Grafik: acatech

„Die Verantwortung für Digital Health Literacy wird immer bei anderen gesehen“

Das neue Technikradar der Deutschen Akademie für Technikwissenschaften (acatech) gibt einen Überblick über Stakeholderperspektiven auf die Zukunft der Gesundheit. Projektleiter Ortwin Renn spricht im Interview über die wichtigsten Themen, den Einfluss von Corona und den Bedarf an Digital-Health-Literacy-Initiativen.

Herr Renn, das Technikradar erhebt eigentlich jedes Jahr, was die Deutschen über Technik denken. In diesem Jahr ist es anders: Es geht um Stakeholderperspektiven zum Thema „Zukunft der Gesundheit“. Warum?

Beim Thema Medizin beziehungsweise Medizintechnik hatten wir den Eindruck, dass die Stakeholder, also die Interessengruppen, einen sehr großen Einfluss auf die Debatte haben, sich aber auch schon sehr detailliert mit vielen Fragen auseinandersetzen. Darum haben wir uns für diese Variante entschieden. Wir haben mit unterschiedlichen Gruppen lange Interviews geführt, die wir nun im Technikradar ausgewertet haben. Dazu gehören Ärzt*innen, Vertreter*innen von Krankenkassen, Patient*inennverbänden, Pharmaunternehmen oder der Gesundheitsverwaltung. Hier haben wir sehr differenzierte und auch reflektierte Perspektiven auf diesen Bereich einholen können und es werden sehr viele Facetten des Diskurses angesprochen.

Die Themenwahl liegt in diesem Jahr auf den ersten Blick sehr nahe. Wie viel Corona steckt in diesem Technikradar und welche anderen Gesundheitsthemen werden angesprochen?

Ortwin Renn ist wissenschaftlicher Direktor am Institut für Transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS) in Potsdam und Mitglied im Präsidium der Deutschen Akademie für Technikwissenschaften (acatech). Dort leitet er die Projektgruppe des Technikradars. Foto: Lotte Ostermann

Corona spielt natürlich eine große Rolle. Gerade die Debatten um Apps und Datenschutz bei Gesundheitsdaten wären ohne die Pandemie sicher nicht so präsent gewesen. Die Konzeption dieses Schwerpunktes war aber schon angestoßen, bevor Corona ein Thema wurde. Themen wie die elektronische Gesundheitsakte, Fragen zur digital gestützten Diagnostik, der Einsatz von Künstlicher Intelligenz bei Diagnostik und Therapie und auch der Datenschutz sind erst mal Corona-unabhängig. Da die Befragung aber in Coronazeiten stattgefunden hat, spielte die Pandemie in allen Gesprächen eine Rolle.

Wie hat Corona die Ergebnisse dann beeinflusst?

Auf die Positionen der Stakeholder hatte die Pandemie tatsächlich recht wenig Einfluss. Diese haben sie ja über Jahre hinweg entwickelt. Aus anderen Erhebungen von acatech und auch anderen Institutionen wissen wir aber, dass die Bevölkerung der Digitalisierung insgesamt etwas positiver gegenübersteht als vor einigen Jahren. Das spielt natürlich auch für die Debatte über die Digitalisierung des Gesundheitswesens eine wichtige Rolle.

Was sind denn die Knackpunkte bei technischen Entwicklungen im Gesundheitsbereich?

Das Technikradar 2021 ist am 15. Juni erschienen und enthält Stakeholderperspektiven zum Thema „Zukunft der Gesundheit“. Grafik: acatech

Zunächst zeigt das Technikradar ein Spannungsverhältnis zwischen Datensouveränität und Datensolidarität. Ersteres bedeutet, dass die Daten grundsätzlich den Patient*innen gehören und sie selbst bestimmen dürfen, was damit passiert. Gleichzeitig haben wir als Gesellschaft viel davon, wenn diese Daten in analysierter Form, beispielsweise für die öffentliche Gesundheitsvorsorge, bereitgestellt werden, etwa in Krebsregistern. Dieser solidarische Nutzen von Gesundheitsdaten ist durch Corona noch mal deutlicher geworden. Dieses Gegensatzpaar zieht sich durch alle Interviews mit allen Stakeholdergruppen. Die Patient*innenverbände haben dabei etwas mehr die Souveränität betont, während Organisationen wie Pharmaunternehmen, Gesundheitsverwaltung, Krankenkassen und zum Teil auch Ärzt*innen eher den Solidaritätsaspekt unterstrichen haben. Eine wichtige Botschaft ist hier aber: Es gibt weder eine fundamentale Opposition noch eine euphorische Zustimmung zu einer der beiden Seiten, sondern alle sehen den Zielkonflikt.

Welche weiteren wichtige Ergebnisse gibt es?

Das zweite wichtige Ergebnis dreht sich um den Beitrag der digitalen Technologie zur Qualität der Gesundheitsfürsorge. Die Frage ist: Verbessert sie wirklich die Diagnostik und die Therapie? Oder ist es nur eine Möglichkeit, um Geld zu sparen und Zeit zu gewinnen? Auch hier gibt es ein Spannungsverhältnis. Das Potenzial ist sicherlich da, mithilfe von Technologien und Künstlicher Intelligenz körperliche und gesundheitsrelevante Phänomene und Vorgänge zu erfassen, die man sonst vielleicht übersehen oder den richtigen Zeitpunkt zur Intervention verpasst hätte. Ein Beispiel dafür sind Sensoren, die frühzeitig Erschöpfungsmuster erkennen. Es gibt aber auch eine große Sorge, dass diese Sensoren etwa fehlerhafte Daten hervorbringen könnten. Hier geht es also vor allem um die Qualitätssicherung und darum auszuloten, wo die Grenze der Zuverlässigkeit ist und wann Ärzt*innen letztlich die bessere Diagnose stellen als eine Künstliche Intelligenz. Diese Daten, die da erfasst werden, haben ja vor allem einen Interpretationswert. Am Ende muss aber eine Entscheidung über eine Behandlung getroffen werden – und an dieser Stelle kommen wir schnell zu der Frage, wer am Ende verantwortlich ist, wenn eine Diagnose gestellt werden muss. Hier war vor allem bei den Ärzt*innen eine gewisse Skepsis gegenüber der KI vorhanden, mehr als in allen anderen Gruppen.

Was sagt die Bevölkerung zu alldem? Gibt es Pläne, über die Impulse aus dem Technikradar ins Gespräch zu kommen?

Das nächste Technikradar wird wieder aus einer großen quantitativen Befragung bestehen und da wollen wir auch einige der Themen aus der diesjährigen Ausgabe wieder aufgreifen. Außerdem wollen wir bei acatech zu den Ergebnissen der aktuellen Ausgabe durchaus ins Gespräch mit Bürger*innen kommen – vor allem zu den spannungsgeladenen Themen.

Welche Rolle werden diese Spannungen, etwa zwischen Datensouveränität und -solidarität, in konkrete Behandlungssituationen spielen?

„Es ist schon merkwürdig, dass die Menschen weniger skeptisch sind, wenn ein Konzern Gesundheitsdaten sammelt, als wenn Institutionen oder Behörden das tun.“ Ortwin Renn
Das wird vor allem bei der elektronischen Gesundheitsakte ein Thema werden. Die müssen die Krankenkassen ihren Mitgliedern seit diesem Jahr anbieten und damit müssen Patient*innen auch umgehen können. Da sind die Kernfragen: Wie viele Informationen sollen da rein? Und wer soll das lesen können? Es gibt einen breiten Fächer an Antworten. Da müssen dann auch die Patient*innen selbst mitentscheiden, welche Daten sie weitergeben und welche nicht. Dabei gibt es durchaus gewisse Diskrepanzen. Dass zum Beispiel Google bereits heute viele Gesundheitsdaten sammelt – etwa über Suchprofile – hat sehr viel weniger Debatten ausgelöst, als beispielsweise die Apps, die zum Infektionsschutz eingeführt wurden wie die Corona-Warn-App. Diese Diskrepanz hätte beispielsweise mit einer besseren Digital Health Literacy gelöst werden können. Es ist schon merkwürdig, dass die Menschen weniger skeptisch sind, wenn ein Konzern Gesundheitsdaten sammelt, als wenn Institutionen oder Behörden das tun.

Wer ist in dem Zusammenhang für die Digital Health Literacy der Bevölkerung verantwortlich – also die Vermittlung von Wissen über Digitalisierung und Gesundheitsthemen?

„Die Verantwortung für Digital Health Literacy wird immer bei anderen gesehen. Aber alle sagen, dass es eine bessere Literacy braucht. Hier gibt es also noch Gesprächsbedarf.“ Ortwin Renn
Hier sind wir auf ein interessantes Phänomen gestoßen, das es in vielen Stakeholderbefragungen gibt: Es werden immer die anderen Gruppen in der Verantwortung gesehen. Die Ärzt*innen sagen, sie haben keine Zeit, das müssen die Krankenkassen machen. Diese und auch Unternehmen und Behörden sagen: Wir machen ein bisschen Öffentlichkeitsarbeit, aber wir haben ja gar keinen direkten Kontakt zu den Menschen. Alle gemeinsam sagen, dass die Schulen hier mehr tun müssten. So wird die Verantwortung von einem zum anderen geschickt und das ist natürlich etwas unbefriedigend. Kurz: Die Verantwortung für Digital Health Literacy wird immer bei anderen gesehen. Aber alle sagen, dass es eine bessere Literacy braucht. Hier gibt es also noch Gesprächsbedarf.

Welche Debatten braucht es nun, um die Themen des aktuelle Technikradars weiterzuentwickeln?

Eine große Frage ist, wie man Daten mit Gesundheitsbezug gut voneinander trennen kann. Auf der einen Seite werden Datensätze für gesellschaftliche Betrachtungen benötigt, also zum Beispiel wie sich das Risiko, an einer bestimmten Krankheit zu leiden, auf verschiedene Bevölkerungsgruppen oder in unterschiedlichen Regionen verteilt und was die Ursachen dafür sind. Diese Informationen können komplett anonymisiert gespeichert und genutzt werden. Nach solchen anonymisierten Daten herrscht eine große Nachfrage und die Nutzung ist relativ unkritisch. Auf der anderen Seite braucht man Daten, bei denen man auch auf Einzelpersonen Rückschlüsse ziehen kann. Die sind in Bezug auf den Datenschutz natürlich viel sensibler. Hier müssten nach aktueller Rechtslage beispielsweise Pharmaunternehmen mit allen Datengebern Verträge abschließen. In den aktuellen Datenschutzbestimmungen liegt für diese beiden Arten von Datensätzen aber noch keine trennscharfe Definition vor. Das macht die Nutzung sehr schwierig und es braucht Nachbesserung, um hier zu unterscheiden.

Eine zweite Debatte, die geführt werden muss, ist die über Qualität. Hier ist zu klären, welche Dienste welche Zwecke erfüllen und wie Mechanismen der Qualitätssicherung implementiert werden können. Auch ein Wissen darüber, welche Dienste zuverlässig sind, muss aufgebaut werden und abrufbar sein. Das ist auch wieder eine Abwägung zwischen Datensouveränität und -solidarität.

Als drittes großes Debattenthema sehe ich den Bereich der Künstlichen Intelligenz. Es gibt Situationen in der Medizin, in denen schnell reagiert werden muss und in denen eine KI unter Umständen akkurater sein kann als ein Mensch. Da muss man überlegen, wie man diese Konflikte auflöst und klären, wer haftet – wie beim autonomen Fahren.