Foto: Stefan Schwabe

Einblicke ins Wunschlabor

Welche Vorstellungen haben Menschen in Deutschland von der Welt von morgen? In ihrem Gastbeitrag berichten Jannis Hülsen und Angelika Trübswetter von ihrem Projekt „Wünsche an Morgen“, mit dem sie gezielt Personen angesprochen haben, die auf dem Land leben oder wenig Zugang zu wissenschaftlichen und politischen Diskursen haben.

Wie entstehen Orte für Austausch?

Es ist Juli. Wir begrüßen die Teilnehmenden unseres Wunschlabors in Ilmtal-Weinstraße. Drei Tische stehen auf einer Grünfläche vor dem Gemeindehaus, in dem der Gemeinderat gerade die letzte Sitzung vor der Sommerpause abgehalten hat. Die Gemeinderatsmitglieder sitzen bereits früher als erwartet in zwei Gruppen an Tischen und diskutieren bereits angeregt über die Wünsche der Besucher*innen des Aktionstages. Langsam kommen immer mehr Teilnehmende zusammen, die über die Lokalzeitung und andere Kanäle von der Veranstaltung erfahren haben. Ein Mann mit einem Klemmbrett und einem Notizzettel, der uns noch vom Sommerfest bekannt ist, erklärt uns, dass er gekommen sei, um Antworten zu bekommen. Uns schlägt eine Mischung aus Neugierde und Skepsis entgegen. 

Die Moderation des Workshops wird herausfordernd und intensiv. Nicht alle Teilnehmenden schaffen wir von unseren Methoden zu überzeugen. Die Diskussionen sind deutlich emotionaler, als wir es aus anderen Workshops gewohnt sind.

Stand beim Aktionstag Flohmarkt/Heide. Foto: Stefan Schwabe

Das Wunschlabor im Ilmtal war Teil unseres Projektes Wünsche an Morgen, das in Zusammenarbeit der Youse GmbH und Matter and Meta bearbeitet wurde. In dem Projekt wollten wir ausgehend von Wünschen, mit Menschen aus ländlichen Regionen bedeutende Zukunftsthemen diskutieren. Unser Anliegen war es, ihnen zuzuhören, ihre Bedürfnisse zu verstehen und mit ihnen gemeinsam Werkzeuge zu entwickeln, damit sie so Einfluss auf die Gestaltung ihrer Zukunft nehmen können. 

Wir fragten wir uns/damit einher ging die Frage, wie man Bürger*innen, Wissenschaftler*innen und Politiker*innen zu einem Diskurs motiviert, wenn alle drei Gruppen ganz unterschiedliches Vorwissen und Motivationen mitbringen? Vor allem wollten wir sowohl Menschen aus ländlichen Regionen als auch Personen, die nur wenig Zugang zu wissenschaftlichen und politischen Diskursen haben, einbeziehen. Beide Gruppen sehen wir in der politischen Landschaft unterrepräsentiert. Wir wollten den Menschen vor Ort einen Mehrwert bieten und nicht nur „Daten abgreifen”. An welchen Orten ist also ein Austausch unabhängig von Wissen und sozialem Status möglich und welche Rahmenbedingungen sind dafür notwendig?

Unser Projekt Wünsche an Morgen bot uns die Möglichkeit, diese Fragen im Zusammenhang mit dem Wissenschaftsjahr 2022 “Nachgefragt!” zu bearbeiten. Wir nutzten dafür Netzwerke aus vorangegangenen Projekten, um Teilnehmer*innen zu erreichen. Neben der Entwicklung von Fragen für das Wissenschaftsjahres entstanden eine Reihe von themenspezifischen Wunschlandkarten, die dem Bundesministerium für Bildung und Forschung und den lokalen Partnern übergeben wurden. Diese Landkarten zeigen, was die Menschen mit Blick auf die Zukunft in ländlichen Räumen bewegt.

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Am Anfang 

Wir entschieden uns während unseres Vorlaufprojektes Jetzt Neu, den Wunsch als zentralen Einstieg und Anker zu nutzen. In einem Supermarkt nahe Jena sammelten wir im Februar 2021, inmitten der Pandemie, an unbetreuten Stationen Wünsche ein. Die Wünsche wurden von Teilnehmenden auf Wunschzetteln notiert, die dann eingeworfen oder sichtbar an den Stand gehängt wurden. Im Anschluss entwickelten wir im Projektteam auf dieser Basis systematisch Fragen in Bezug zu wissenschaftlichen Themen. Diese Methode entwickelten wir für Wünsche an Morgen weiter.

Wir nutzten weiterhin Orte und Veranstaltungen lokaler Partner, an denen sich viele unterschiedliche Menschen, ähnlich wie im Supermarkt, aufhielten. Um den Diskurs vor Ort zu verstetigen, erweiterten wir unser Format um einen dreistündigen Workshop, in dem wir gemeinsam mit ortsansässigen Akteuren Fragen entwickelten.

Für die Kommunikation entwickelten wir ein Expeditionsnarrativ: Wir wollten Menschen einladen, ihre gewohnte Umgebung mit anderen Augen zu sehen und sie zur Formulierung von Wünschen inspirieren. Dafür nutzten wir einen einfach zu montierenden Stand mit bewusst improvisierter Anmutung.

Entdeckerwerkzeuge im Einsatz. Foto: Stefan Schwabe

Ein Wunsch 

Zunächst ist die Frage nach einem Wunsch ein niederschwelliger Einstieg in ein Gespräch. Jeder Mensch hat Wünsche für sich selbst oder für seine Mitmenschen. Zudem wird ein Raum geöffnet, individuelle Annahmen zu artikulieren und zu reflektieren. Wünsche tragen sehr persönliche Bedürfnisse, Vorstellungen und Wahrheiten mit  hohem Lebensweltbezug in sich. Dabei können sie sowohl konkret oder abstrakt sein, als auch individuelle Bedürfnisse oder Hoffnungen für andere zum Ausdruck bringen.

Ein Wunsch trägt darüber hinaus Elemente des Phantastischen, Märchenhaften und Utopischen in sich. Dadurch entzieht er sich pragmatischer Kritik und öffnet neue Denkräume – es ist schließlich legitim, sich auch etwas Unrealistisches zu wünschen. So ermöglicht der Wunsch einen spielerischen und unverkrampften Einstieg, um über Zukunftsvorstellungen nachzudenken und zu sprechen. Gleichzeitig sind Wünsche positiv besetzt und eignen sich gut als konstruktive Anregung, über persönliche Zukünfte nachzudenken.

Ausgehend von unserer Absicht, für die Workshops Themencluster aus den Wünschen abzuleiten (z.B. Gesundheit, Mobilität, Klima), stellten wir weitere Vorzüge fest. Zunächst brachte die Frage nach einem Wunsch an den Aktionstagen häufig Gespräche in Gang, bei denen nach einem gemeinsamen Nenner gesucht wurde. Darüber hinaus nahmen wir ein hohes Interesse an den Wünschen anderer wahr. Insofern erfüllten die Wünsche auch eine gemeinschaftsstiftende Funktion.

“Richtig toll war diese Atmosphäre und Freude, die wir dabei hatten, zu sagen, da ist was, was uns verbindet: die Vorstellung, dass man was bewegen kann, dass man in die gleiche Richtung unterwegs ist. Das wurde an diesem Abend wiederbelebt. Und das war ein richtig tolles Gefühl.” 

(Teilnehmende*r aus einem Wunschlabor)

Viele Fragen 

Eine gute Frage zu formulieren, ist nicht einfach. Sie bildet aber nicht nur in der Wissenschaft als Forschungsfrage das Fundament von Vorhaben, sondern bestimmt auch die Perspektive, von der aus Herausforderungen begriffen und angegangen werden.

In unserem Projekt entwickelten wir Methoden, um Fragen systematisch zu erarbeiten und zu schärfen. Dafür nutzten wir einen morphologischen Kasten.

Im Gegensatz zu der auf Konsens abzielenden Diskursdynamik, die bei der Suche nach Lösungen entsteht, erlebten wir die Diskussionen über Fragen als öffnend. Das Phänomen, andere Gesprächsteilnehmende von der eigenen Meinung zu überzeugen oder einfach nur die eigene Unzufriedenheit zu äußern, konnte durch den Fokus auf die Frage oftmals in eine konstruktive Dynamik überführt werden.

Ausgehend von unterschiedlichen Forschungsthemen, um die Wissenschaft zu adressieren, veränderte sich im Verlauf der Workshops der Inhalt unseres Kastens hin zu einer Inspirationsmatrix. Wir verstanden die Frage zunehmend als Zwischenschritt, um daraus Zielstellungen zu formulieren und anschließend Aufforderungen zum Handeln abzuleiten. 

Morphologischer Kasten mit Wissenschaftsmatrix und Beispielfragen zum Thema Haushalt aus einem Semesterprojekt (WS 2021/22 FH Potsdam). Quelle: Wünsche für Morgen

Wünsche an Morgen

Im eingangs beschriebenen Workshop in Ilmtal-Weinstraße stellten wir fest, dass einige Teilnehmende mit Erwartungen einer Umsetzung von Wünschen kamen, die wir nicht erfüllen konnten. Trotz der Skepsis einiger Teilnehmenden äußerte eine große Mehrheit auch bei anderen Workshops, dass ihnen die Teilnahme persönlich einen Mehrwert bescherte und dass sie den Austausch wieder suchen würden. Vor allem der große Zulauf der Wünsche an den Aktionstagen zeigt, dass der Bedarf an niedrigschwelligen Gelegenheiten für gegenseitigen Austausch groß ist.

Im Verlauf des Projektes stellten wir uns mehrfach die Frage, wie wir gewährleisten, dass die erarbeiteten Ergebnisse Beachtung finden und einen für die Teilnehmenden spürbaren Effekt entfalten? Dieser Punkt ist aus unserer Sicht zentral, um Vertrauen und Glaubwürdigkeit zu vermitteln und Menschen von einer Teilnahme an Partizipationsformaten zu überzeugen.

Um Orte des Austausches zu schaffen und einer gesellschaftlichen Spaltung entgegenzuwirken, braucht es sicherlich mehr als eine Methode oder Wünsche. Dauerhaftes Engagement in Gemeinschaften vor allem, glaubhaftes gegenseitiges Interesse und Zeit füreinander sind Schlüsselfaktoren für einen fruchtbaren Austausch.

Es braucht einen Transfer von Ideen und Erkenntnissen aus diesen Diskursen heraus – sowohl für Lokalpolitiker*innen, um Ergebnisse partizipativer Prozesse einbinden zu können, als auch für bundespolitische Entscheidungsträger – um wirkungsvolle Förderlinien aufsetzen zu können. Das Interesse der beteiligten Politiker*innen, die Berichterstattung der Lokalpresse und das Engagement unserer Partner*innen zeigt, dass ein Bedarf an Veranstaltungen dieser Art besteht. Vor allem wollten wir ein Diskursfenster öffnen, das wechselseitigen Austausch dauerhaft ermöglicht. Der persönliche Wunsch kann dabei ein erster Schritt eines langen Weges sein.

“Die Begegnung mit den anderen Bürger:innen und euer Einsatz war sehr intensiv. Wir hatten dadurch besser die Chance uns zu vernetzen. Sowas sollte es öfter geben, aber dann mit einer ganz klaren anschließenden Finanzierung, beispielsweise von der Landesregierung. Und zu wissen, das kommt dann ins regionale Parlament und die Wünsche bekommen dann eine ganz andere politische Bedeutung, dann wäre das schon was. Denn man redet ja ungern ins Leere und geht danach heim und denkt naja. Das ist ja dann mehr als deprimierend.” 

(Teilnehmer:in eines Wunschlabors)


Projektsteckbrief

Das Projekt „Wünsche an Morgen“ begab sich im Frühjahr und Sommer 2022 mit einer Roadshow in fünf Regionen im ländlichen Raum Deutschlands mit Bürger*innen auf die Suche nach Wünschen und Ideen für die Zukunft. Dazu gab es in jeder Region einen Aktionstag und einen darauf folgenden Wunschlabor-Workshop. Aus den Wünschen wurden einerseits lokale Perspektiven im Zusammenhang mit den gesammelten Wünschen, Fragen und Handlungsperspektiven entwickelt. Andererseits sollen die Wünsche dem Bundesministerium für Bildung und Forschung vermitteln, was die Menschen mit Blick auf die Zukunft in ländlichen Räumen bewegt. Eine Publikation zum Projekt und Wunschlandkarten sind auf der Projektwebseite zu finden.

Zielgruppe: Bürger*innen aus dem ländlichen Raum und Menschen ohne oder mit vermindertem Zugang zu wissenschaftlichen und politischen Diskursen.

Team: Matter+Meta (Stefan Schwabe, Jannis Hülsen), Youse GmbH (Dr. Angelika Trübswetter, Jantje Meinzer, Elise Werner, Sophie Schwartz)

Träger/Budget: Das Projekt wurde im Rahmen des „Wissenschaftsjahres 2022 – Nachgefragt!“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung mit einem Gesamtvolumen von 194.000 Euro  gefördert.

Daten zur Zielerreichung: Im Vorgängerprojekt Jetzt Neu hat das Projektteam in zwei Wochen in einem Globus Supermarkt 180 Wünsche zu vier Themenfeldern eingesammelt (64 Prozent Frauen, 36 Prozent Männer, 43 Prozent ländlich, 18-79 Jahre,  20% eher wissenschaftsfern). Im Wintersemester 2021/2022 testete das Team die Methode in einem Semesterprojekt der FH Potsdam im Fachbereich Design. Es entstanden Aktionsstände zu fünf Themen an fünf verschiedenen Orten. Aus den Wünschen wurden 120 Fragen entwickelt, die beim Ideenlauf des Wissenschaftsjahres eingereicht wurden.

Im Projekt Wünsche an Morgen (WuM) sammelte das Projektteam an fünf Aktionstagen insgesamt 755 Wünsche ein und an vier Workshops (Wunschlaboren) nahmen insgesamt 42 Bürger*innen teil.