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Wissenschaft, Agrarindustrie und evidenzbasierte Politik – warum Nähe nicht gleich Einflussnahme ist

Seit April vergangenen Jahres wird über die Reform des EU-Zulassungsverfahrens für genveränderte Pflanzen diskutiert, woraufhin den beratenden Wissenschaftler*innen Interessenskonflikte vorgeworfen wurden. Elisabeth Does, Dorothea Kaufmann und Kevin Roth vom Grünen Netzwerk Evidenzbasierte Politik erklären im Gastbeitrag, was die Anschuldigungen für die Wertschätzung von Forschenden und das Vertrauen in Wissenschaft bedeuten.

Nach 30 Jahren intensiver Forschung, tausenden Studien zu technischer Machbarkeit und möglichen Risiken, besteht breiter wissenschaftlicher Konsens: Neue gentechnische Züchtungsverfahren bieten großes Potential, um klimabedingten
Ernährungskrisen zu begegnen, und sind in ihrer Anwendung für Mensch und Natur unbedenklich1. Im April 20222 beschloss daher die EU-Kommission, dem wissenschaftlichen Konsens zu folgen und Zulassungsverfahren für entsprechend gezüchtete Pflanzen zu erleichtern3. Doch nun werden in einem Bericht4, angestoßen durch Vertreter*innen der Grünen Fraktion im EU-Parlament, schwerwiegende Vorwürfe gegen Wissenschaftler*innen erhoben, die zu Gentechnik in der Landwirtschaft forschen und EU-institutionen in entsprechenden Fragen beraten5. Die Autor*innen des Berichts kommen zu dem Ergebnis, dass der breite wissenschaftliche Konsens zu Nutzbarkeit und Unbedenklichkeit neuer gentechnischer Verfahren nicht vertrauenswürdig sei, da Ergebnis einer breitflächigen Unterwanderung eigentlich unabhängiger Forschungseinrichtungen durch Industrielobbyismus. Um diese Behauptung zu stützen, werden unterschiedliche Formen der Verflechtung von Wissenschaft und Industrie beschrieben, auch Zahlen zur Häufigkeit solcher Verflechtungen werden genannt. Konkrete Belege dafür, dass diese Verbindungen tatsächlich zu unlauteren, im schlimmsten Fall ergebnisverfälschenden Einflussnahmen führen, werden jedoch nicht geliefert.

Man muss die institutionellen Verflechtungen zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Politik in diesem Feld sachkundig und differenziert betrachten: Ja, es bestehen tatsächlich Verbindungen dieser Art – nicht nur im Bereich Agrar. In allen wichtigen Industriezweigen arbeiten öffentliche Forschungseinrichtungen und Industrie zusammen, und zwar gewollter Weise. Es ist seit jeher Auftrag der Gesellschaft an öffentliche Forschungseinrichtungen, teure Grundlagenforschung nicht nur zur privaten Erkenntnisbefriedigung neugieriger Wissenschaftler*innen zu betreiben, sondern den Transfer der dort erlangten Erkenntnisse in Wirtschaft und Politik aktiv mitzugestalten. Nur so kann wissenschaftliche Erkenntnis in technologischen Fortschritt und Nutzen für die Gesellschaft übersetzt werden. Mobilitätswende, Energiewende, Digitalisierung von Industrie, Bildungssektor und Gesundheitswesen – all das wäre nicht möglich, würde die Wissenschaft nicht enge Netzwerke zum Wissenstransfer in Wirtschaft und Politik knüpfen.

Die Verbesserung dieses Transfers immer wieder zu fordern, die gleiche Art der Zusammenarbeit dann aber ausgerechnet im für das Klima hochrelevanten Agrarbereich ohne konkreten Beleg unter Generalverdacht zu stellen, ergibt schlicht und ergreifend keinen Sinn. Dass ein gewisser Anteil politikberatend tätiger Wissenschaftler*innen auch Verbindungen in die Saatgutindustrie unterhält, ist zunächst einmal Zeichen einer zum Wissenstransfer und damit im öffentlichen Interesse bestehenden Vernetzung. Die Tatsache, dass solide Verbindungen dieser Art bestehen, führt nicht automatisch zu problematischer Einflussnahme, und erst recht ist sie noch kein Beweis für eine solche.

Natürlich können vereinzelte Interessenkonflikte nie ganz ausgeschlossen werden. Doch um zu verhindern, dass dieses grundsätzlich bestehende Risiko zu einer flächendeckenden und damit erkenntnisverhindernden Unterwanderung der
Wissenschaft durch Industrielobbyismus führt, gibt es wirksame Schutzsysteme. Oder würden diejenigen, die diese Vorwürfe in den Raum stellen, annehmen wollen, der breite Konsens innerhalb der Wissenschaft zum menschengemachten Klimawandel sei das Ergebnis verdeckt einflussnehmender Industrieverbände, die Interessen von Windkraft- und Solarindustrie vertreten? Gerade der Umgang mit den Erkenntnissen zum Klimawandel ist überwältigender Beweis dafür, dass sich die Wissenschaft wirksam gegen die Einflussnahme mächtiger Industrieakteure schützt: Diese Erkenntnisse werden seit jeher lautstark kommuniziert, trotz gegenteiliger Interessen sehr mächtiger Industriezweige, die auf fossilen Brennstoffen beruhen.

Es gibt keinerlei Grund anzunehmen, dass die Wissenschaft nun ausgerechnet im Bereich Agrar nicht in der Lage wäre, unlautere Einflussnahme abzuwehren. Dass unter Wissenschaftler*innen breiter Konsens zur risikoarmen Nutzbarkeit neuer gentechnischer Verfahren besteht, ist also kein Indiz für Unterwanderung durch meinungsdiktierende Industriemacht. Ganz im Gegenteil: Dieser Konsens zeigt, dass die Wissenschaft eben kein Geschäft ist, in dem jede*r nach Gutdünken behaupten kann, was sie oder er will. Die Anwendung rigoroser Forschungsmethoden führt stattdessen zu tatsächlich belastbarer, objektivierbarer Erkenntnis – und gibt damit Anlass, Vertrauen in Wissenschaft und evidenzbasierte Agrarpolitik zu setzen.

Selbstverständlich muss es möglich bleiben, Forschungsergebnisse kritisch zu prüfen und neue Fragen aufzuwerfen. Doch auch und insbesondere dabei muss ebenso selbstverständlich den Standards wissenschaftlichen Arbeitens entsprochen werden. Doch während Gentechnikgegner*innen unabhängig und zugleich vernetzt arbeitenden Wissenschaftler*innen Käuflichkeit vorwerfen, vergeben sie selbst Auftragsstudien an politisch-aktivistisch tätige Vereinigungen, die sich ganz grundsätzlich gegen jegliche Form der Gentechnik aussprechen6. Solche Vereinigungen betreiben also gerade nicht Forschung nach hohen wissenschaftlichen Standards, sondern legen über ihre Grundsatzhaltung Ergebnisse schon fest, bevor eine Studie überhaupt begonnen hat. In diesen Fällen verhindern inhaltliche Voreingenommenheit und politische Abhängigkeiten in der Tat eine faktenbasierte Unterstützung politischer Entscheidungsprozesse.

Wer bei dieser Sachlage trotz fehlender Beweise Vorwürfe der nun vorliegenden Schwere gegen eine ganze Wissenschaftszunft erhebt, zeigt nicht nur seine Geringschätzung gegenüber hart arbeitenden und den Prinzipien ihrer Profession folgenden Wissenschaftler*innen. Wer so vorgeht, zündelt zudem gefährlich am populistischen Rand und agitiert grundlos gegen zentrale Institutionen unserer freiheitlich-demokratisch verfassten Gesellschaft, in diesem Fall die Wissenschaft. So wird mutwillig riskiert, dass Bürger*innen Vertrauen in diese Institutionen, unsere gesellschaftliche Verfasstheit verlieren, nur um sich selbst und das eigene Festhalten an überkommenen Ideologien nicht hinterfragen zu müssen. Wenn wir die großen Herausforderungen unserer Zeit erfolgreich meistern wollen, müssen wir die
Wissenschaft als Institution schützen und stärken, anstatt sie mit haltlosen Vorwürfen grundlos in Frage zu stellen.

Natürlich ist es notwendig, den Einfluss mächtiger Industrieakteure so zu begrenzen und zu lenken, dass neue Technologien nicht nur zu ihrem, sondern zum Wohle aller angewendet werden. Es ist Aufgabe verantwortungsorientierter Politik, die Gestaltung entsprechender wirtschaftspolitischer Rahmenbedingungen aktiv und zukunftsorientiert in die Hand zu nehmen, anstatt sie zu verhindern. Genauso ist es ihre Aufgabe, den Wert einer unabhängig und zugleich vernetzt arbeitenden Wissenschaft anzuerkennen, wissenschaftlichem Konsens Beachtung in politischen Entscheidungsprozessen zukommen zu lassen und so eine tragende, weil erkenntnisbringende Säule unserer freiheitlich-demokratisch verfassten Gesellschaft zu stärken.

Alle Autor*innen sind Mitbegründer*innen des „Grünen Netzwerks Evidenzbasierte Politik“.

Gastbeiträge spiegeln nicht zwangsläufig die Meinung unserer Redaktion wider.