Foto: Ilja Hendel / WiD

Wissen als Fracht – an Bord der MS Wissenschaft

Seit 2002 tourt das Ausstellungsschiff mit den wechselnden Themen der Wissenschaftsjahre über deutsche Gewässer. Die Vermittlung übernehmen dabei die Lotsen, eine Crew aus Studierenden sowie jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Lotsin Paula Teichert nimmt uns für einen Tag mit an Bord.

Mit einem lauten Grollen erwacht der Motor und mein Bett beginnt zu schwanken – der 102 Meter lange Frachtkahn setzt sich langsam in Bewegung. Müde öffne ich die Augen. Es muss gegen fünf Uhr morgens sein, denn Björn, unser Steuermann, hatte gestern verkündet, dass wir bei Sonnenaufgang weiterfahren müssen, um rechtzeitig in Brandenburg anzukommen, unserer nächsten Station.

Wir befinden uns an Bord der MS Wissenschaft – der schwimmenden Wissenschaftsausstellung. Seit 16 Jahren transportiert das Binnenfrachtschiff nicht mehr nur Kohle, Sand oder andere Güter, sondern auch Wissen, und zwar in Form einer interaktiven Ausstellung. Dafür schippert es jedes Jahr von Mai bis Oktober über die Flüsse und Kanäle durch Deutschland und Österreich und legt jedes Jahr in rund 40 Städten an. Das Thema der Ausstellung ändert sich von Jahr zu Jahr und knüpft thematisch immer an das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung ausgerufene Wissenschaftsjahr an. Dieses Jahr dreht sich deshalb alles an Bord um die „Arbeitswelten der Zukunft“.

Die MS Wissenschaft ist eigentlich ein Binnenfrachtschiff. Gebaut im Jahr 1969 hat sie eine Ladefläche von rund 550 Quadratmetern und eine Ladekapazität von fast 2.000 Tonnen. Foto: Ilja Hendel / <a href="https://www.wissenschaft-im-dialog.de/" target="_blank">WiD</a>
Die MS Wissenschaft ist eigentlich ein Binnenfrachtschiff. Gebaut im Jahr 1969 hat sie eine Ladefläche von rund 550 Quadratmetern und eine Ladekapazität von fast 2.000 Tonnen. Foto: Ilja Hendel / WiD

Nach einigen Minuten habe ich mich an die neue Geräuschkulisse gewöhnt, drehe mich auf die andere Seite und schließe die Augen. Denn auch wenn der Kapitän und der Steuermann bereits hellwach sind, wird der Tag für uns Lotsen erst in zwei bis drei Stunden beginnen — je nachdem wie viel Zeit man im Bad braucht.

Erklären, betreuen, reparieren – 24/7 Teamwork

Wir Lotsen — das sind Benedikt, Christian, Lisa und ich. Eine Woche ist es nun her, dass wir einander leicht verhalten die Hände geschüttelt haben, alle gespannt, was in den nächsten Wochen auf uns zukommen wird. Mittlerweile sind wir ein so eingespieltes Team, dass es mir fast schon unwirklich vorkommt, wie kurz wir uns erst kennen. Doch als Lotsen auf der MS Wissenschaft ist man fast 24/7 auf engstem Raum zusammen. Wir sind natürlich nicht die einzigen Lotsen. Insgesamt sind es dieses Jahr 19 Personen, die sich in Schichten von zwei bis drei Wochen auf der MS Wissenschaft abwechseln. Unsere Aufgabe ist es, die Ausstellung zu betreuen, den Besuchern Hilfestellung zu geben und Fragen zu beantworten. Zusätzlich bieten wir auch Führungen durch die Ausstellung an. Sofern es im Bereich unserer technischen Fähigkeiten liegt, muss auch das eine oder andere Exponat auch mal repariert oder gewartet werden. Und auch das Aufmachen und Schließen sowie das Säubern der Ausstellung gehört zu unseren Aufgaben.

Junge Wissenschaftlerinnen, Wissenschaftler oder Studierende, betreuen als Lotsen die Ausstellung der MS Wissenschaft. Foto: Ilja Hendel / <a href="https://www.wissenschaft-im-dialog.de/" target="_blank">WiD</a>
Junge Wissenschaftlerinnen, Wissenschaftler oder Studierende, betreuen als Lotsen die Ausstellung der MS Wissenschaft. Foto: Ilja Hendel / WiD

Drei Stunden später schwinge ich die Beine aus dem Bett und erklimme vorsichtig die Stufen in die Küche, um mir nicht den Kopf an den niedrigen Decken zu stoßen. Der Kaffee läuft schon und das Frühstück ist auf einem Tablett drapiert. Das Wetter ist schön, also frühstücken wir an Deck mit Blick aufs Wasser. Um zwanzig vor neun steigen wir dann die eiserne Notausgangstreppe direkt neben der Kajüte hinab in den Schiffsbauch, um die Ausstellung hochzufahren und sicherzustellen, dass jedes Exponat funktionstüchtig ist. Dann stecken wir uns unsere Namensschilder an und besetzen den Infotresen. Noch einmal kurz durchatmen, bevor unser Arbeitstag richtig beginnt. Von Weitem kann man bereits das aufgeregte Stimmengewirr der ersten Schulklasse hören, die uns heute besuchen wird – eine von zehn, die wir in den nächsten drei Stunden erwarten.

Zehn Schulklassen in drei Stunden

Die Altersstufen der Schulklassen sind dabei ganz unterschiedlich. Offiziell richtet sich die Ausstellung an Kinder und Erwachsene ab 12 Jahren. Doch auch wenn jüngere Schulklassen oder kleinere Kinder mit ihren Familien die Ausstellung besuchen, gibt es für sie genug zu entdecken und auszuprobieren. Die erste Gruppe ist heute eine siebte Klasse. Nachdem sich alle im Eingangsbereich der Ausstellung eingefunden haben, geben wir Lotsen den Schülern noch eine kleine Einführung in das Thema sowie die Regeln, die sie während ihres Besuches zu beachten haben. Dann geht es los. Besonders angesagt unter den Schulklassen sind natürlich die Exponate, bei denen gespielt werden darf, wie der Cyberkicker oder der Pong-Tisch. Da heißt es für uns Lotsen: Obacht! Denn hier wird der ein oder andere Schüler im Eifer des Gefechts auch gerne einmal unvorsichtig. Ein weiterer Liebling, auch bei den erwachsenen Besuchern, ist die Datenbrille.  Auch hier ist es wichtig, dass immer einer von uns Lotsen zur Stelle ist, um die richtige Anwendung zu erklären.

Mit dem „Cyberkicker“ kann man selbst Cyberangriffe starten oder das System dagegen verteidigen. Foto: Ilja Hendel / <a href="https://www.wissenschaft-im-dialog.de/" target="_blank">WiD</a>
Mit dem „Cyberkicker“ kann man selbst Cyberangriffe starten oder das System dagegen verteidigen. Foto: Ilja Hendel / WiD

Besonders schön ist es natürlich, wenn wir merken, dass sich die Schüler nicht nur für das Spiel, sondern auch für die Forschung und die Technik, die dahintersteckt, interessieren. Dann haben wir die Möglichkeit, sie für die Wissenschaft zu begeistern. Insgesamt wurden dieses Jahr 18 Exponate von verschiedenen wissenschaftlichen Institutionen und Universitäten zur Verfügung gestellt. So wird das Thema Arbeitswelten der Zukunft aus ganz verschiedenen Perspektiven beleuchtet und der Besucher hat darüber hinaus die Möglichkeit, die wissenschaftlichen Institutionen besser kennenzulernen und einen Einblick in deren Arbeit zu erhalten.

Am Ende der Ausstellung können die Besucherinnen und Besucher ihre Meinung zu den Arbeitswelten der Zukunft an den Wunschbaum hängen. Foto: Ilja Hendel / <a href="https://www.wissenschaft-im-dialog.de/" target="_blank">WiD</a>
Am Ende der Ausstellung können die Besucherinnen und Besucher ihre Meinung zu den Arbeitswelten der Zukunft an den Wunschbaum hängen. Foto: Ilja Hendel / WiD

Als die letzte Schulklasse für heute die Ausstellung verlassen hat, kehrt langsam wieder Ruhe ein. Etwas Zeit, klar Schiff zu machen. Besonders im hinteren Teil der Ausstellung, in der sogenannten Denkwerkstatt, gibt es nach so einem Vormittag viel aufzuräumen. Hier haben die Besucher die Möglichkeit, das Gesehene zu reflektieren und eigene Wünsche oder Prognosen für die Arbeitswelten der Zukunft zu formulieren und an unseren Wunschbaum zu hängen. Einige der Zettel am dort lassen vermuten, dass das Thema die Menschen sehr beunruhigt: Viele prognostizieren eine düstere Zukunft, in der Roboter uns Menschen ersetzen werden und wir alle in Arbeitslosigkeit enden. Doch es gibt auch Optimisten. Am liebsten lese ich den Zettel von einem Jungen, der schrieb, er wolle später Brötchenbäcker werden und eine Milliarde Brötchen backen, damit alle Menschen glücklich sind.

Das schönste am Lotsenjob ist der direkte Austausch mit den Besuchern

Am Nachmittag steht dann noch die tägliche Ausstellungsführung an. Heute bin ich an der Reihe. Jeder von uns Lotsen gestaltet die Führung etwas anders, da jeder einen anderen fachlichen Hintergrund mitbringt. In der Regel dauern die Führungen eine halbe Stunde, aber die Länge hängt natürlich immer auch von den Rückfragen der Besucher ab. Die Gruppe besteht heute zum Großteil aus einer Familie auf ihrem jährlichen Familientreffen. Zu Beginn gebe ich ein paar Informationen über den Hintergrund und den Aufbau der Ausstellung und starte dann mit der Führung. Damit der zeitliche Rahmen nicht gesprengt wird, suchen wir uns in der Regel vier bis fünf Exponate aus, die wir in der Führung etwas genauer beschreiben. Ich entscheide mich für die Infotafeln, die über das Altwerden im Berufsleben und die damit einhergehenden gesundheitlichen Risiken Auskunft geben, die Bonbonmaschine, bei der es um das willentliche Vergessen alter Arbeitsabläufe geht und den Hörtest, der den Effekt von Soundmasking auf die Konzentrationsfähigkeit verdeutlicht. Zum Schluss gehe ich noch auf das große Buch ein, das das Thema Arbeit aus einer kunsthistorischen Perspektive betrachtet.

Die Ausstellung besteht aus 18 Exponaten, die von Wissenschaftseinrichtungen entwickelt wurden. Foto: Ilja Hendel / <a href="https://www.wissenschaft-im-dialog.de/" target="_blank">WiD</a>
Die Ausstellung besteht aus 18 Exponaten, die von Wissenschaftseinrichtungen entwickelt wurden. Foto: Ilja Hendel / WiD

Schon beim ersten Exponat merke ich, dass diese Gruppe großes Interesse an dem Thema und der diesbezüglichen Forschung hat. Auch, wenn mich deren kritische Fragen manchmal ganz schön ins Schwitzen bringen, freue ich mich riesig über die Motivation und die Rückmeldungen. Großvater, Großonkel, deren Kinder und Enkelkinder – alle bringen unterschiedliche Erfahrungen und Fragestellungen mit, und ehe ich mich versehe, stecke ich mitten in einer philosophischen Diskussion über die Frage, was Arbeit eigentlich ist, was sie sein sollte und wie sich das in Zukunft verändern könnte. Das ist eine der Sachen, die mir als Lotsin auf der MS Wissenschaft besonders Spaß macht: der direkte Austausch mit den Besuchern. Somit findet keine einseitige Kommunikation statt, sondern man tritt mit den Besuchern in Dialog und hat die Chance voneinander zu lernen und sich neue Denkanstöße und Impulse zu liefern.

Feierabend mit Ausflug in die neue Stadt

Feierabend an Deck mit dem Lotsenteam Paula, Lisa, Benedikt und Christian. Foto: privat
Feierabend an Deck mit dem Lotsenteam Paula, Lisa, Benedikt und Christian. Foto: privat

„Liebe Besucher, die Ausstellung schließt in wenigen Minuten. Vielen Dank für Ihren Besuch und kommen Sie gut nach Hause“, spreche ich um kurz vor sieben in das Mikrofon am Infotresen. Als auch die letzten Gäste von Bord gegangen sind, ist es Zeit für den großen Auftritt von Larry, Lenny und Henry — unserem Staubsaugertrio. Es dauert gut 30 Minuten, bis die Ausstellung gesaugt und die Exponate alle abgewischt sind. Noch den Strom abschalten und dann geht es ab an Deck. Nachdem wir alle gemeinsam zu Abend gegessen haben, nutzen wir Lotsen unseren ersten Abend in einer neuen Stadt, um ein bisschen die Umgebung zu erkunden, bevor morgen ein neuer Tag voller spannender Gespräche auf uns wartet.


 Projektsteckbrief

Träger: Wissenschaft im Dialog ist Generalunternehmer für das Ausstellungsschiff MS Wissenschaft und setzt das Projekt im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung im Rahmen der Wissenschaftsjahre um.*

Budget/Finanzierung: Das Projekt MS Wissenschaft wird jährlich mit rund 1 Mio. Euro netto finanziert, darin enthalten sind die Konzeption, Gestaltung und Umsetzung der Ausstellung, der Betrieb des Binnenschiffes sowie alle Personal- und Marketingkosten.

Ziele: Die MS Wissenschaft will Interesse an wissenschaftlichen Themen wecken sowie Forschung verständlicher und transparenter machen. Die interaktiven, spielerischen Elemente der Ausstellung sollen Berührungsängste mit wissenschaftlichen Themen abbauen und neben den Inhalten auch Spaß und Begeisterung für Wissenschaft vermitteln. Jungen Leuten will die Ausstellung darüber hinaus Anregungen für die Berufswahl bieten. Zahlreiche Veranstaltungen an Deck ermöglichen die Auseinandersetzung mit kontroversen Themen und fördern den Austausch zwischen Laien und Experten.

Zielgruppen: Je nach Thema ist die Ausstellung für Besucher ab einem Alter von 10 bis 14 Jahren geeignet. Vor allem Schulen, Jugendliche und Familien zählen zu den Besuchern des Ausstellungsschiffes.

Zahlen zur Zielerreichung: Die MS Wissenschaft zählt jährlich zwischen 65.000 und 125.000 Besucher. Mehrere Hundert Schulklassen kommen an Bord.

Weitere Informationen: www.ms-wissenschaft.de


*Wissenschaft im Dialog ist auch einer der drei Träger des Portals Wissenschaftskommunikation.de

Gastbeiträge spiegeln nicht zwangsläufig die Meinung unserer Redaktion wider.