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Warum die Wissenschaft eine Alternative zu YouTube braucht

YouTube dominiert die Welt der Videos, aber ist es wirklich die beste Plattform für wissenschaftliche Inhalte? Das TIB AV-Portal ist auf die Bedürfnisse der Forschung zugeschnitten. Was es anders macht, erklärt Matti Stöhr in seinem Gastbeitrag.

Mittlerweile werden weit mehr als 80 Prozent des weltweiten Datenverkehrs durch Videos verursacht. Vor allem kurze Erklärfilme als Lernhäppchen, sogenannte „Snackables“, werden immer beliebter.

Wenn man an Wissenschaftsvideos denkt, kommt einem oft als erstes YouTube in den Sinn. YouTube ist seit Jahren die Plattform für die vielgestaltige Präsentation, Vermittlung und Verbreitung von Wissen im Videoformat. Von bekannten Science-YouTuber*innen, über Forschungsprojekte bis hin zu Wissenschaftsinstitutionen – einen YouTube-Kanal zu haben ist quasi ein Muss. Die Motive, Zielgruppen, Ressourcen und der Content sind dabei sehr unterschiedlich. Vor allem die einfache und unkomplizierte Veröffentlichung und Kuratierung von Videos sowie die potenzielle Reichweite sind für viele attraktiv.

In jüngerer Vergangenheit gewinnt auch TikTok an Bedeutung, da kurze Videos leicht zu produzieren und zu konsumieren sind. YouTube hat zwar mit Shorts nachgezogen, aber das ist ein anderes, eher passiveres „Erlebnis“. TikTok ist deutlich interaktiver, etwa mit der „Duett“-Funktion. Auf der anderen Seite wird die Plattform Vimeo insbesondere für temporäre, geschützte Bereitstellung von Videoinhalten genutzt.

„Aber: es gibt unerwünschte Nebenwirkungen kommerzieller Videoplattformen wie YouTube, TikTok und Co. Sie sind nur bedingt für die wissenschaftliche Kommunikation, intern wie extern, geeignet.“ Matti Stöhr

Aber: es gibt unerwünschte Nebenwirkungen kommerzieller Videoplattformen wie YouTube, TikTok und Co. Sie sind nur bedingt für die wissenschaftliche Kommunikation, intern wie extern, geeignet. Kommerzielle Interessen in Gestalt willkürlicher Werbeeinblendungen, kaum überschaubare Nutzungs- Datenschutzbestimmungen sowie Content-Fluidität (Netzphänomen „404 Not Found“) sind kontraproduktiv. Denn komplexe Forschung – charakterisiert durch dynamischen Fortschritt „auf den Schultern von Riesen“ – ist grundsätzlich auf Zitierbarkeit und langfristige Zugänglichkeit der Ergebnisse angewiesen.

Eine YouTube-Alternative aus und für die Wissenschaft – das TIB AV-Portal

Im Gegensatz zu kommerziellen Videoplattformen ist das AV-Portal der TIB – Leibniz-Informationszentrum Technik und Naturwissenschaften und Universitätsbibliothek auf wissenschaftliches audiovisuelles Material (AV), also Wissenschaftsvideos, spezialisiert. Damit bedient es wissenschaftliche Anforderungen und Bedürfnisse, besonders unter Berücksichtigung von Open Science-Prinzipien. Mehr als 45.000 Wissenschaftsvideos (Stand: März 2024) können im Portal niedrigschwellig und rechtskonform gefunden, angeschaut, nachgenutzt und publiziert werden.

Video-Abstracts

Kurzvideos, die auf Basis von und in Verknüpfung wissenschaftlicher Paper, möglichst anschaulich und verständlich Gegenstand, Ziel(e), Methode(n) und Ergebnis(se) einer Forschungsarbeit zusammenfassen.

Zu den Videos gehören unter anderem Computervisualisierungen, Lernmaterialien, Simulationen, Experimente, Interviews, Video-Abstracts, Vorlesungs- und Konferenzaufzeichnungen sowie audiovisuelle Lern- und Lehrmaterialien, etwa in Form von Open Educational Resources (OER).

Die Videoplattform bietet einen zuverlässigen und bis auf wenige Ausnahmen kostenlosen Service, der durch eine öffentliche Grundfinanzierung ermöglicht wird. Schwerpunktmäßig ermöglicht die Plattform:

  • Hosting und Langzeitarchivierung
  • Metadatenanreicherung und inhaltliche Erschließung durch automatische Videoanalyse / KI
  • Dauerhafte Zitierbarkeit durch Digital Object Identifier (DOI)
  • Verlinkung zwischen Video, Artikel, Forschungsdaten und NameIDs (wie die ORCID)
  • Bilinguale, semantische Suche
  • Rechtskonforme Veröffentlichungspraktiken mit Fokus auf Open Access / Creative Commons Lizenzierung und Werbefreiheit
  • Weitreichende Sicht- und Auffindbarkeit durch Integration in einschlägige bibliothekarische und fachspezifische (Meta-)Datenbanken und Suchmaschinenoptimierung
  • Systematische redaktionelle Content-Kuratierung

Der DOI, sozusagen die ISBN für digitale Inhalte, sorgt mit dem Media Fragment Identifier (MFID) dafür, dass im Portal publizierte Videos sekundengenau zitiert werden können –genauso leicht wie Zitate aus einem Text. Dank automatischer Videoanalyse von Text, Bild und vor allem Sprache können gezielt relevante Inhalte unabhängig von der Videolänge effizient gefunden werden. Allein zum Suchbegriff Wissenschaftskommunikation finden sich über 1.400 Treffer, die sich filtern lassen.

Mit der Video-Playlist „Science Communicaton with Videos“ steht eine kuratierte Auswahl von Vorträgen und Impulsen zum Beispiel zu der Konzeption und Produktion von Video-Abstracts zur Verfügung.

In der automatischen Videoanalyse des TIB AV-Portals setzen wir maschinelles Lernen und zunehmend Künstliche Intelligenz (KI) ein. Leistungsstarke KI-Verfahren werden derzeit vor allem für die automatische Audiotranskription und Untertitelung eingesetzt – konkret mit Open AI‘s Whisper. Priorität haben jedoch neue Videoveröffentlichungen. Die ressourcenintensive KI-Audiotranskription wird nach und nach für alle Videos durchgeführt und bestehende Transkriptionen, wo sinnvoll, ergänzt. Die Transkripte können gezielt durchsucht werden. Sie können zudem zur Weiternutzung heruntergeladen werden, sofern eine offene Lizenzierung gegeben ist. Die Transkription von fast 100 Ausgangssprachen ins Englische wird unterstützt.

Beispiel für Suche und Fundstellen in einem automatisch mittels KI erzeugtem Audiotranskript. Bild: Matti Stöhr

Plädoyer für Plattform-Synergien

Das TIB AV-Portal kann, will und soll keine direkte Konkurrenz zu YouTube, TikTok und Co. sein, sondern eine Bereicherung für wissenschaftliche Nutzungszwecke im nicht-kommerziellen Rahmen. Vielmehr ist es wunderbar möglich, die Plattformen parallel zu nutzen. Kommerzielle Plattformen haben ihre Stärken in der Reichweite bis hin zur Viralität sowie in den Reaktions- und Interaktionsmöglichkeiten durch Kommentare, Likes, Reaktionen. Das AV-Portal wiederum punktet mit Beständigkeit und KI-gestützter Recherche. Damit kann das Portal auch eine gute Ergänzung zu hochschuleigenen oder institutionellen Mediatheken sein.

„Die Welt der Wissenschaftskommunikation mit Videos bleibt ungemein spannend.“ Matti Stöhr

Zu diskutieren ist noch eine dauerhafte Republikation von Wissenschaftsvideos aus dem Social Media Kontext, beispielsweise TikToks von Forschenden, die der Wissenschaftskommunikation dienen, wie die der Potsdamer Forschungsprofessorin für Digitale Medien und Performance in der Sozialen Arbeit, Judith Ackermann aka @dieprofessorin. Diese haben häufig ein akutes Anliegen und eine begrenzte „Halbwertszeit“ mit eher flüchtigen Charakter. Und wie verhält es sich mit wissenschaftlichen Video- und Podcasts? Kurzum: Die Welt der Wissenschaftskommunikation mit Videos bleibt ungemein spannend. Lasst uns intensiver darüber reden – etwa beim ScienceVideoCamp 2024, der Wisskon, dem Forum Wissenschaftskommunikation oder online über den #Wisskomm-Hashtag.

Das TIB AV-Portal

Das TIB AV-Portal ging vor 10 Jahren online, wurde bis 2019 in Public-Private-Partnership betrieben und ausgebaut. Anfang 2020 wurde die Videoplattform vollständig an die TIB migriert. Es wird von einem fünfköpfigen Entwicklungsteam technisch betreut. Darüber hinaus sind in technischer Infrastruktur, Redaktion und Support, Content-Akquise, Publikationsworkflow, Rechteklärung und mehr, TIB-weit eine Vielzahl von Personen involviert. Das Portal ist sehr eng verzahnt, mit weiteren Diensten, unter anderem im Rahmen des integrierten „Scientific Event Services“. Der Portalgeburtstag wird insbesondere im Jubiläumsmonat April mit einigen Aktivitäten begleitet und gefeiert. Veranstaltungshöhepunkt: Am 15. April findet erstmals ein dreistündiges virtuelles Barcamp rund um Wissenschaftskommunikation im Videoformat statt – das ScienceVideoCamp 2024. Im breiten Themenspektrum – von Storytelling über Videoproduktion mit KI bis hin zu Videoforschung – bringt das Event verschiedene Akteur*innen zusammen, um sich niedrigschwellig auszutauschen, zu inspirieren und voneinander zu lernen.

Weitere Informationen

Die redaktionelle Verantwortung für diesen Beitrag lag bei Anna Henschel. Gastbeiträge spiegeln nicht zwangsläufig die Meinung unserer Redaktion wider.