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„Man kann immer nur sich selbst ändern, nie die anderen“

Heute vor 20 Jahren wurde das PUSH-Memorandum verabschiedet. Ein wichtiges Ereignis für die Wissenschaftskommunikation in Deutschland. Johannes Vogel, Direktor des Museums für Naturkunde Berlin, spricht über die Entwicklungen seither und darüber, was sich in Zukunft – auch politisch – verändern muss.

Herr Professor Vogel, das PUSH-Memorandum wird 20 Jahre alt. Wie bewerten Sie die Entwicklung seither hinsichtlich der Ziele von damals?

Es ist äußerst wichtig, dass Wissenschaft als Teil von Gesellschaft, sich in einer Bringschuld gegenüber der Gesellschaft sieht, gerade beim Dialog und der Teilhabe an Forschung und Innovation. Das war, rückblickend auf das Memorandum, ein guter erster Ansatz. Doch „Public Understanding“ wurde in weniger als einem Jahr, nachdem es in Deutschland in Form eines Memorandums veröffentlicht wurde, von einem durch das Britische House of Lords einberufenen Expertenkomitee begraben. Insofern ist PUSH vielleicht nicht die richtige Begrifflichkeit gewesen. Denn dahinter steht ja die Idee des Defizitmodels, eines angenommenen Wissensdefizits seitens der Gesellschaft, welches es durch mehr Wissensweitergabe zu beseitigen gälte. Und das ist natürlich ein Top-down-Verfahren, das nicht mehr zeitgemäß ist, das in der demokratischen Wissensgesellschaft nie zeitgemäß war. Ich fände es deshalb gut, wenn die nächsten 20 Jahre unter einem anderen Motto ständen: Die Wissenschaft sollte der Gesellschaft nicht anbieten, mehr über Wissenschaft zu lernen, sondern sie sollte vielmehr zusätzlich anbieten, sich selbst zu verändern und zugleich bereit sein, mehr zuzuhören und von und mit der Gesellschaft zu lernen. Das bringt einen am Ende natürlich wieder zu etwas ganz Menschlichem, das wir alle auch aus dem Privaten kennen: Man kann immer nur sich selbst ändern, nie die anderen.

Johannes Vogel ist Generaldirektor des Museums für Naturkunde Berlin und Vorsitzender der Open Science Policy Platform der Europäischen Kommision. Er hat eine Professur für Biodiversität und Wissenschaftsdialog an der Humboldt-Universität zu Berlin inne.
Johannes Vogel ist Generaldirektor des Museums für Naturkunde Berlin und Vorsitzender der Open Science Policy Platform der Europäischen Kommision. Er hat eine Professur für Biodiversität und Wissenschaftsdialog an der Humboldt-Universität zu Berlin inne. Foto: Naturkundemuseum Berlin

Das PUSH-Memorandum sollte auch die Bedeutung der Wissenschaftskommunikation innerhalb der Wissenschaft selbst stärken. Wie weit sind wir inzwischen in diesem Prozess?

Auf jeden Fall wird man nicht mehr geächtet, wenn man sich als Wissenschaftlerin oder Wissenschaftler öffentlich äußert, darstellt oder mal ‚mit den Menschen redet‘. Aber ganz generell hat sich die Wissenschaft – meiner Ansicht nach und von außen betrachtet, ich war ja lange Zeit in England – nur zum Sprung über eine sehr kleine Hürde verpflichtet. Man hat da etwas gemacht, was eigentlich nicht weh tut. Und vielleicht zahlen wir dafür heute den Preis.

Ich würde an dieser Stelle für eine sehr viel anspruchsvollere Agenda werben. Sicherlich wurde durch das Memorandum und durch das Zusammenführen von Interessen durch tolle Organisationen wie Wissenschaft im Dialog eine breitere Wahrnehmung dieses Thema erreicht. Das ist erst einmal ein riesiger Erfolg. Noch sind weitere Schritte notwendig, gerade jetzt mit der gegebenen Sicherheit der Planung für die nächsten zehn Jahre durch den neuen, wunderbaren Pakt für Forschung und Innovation (hier kann ich nur Danke sagen). Doch das sollte auf keinen Fall als eine Bestätigung und als ein „weiter so“ verstanden werden, sondern vielmehr als ein Aufbruch hin zu mehr Transfer, zur Gesellschaft. Dafür braucht es einer wirklich ambitionierten gemeinsamen Erklärung, die dann auch zu tatsächlichen Veränderungen zwingt.

„PUSH ist für mich so etwas wie die Ankündigung der Verlobung. Ich aber hätte gerne, dass man endlich heiratet.“ Johannes Vogel

Ein tolles Blueprint dafür ist, was die europäischen Wissenschaftsministerinnen und -minister mit den EU Open Science Policy Recommendations (zu Open Science und Open Innovation) im Mai 2018 unterzeichnet haben. Wenn für die Umsetzung der komplexen und vielschichtigen Agenda Raum, Zeit und Geld geschaffen wird, dann kann was vielleicht mit PUSH gemeint war, wirklich zu seiner Vollendung kommen. PUSH ist für mich letztlich nur so etwas wie die Ankündigung der Verlobung – das Versprechen eines Versprechens. Ich aber hätte gerne, dass man endlich heiratet. Das heißt, dass man die OSPP Agenda annimmt und umsetzt – auf allen Ebenen. Und dafür sind gewiss noch einige Schritte nötig.

Wie groß ist denn heute noch das Interesse an – eine weitere Forderung aus dem Papier – einer gebündelten Kommunikation seitens der Forschungseinrichtungen?

Ich glaube, daran gibt es grundsätzlich ein großes Interesse. Insbesondere bei den jungen Menschen, die in diesen Organisationen arbeiten. Aber auch auf den Führungsebenen lässt sich zumindest eine große Offenheit beobachten. Doch darüber hinaus fehlt hier noch der richtige Prozess, zu dem vielleicht auch ein – von Expertinnen und Experten unterstützter – fruchtbarer Streit gehört, so dass es schließlich zu einer gemeinsamen Willensbildung kommt. Aktuell fehlt also vielen Leuten noch ein Wollen, welches dann in ein Handlungswissen umgelegt werden könnte. Auch hier sind meiner Ansicht nach die OSPP-Recommendations und die sich daraus ableitenden Handlungspfade ein wichtiger Schritt. Hieran könnte man sich orientieren. Natürlich ist dies nicht der einzige Weg. Doch wenn es derzeit schlichtweg keinen anderen gibt, dann würde ich vorschlagen: Lasst uns doch diesen Weg wagen und versuchen, uns daran zu messen.

„Aktuell fehlt vielen Leuten noch ein Wollen, welches dann in ein Handlungswissen umgelegt werden könnte.“ Johannes Vogel

Was wären denn konkret die nächsten, auch aus den OSSP-Recommendations abgeleiteten Handlungspfade?

Wirklich gut fände ich zum Beispiel, wenn ganz konkret überlegt würde, wie Leistungen im akademischen Bereich, für die dortige Karriere, gewertet und wertgeschätzt werden können. Kann das irgendwie kodifiziert werden, und wenn ja, wie sähe das konkret aus? Damit man am Ende sagen könnte: Das sind die von euch gesetzten Voraussetzungen und hier und da habe ich sie erfüllt. Das sollte aber kein Add-on sein, sondern vielmehr gleichberechtigt neben anderen etablierten Bewertungskriterien existieren.

Und mit welchen Kompetenzen in Dialog, Koproduktion oder Reflexion müssen die nächsten und derzeit aktiven Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ausgestattet sein?

Aus meiner Erfahrung heraus müssen Veränderungsprozesse Chef- bzw. Chefinnensache sein. Das kann man etwa deutlich im Bereich der Gendergerechtigkeit sehen. Und ich glaube, es lässt sich auch auf den Dialog mit der Gesellschaft oder der Politik umlegen. Wenn etwas für die Führungspersonen durchweg zum wichtigen oder gar essentiellen Kriterium wird, dann werden die damit verbundenen Fragen gelöst. Es muss eben immer erst ein Willen und ein Wollen entstehen. Insofern kriegt man das alles in den Griff, es ist dann eine Frage von Zeit.

Wie viel Zeit denn?

Also, bitte nicht noch einmal 20 Jahre. Ich bin da ein eher ungeduldiger Mensch, und dass, obwohl ich in einer der ältesten Wissenschaftsorganisationen in Deutschland arbeite und daran arbeite, dieser Institution noch mehrere hundert Jahre Zukunft zu geben.

Sie sagten ja eben bereits, dass Sie lange in England waren. Was sind die entscheidenden systemischen Unterschiede zwischen den beiden Ländern?

„Es bräuchte einen viel stärkeren intrinsischen Willen zur Disruption.“ Johannes Vogel
Das deutsche System hat einen ganz großen Vorteil: Die Möglichkeit von Planungssicherheit, Verlässlichkeit und einer unheimlich großen Wissenschaftsaffinität in der Politik. Das großbritannische System hingegen hat den Vorteil, dass es „boom and bust cycle“ durchläuft, weswegen es sich stets adaptiv erneuern muss. Insofern gibt es dort einen größeren Druck für Reflexion und Veränderung.

Meiner Meinung nach sollte es für Wissenschaft eigentlich inhärent sein, dass man sich ständig verändern und auch gut mit Disruptionen umgehen muss. In einem gut finanzierten und planungssicheren System wie dem deutschen fehlt vielleicht mitunter der Stimulus zur Veränderung. Es bräuchte hier einen viel stärkeren intrinsischen Willen zur Disruption. Das ist vielleicht ein bisschen kontraintuitiv – man könnte vielleicht auch anders sagen: Dort kann man es, obwohl man gezwungen wird, nicht verwirklichen; hier könnte man es verwirklichen, doch man fühlt sich nicht dazu gezwungen.

Glauben Sie, man könnte eine solche Veränderung hin zu mehr Disruption in Deutschland schaffen?

Da halte ich es mit der wunderbaren Anthropologin Margaret Mead, die gesagt hat: „Never doubt that a small group of thoughtful, committed citizens can change the world; indeed, it’s the only thing that ever has.“

Blicken wir weiter in die Zukunft: Was sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Zielgruppen, die Wissenschaftskommunikation erreichen muss?

Für mich sind die Einbindung von Menschen mit Migrationshintergrund, der alternden Bevölkerung und – das Sahnehäubchen – das Engagement mit jungen Erwachsenen die Hauptschwerpunkte. Ich denke, bei Kindern und Jugendlichen sind wir schon ganz gut dabei, auch durch Kooperationen zwischen Schulen und außerschulischen Lernorten. Doch sobald die jungen Menschen aus diesen Strukturen entlassen werden, wird die Herausforderung größer. Ich selbst engagiere mich ja sehr stark für den Bereich Citizen Science und sehe darin die Möglichkeit, dass Wissenschaft übt, auf Augenhöhe mit verschiedensten neuen Gruppen in ein neues Verhältnis zu treten und dabei das Zuhören lernt. Gemeinsames wissenschaftliches Arbeiten macht nämlich Spaß, wie unser erfolgreiches und vom BMBF gefördertes Citizen Science Projekt ‚Forschungsfall Nachtigall‘ eindrücklich zeigt. (Nebenbei: Bis Mitte Juni singen die noch – also jetzt mitmachen!)

„Freie Wissenschaft braucht Demokratie und deshalb muss Wissenschaft Demokratie stabilisieren.“ Johannes Vogel
Doch das verlangt eine Öffnung beider Seiten, sowohl der Herzen als auch der Köpfe. Ich habe ein wenig Angst davor, dass dies in Deutschland zunehmend schwieriger werden könnte. Auch hierzulande zeigt sich ja immer stärker die Polarisierung zwischen Fakten, Wissenschaft und Meinungen, und damit sinkt auch die Bereitschaft, anderen zuzuhören.

Gleichzeitig beobachten wir ein wachsendes Misstrauen gegenüber Eliten, und die Demokratie gerät stärker unter Beschuss. Hier muss die Wissenschaft sich wirklich überlegen, was ihr Beitrag ist, beziehungsweise sie muss überhaupt erst einmal verstehen, dass sie hier einen noch viel größeren Beitrag leisten muss: Freie Wissenschaft braucht Demokratie und deshalb muss Wissenschaft Demokratie stabilisieren. Dieses gegenseitige Verhältnis muss neu justiert werden, neue Anstrengungen müssen unternommen werden. Mit den Bürgerinnen und Bürgern auf Augenhöhe zu reden, wäre da natürlich schon mal ein wichtiger erster Schritt. Doch das wird natürlich nicht immer einfach sein. Das war es noch nie, und das wird es auch nie sein. Und, es wird viel Zeit und Geld kosten.

Wie könnte es denn vielleicht wenigstens etwas erleichtert werden?

„Wissenschaft muss von der Gesellschaft lernen wollen und sich dafür öffnen.“ Johannes Vogel
Indem man sich – und das fällt niemandem wirklich leicht, weder der Wissenschaft, noch einem selbst – in Demut übt. Das halte ich für sehr wichtig.

Was wünschen Sie sich für die nächsten 10 Jahre in der Wissenschaftskommunikation?

Aus meiner Sicht bietet dieser ganze Bereich riesige Möglichkeiten des Experiments, der Forschung und damit zugleich auch unendliche Möglichkeiten, aus Fehlern zu lernen sowie Erfolge zu feiern und zu teilen. Was ich mir aber wünsche ist, dass die Wissenschaft zuerst einmal ihr Selbstverständnis anpasst. Sie muss von der Gesellschaft lernen wollen und sich dafür öffnen. Ich nenne das die selbstreflexive Kapazität von Wissenschaft. Dies ist etwas, dass in der und für die demokratische Wissensgesellschaft unbedingt gestärkt werden muss.

 

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