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Der Wandel der großen Erzählungen über den Nutzen der Wissenschaft

Die Zeiten, in denen technischer Fortschritt mehr materiellen Gewinn einbringt, sind weitestgehend vorbei und seine unschönen Nebenfolgen treten vermehrt in den Vordergrund. Den dadurch bedingten Moduswechsel in der kollektiven Erzählung über Wissenschaft darf die Wissenschaftskommunikation nicht ignorieren.

Die großen Erzählungen über den Nutzen der Wissenschaft sind gleichermaßen Kind wie Sinnstiftung der Moderne. Ging es in der Zeit von Kopernikus bis Newton noch im Wesentlichen darum, das Schöpfungswerk Gottes richtig zu deuten und zu feiern, so eröffnete erst die industrielle Revolution die technischen Möglichkeiten, überprüfbares Wissen um Natur in erlebbare Verbesserungen der Lebensbedingungen für alle umzusetzen. Erst musste die Wissenschaft im 19. Jahrhundert lernen, sich der rasant vervielfachten technischen Möglichkeiten zu bedienen, um überhaupt einer technisierten Welt nützliches Wissen bieten zu können. Und die Technik musste lernen, sich bei der Entwicklung ihrer Regeln und Prinzipien an den reproduzierbaren Laborversuchen der Wissenschaft zu orientieren, um ein Höchstmaß an Funktionssicherheit bieten zu können. Was jenseits kleiner abgehobener Eliten die Menschen an der neuen Wissenschaft in immer neuen Wellen begeisterte, kam aus den Fabriken.

Die wohl segensreichste wissenschaftliche Entdeckung des 19. Jahrhunderts war, dass viele lebensbedrohliche Krankheiten nicht durch Geister, schlechte Luft oder Gottes Zorn, sondern durch kleinste, für das Auge unsichtbare Lebewesen hervorgerufen werden. Einmal identifiziert und genauer untersucht, konnte man diesen Bakterien mit technischer Hilfe den Garaus machen. Man musste sie nur stärker erhitzen, als dass es Fieber vermochte, und ihre Verbreitung verhindern. So entstand im späten 19. Jahrhundert eine Hygienebewegung, die wesentlich zur annähernden Verdopplung der Lebenserwartung noch vor dem Aufkommen wirksamer Antibiotika beigetragen hat.1 Sauberes Trinkwasser wurde in die Städte geleitet. Fäkalien wurden abtransportiert. Wäsche wurde nicht mehr im kalten Fluss gewaschen, sondern vor allem Leib- und Bettwäsche in kohlebefeuerten Waschbottichen mit aggressiven Chemikalien regelmäßig steril gekocht. Da Obst und Gemüse jetzt ebenfalls eingekocht und in hermetisch geschlossenen Gläsern oder Dosen keimfrei aufbewahrt werden konnte, machten sie nicht mehr krank. Und es gab das ganze Jahr hindurch vitaminreiche Nahrung. Statt sechs bis acht Kinder, von denen in vorindustriellen Zeiten oft die Hälfte früh starb, reichten für die Absicherung der Altersversorgung jetzt auch zwei bis vier, die zudem länger in die Schule gehen konnten. Wissenschaftliches Wissen setzte sich in technische Produkte und neue Haushaltsroutinen um. Das Ergebnis war ein deutlich längeres und gesünderes Leben.

20. Jahrhundert als Höhepunkt individueller Ermächtigung

Dass dieses höhere Alter in einem erträglichen Zustand erreicht werden konnte, verdankte die Bevölkerung der Industrieländer der überreichlichen Verfügbarkeit von thermisch und motorisch nutzbarer Energie. Kohle und Gas wurden so billig und industriell erzeugte Zimmeröfen so effizient, dass kaum noch jemand frieren musste und auch im Winter Wohnräume jenseits der Küche benutzbar waren. Reichlich heißes Wasser zur Körperhygiene war kein Luxus mehr. Und in der Arbeitswelt verdrängten allseits verfügbare motorische Antriebe viel mühsame körperliche Plackerei. Eine zur Hygienebewegung geradezu kongeniale Steigerung erfuhr das neue industrielle Energieregime durch technisch erzeugte Elektrizität, die Ruß und Dreck aus Arbeitswelt und Haushalten verbannte. Zuerst verstanden und beherrscht in den Physiklabors der Universitäten wurde sie vom Maschinenbau zur allgemein verfügbaren Energieform des 20. Jahrhunderts entwickelt. „Alles elektrisch“ war mehr als nur ein Werbespruch. Wo Energie gebraucht wurde, kam sie aus der Steckdose, und auch die Befehle für deren Einsatz wurden elektrisch übermittelt. Ein Druck auf den Knopf und die Heizung springt an, oder der Scheibenwischer setzt sich in Bewegung, oder wir können mit Menschen in vielen hundert Kilometern Entfernung sprechen. Mehr individuelle Ermächtigung haben gewöhnliche Menschen wohl nie zuvor erfahren.2

Ähnlich wie das Wissen um Bakterien ist das Wissen um Elektrizität unsinnlich und abstrakt. Wir können beides weder sehen noch riechen noch hören. Unser Umgang mit ihnen ist indirekt und symbolhaft. Ihre Beherrschung im Alltag lässt uns die Überlegenheit des wissenschaftsbasierten Agierens unmittelbar erfahren: Jahrzehnte mehr Lebenserwartung, keine körperliche Plackerei, im Winter nicht mehr frieren und den Lebensunterhalt auf einem gepolsterten Stuhl sitzend in einem sauberen klimatisierten Raum verdienen. Diese neue Normalität wäre den geplagten Knechten und Mägden der vorindustriellen Zeit wie das Paradies erschienen. Ähnlich große Erfolge wissenschaftsbasierter Technik, die solch fundamentale und von jedermann und jederfrau unmittelbar erfahrbare Verbesserungen der Lebensumstände und der Lebenschancen gebracht hätten, waren jedoch danach nicht mehr zu verzeichnen.3 Die tief hängenden Früchte vom Baum der Wissenschaft waren gepflückt. Zuwächse gab es fortan nur noch inkrementell.

Von Gewinnerzählungen zu Ambivalenzerzählungen

Was dann seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Begeisterung für Wissenschaft anfachte, stellte sich oft eher als semiotischer denn als materieller Gewinn dar. Raumfahrt und Mondlandung waren keine lebenserleichternden Alltagserlebnisse, sondern eher eine moderne Form von Gladiatorenspielen, bei denen man zu dem roten oder zu dem blauen Team halten konnte. Nach der Entscheidung wandte sich die Öffentlichkeit dann auch entsprechend gelangweilt ab. Auf den Mond umziehen wollte ohnehin niemand. PCs und Smartphones brachten keine zusätzlichen körperlichen Erleichterungen, sondern boten allenfalls neue Formen von Unterhaltung. Sie führten letztlich eher zu einer Stress- und Anerkennungsverlagerung. Man braucht sie vor allem, um sozial mitzuhalten. Sozialer Rang aber ist im Unterschied zu mehr Lebenserwartung, weniger Plackerei und temperierten Wohnräumen ein Nullsummenspiel und kann deshalb nicht von allen gemeinsam gewonnen werden.

Hinzu kommt, dass alle menschliche Aktivität, so auch die Wissenschaft, nicht nur die gewünschten Ergebnisse, sondern zwangsläufig auch immer nicht intendierte Nebenfolgen hervorbringt. Die Kohle hat Unmengen Energie für Wärme und Antriebe geboten, aber auch Atemwegserkrankungen, unwirtliche Städte und den Treibhauseffekt produziert. Antibiotika haben viele lebensgefährliche Infektionen geheilt, aber zugleich auch neue antibiotikaresistente Krankheitserreger gezüchtet. Weltweite elektronische Kommunikation hat die Wirtschaft beflügelt und die Menschheit miteinander bekannt gemacht. Sie hat aber auch den Langsameren auf dem Weg zum bequemen Leben das Ausmaß ihrer Unterprivilegierung in skandalöser Weise vor Augen geführt und deren subjektives Leiden vergrößert. Da reicher werden allein nicht glücklicher macht4, und die großen sinnlich spürbaren Gewinne hinter uns liegen, haben die negativen Effekte der Nebenfolgen die positiven Effekte erlebter Wissenschaft vielerorts eingeholt und für manche auch schon überholt. Aus der Dominanz der allgemein geteilten Gewinnerzählungen über die Wissenschaft wird gerade bei den im Weltmaßstab Wohlhabenderen die Dominanz der Ambivalenzerzählungen. Ein Jahrhundert nach der von tödlichen Bedrohungen befreienden Hygienebewegung entstand mit ähnlicher Ausstrahlungskraft eine dystopische Umweltbewegung. Wissenschaft war in ihr nicht mehr Retterin aus dem Elend, sondern Gefahr für das Erreichte.

Wie jede erfolgreiche Revolution kommt auch die Verwissenschaftlichung der Welt an den Punkt, ab dem sie das Erreichte sichern und zur Wahrung des sozialen Friedens verallgemeinern muss, um nicht an den destruktiven Nebenfolgen ihrer Dynamik zu scheitern. Daher steht jetzt eine Phase des Nebenfolgenmanagements vergangener Expansion an, zu der es mindestens so viel Wissenschaft bedarf wie bisher. Die Öffentlichkeit hat diesen Moduswechsel von Expansion zu Bewahrung und Befriedung in der kollektiven Erzählung über Wissenschaft bereits vollzogen. Die Wissenschaftskommunikation tut sich vielerorts noch schwer damit.

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