führen werde, dass nur Reiche und Privilegierte von der neuen Technik profitieren und nicht die gesamte Gesellschaft oder ärmere Länder. 
  3. Die Teilnehmer*innen sahen in den Techniken der Genom-Editierung ein Streben nach Perfektion, dessen Folgen nicht abzuschätzen seien. In einer Welt, in der Menschen die Natur beherrschen und perfekte Tiere herstellen wollen, werde Vielfalt nicht mehr als Wert geschätzt. Das Streben nach Perfektion assoziierten Teilnehmer*innen auch mit der gewalttätigen Geschichte der Eugenik. 
  4. Mit dem goldenen Mittelweg thematisierten die Teilnehmer*innen Bedingungen, zu denen die Technologie verantwortungsvoll weiterentwickelt werden könnte. Dieses Narrativ entspringe laut der Forscher*innen aus der Spannung zwischen dem Wunsch, die Natur zu beherrschen (in der Antike als Laser der Hybris beschrieben) und der Demut gegenüber der Natur. Die Teilnehmer*innen plädierten für einen moderaten und vorsichtigen Weg, der die Grenzen des Menschen und der Technik anerkennt. Wenn zum Beispiel hornlose Kühe auch ohne genetische Eingriffe gezüchtet werden könnten, sollte dem herkömmlichen Weg der Vorzug gegeben werden, argumentierte eine Gruppe. 
  5. Mit dem Narrativ Governance through care (Regieren durch Fürsorge) sprachen sich die Teilnehmer*innen für eine verantwortungsvolle Entwicklung der Technik aus, die die Fähigkeit benötige, eine Situation einzuschätzen und den besten Weg zu wählen (Phronesis: Klugheit/praktische Weisheit). Die Teilnehmer*innen sprachen sich dabei für die Einbeziehung unabhängiger Expert*innen aus. Alle Gruppen waren sich einig, dass die Industrie – beispielsweise Pharma- oder Züchtungsunternehmen – nicht mitentscheiden sollten. Sie drückten außerdem ihr Vertrauen in den niederländischen Staat aus, eine solche Technologie verantwortungsvoll zu handhaben.

Schlussfolgerungen: Die Ergebnisse zeigen, dass die Teilnehmer*innen Ziele und Motivation der technischen Innovation hinterfragten. Sie vermuteten, dass die neuen Möglichkeiten auch neue Probleme hervorriefen und dass Ungleichheiten innerhalb und zwischen Gesellschaften verstärkt werden könnten. Das deutet laut der Forscher*innen auf eine Ablehnung der Erzählung hin, dass technische Errungenschaften sozialen Fortschritt garantierten. Dieses Ergebnis bewerten die Forscher*innen als überraschend – genauso wie das große Vertrauen in den niederländischen Staat und die Parallelen vom „Streben nach Perfektion“ zur Eugenik. 

Nicht zuletzt zeigen die Ergebnisse auch, wie wichtig der Öffentlichkeit moralische Abwägungen und die Auswirkungen auf den Planeten sind.
Als zentral in den Diskussionen erwies sich die Forderung nach einer abwägenden Politik mit klarer moralistischer Haltung, die bewusst, kritisch und verantwortungsvoll mit neuen Technologien umgeht und auch Aspekte der gesellschaftlichen und globalen Gerechtigkeit im Blick behält. Für Politik und Wissenschaftskommunikation zeigt sich, wie erkenntnisbringend es sein kann, die Öffentlichkeit früh in Debatten einzubeziehen und mögliche Bedenken, Befürchtungen und Bedingungen für die Weiterentwicklung von Technologien zu erörtern. Nicht zuletzt zeigen die Ergebnisse auch, wie wichtig der Öffentlichkeit moralische Abwägungen und die Auswirkungen auf den Planeten sind. 

Einschränkungen: Die Diskussionsgruppen waren zwar mit Teilnehmer*innen aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen besetzt, sind jedoch nicht repräsentativ für die niederländische Bevölkerung.

Middelveld, S., Macnaghten, P., Meijboom, F. (2022) Imagined futures for livestock gene editing: Public engagement in the Netherlands. Public Understanding of Science. https://journals.sagepub.com/doi/full/10.1177/09636625221111900

Mehr Aktuelles aus der Forschung

Welche Rolle spielen die Science Media Center in der Pandemie? Ausgehend von einer etnografischen Forschung im Januar und Oktober 2020 untersuchen Irene Broer und Louisa Pröschel vom Hans-Bredow-Institut, welche Praktiken, kommunikativen Beziehungen, Ziele und normativen Annahmen die Stellung des Science Media Center Germany in der Wissenschaftskommunikationslandschaft prägen. Die Forscherinnen arbeiten heraus, dass das SMC Deutschland während der Pandemie zum Wissens-, Vertrauens-, und Wertevermittler geworden ist.

Wovon hängt es ab, ob Menschen Covid-19-Tracing-Apps auf ihr Handy laden? Das hat ein Forschungsteam um Frans Folkvord von der niederländischen Tilburg University und der spanischen Forschungs- und Beratungsfirma Open Evidence Research in Barcelona in einer Pilotstudie untersucht. Die Forscher*innen führten eine Online-Umfrage in den Niederlanden und in der Türkei durch. Dabei zeigte sich: Wird der Datenschutz gewahrt, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die Befragten eine solche App nutzen würden.

Welche Forschungsergebnisse werden in der Öffentlichkeit als plausibel erachtet? Elizaveta P. Sheremet und Inna F. Deviatko von der National Research University Higher School of Economics in Moskau haben zwei Umfragen unter Studierendendurchgeführt. Es zeigte sich unter anderem, dass die Befragten soziologische und kriminologische Forschungsergebnisse im Vergleich zu neurowissenschaftlicher und physiologischer Forschung als weniger plausibel wahrgenommen haben. Das Prestige der jeweiligen Forschungsinstitution und die Höhe der Gelder, die in die Forschung geflossen sind, zeigten hingegen keinen Effekt darauf, wie plausibel die Ergebnisse wahrgenommen wurden.

Wie können komplexe und sensible Gesundheitsthemen übers Radio vermittelt werden? Scott B. Greeves und Rhesa N. Ledbetter von der Idaho State University in den USA diskutieren diese Frage anhand von Erfahrungen mit einer Radioserie über psychische Gesundheit namens MindTap. Die Autor*innen schlagen vor, dass man sich Themen wie psychische Gesundheit am besten mit dem dialogischem Wissenschaftskommunikationsmodell nähern sollte, in dem neben Expert*innenwissen auch Erfahrungswissen von Nicht-Expert*innen Wertschätzung erfährt. Ein weiterer Ratschlag ist, Möglichkeiten zur Kontaktaufnahme und Mitwirkung von Zuhörer*innen zu schaffen.

Wissenschaftskommunikation scheint für Frauen ein attraktives Arbeitsfeld zu sein. Warum das so sein könnte, untersuchen Clare Wilkinson, Elena Milani, Andy Ridgway und Emma Weitkamp von der University of the West of England. Anhand von Daten aus einer Umfrage unter 459 Wissenschaftskommunikator*innen in Italien, den Niederlanden, Polen, Portugal, Serbien, Schweden und dem Vereinigten Königreich fragen sie nach Arbeitspraktiken, Motivationen und Kommunikationsbarrieren. Es zeigte sich, dass in dieser Stichprobe Männer tendenziell eher Universitätsdozenten, Professoren, Blogger, YouTuber oder Social-Media-Influencer waren und weibliche Befragte häufiger Rollen innehatten, die vermitteln und anderen Menschen bei der Kommunikation helfen.

Das europäische Wissenschaftskommunikationsprojekt RETHINK bringt wissenschaftliche und praktische Expertise zusammen, um dazu beizutragen, die Landschaft der europäischen Wissenschaftskommunikation offener, inklusiver und reflexiver zu machen. Elizabeth Rasekoala, Präsidentin von African Gong – the Pan-African Network for the Popularisation of Science & Technology, and Science Communication, überträgt in einem Kommentar für das Journal of Science Communication Ergebnisse des Projekts auf den afrikanischen Kontext. Es sei dabei wichtig, nützliche Empfehlungen aus RETHINK innerhalb der spezifischen Realitäten im globalen Süden neu zu denken und zu hinterfragen, um nicht in die Falle des Eurozentrismus zu tappen. Die Autorin plädiert für eine afrozentristische Herangehensweise und die Dekolonisierung von Praktiken und Programmen der Wissenschaftskommunikation.