Foto: Petri Heiskanen

Kurz vorgestellt: Neues aus der Forschung im Mai 2022

Was sagen Menschen aus Osteuropa über ihr Vertrauen in Expert*innen? Welche Auswirkungen hat es, wenn Virolog*innen zu populären Medienfiguren werden? Und wie können Gefühle der Ehrfurcht in der Wissenschaftskommunikation eingesetzt werden? Das sind Themen im Forschungsrückblick für den Mai.

In unserem monatlichen Forschungsrückblick besprechen wir aktuelle Studien zum Thema Wissenschaftskommunikation. Diese Themen erwarten Sie in der aktuellen Ausgabe:

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Vertrauen in Expert*innen in Osteuropa

Welche Faktoren beeinflussen, ob Expert*innen als vertrauenswürdig wahrgenommen werden? Forschung zu dieser Frage habe sich bisher vor allem auf Daten aus etablierten westlichen liberalen Demokratien bezogen, schreiben Sabina Mihelj, Katherine Kondor und Václav Štětka. Die drei Wissenschaftler*innen haben in der ersten Welle der Coronapandemie anhand von Interviews und Medien-Tagebüchern in Tschechien, Ungarn, Polen und Serbien Vertrauensbildung untersucht. Der Blick auf Osteuropa sei unter anderem relevant, weil die Region eines der niedrigsten Vertrauensniveaus in Wissenschaft, ein geringes Maß an Vertrauen in die Politik sowie weltweit die niedrigste Akzeptanz für Impfungen aufweise. 

Methode: Die Stichprobe bestand aus jeweils 30 Personen aus den vier Ländern und war in Hinblick aus Geschlecht, Alter und Wohnort und politischer Überzeugung divers aufgestellt. Voraussetzung für die Teilnahme war, mindestens wöchentlich aktuelle Nachrichten zu verfolgen. Die Wissenschaftler*innen interviewten im Februar und März 2020 jeweils 30 Teilnehmer*innen aus den vier Ländern Gespräche zu ihrer Mediennutzung und zu sozialen und politischen Themen. Danach führten die Teilnehmer*innen im März 2020 über drei Wochen detaillierte Tagebücher über ihre Mediennutzung. Im April und März 2020 folgten 30- bis 50-minütige Online-Interviews, in denen es unter anderem um die Auswirkungen der Pandemie auf den Nachrichtenkonsum und um die Suche nach vertrauenswürdigen Informationen ging. Die Interviews wurden ins Englische transkribiert und im Sinne einer thematischen Analyse nach Braun & Clarke1 mit Unterstützung einer Software zur qualitativen Datenanalyse ausgewertet. 

Ergebnisse: Die Wissenschaftler*innen identifizierten zwei zentrale Antwortmuster: Erstens gaben Teilnehmer*innen aus allen vier Ländern an, Expert*innen grundsätzlich zu vertrauen – jedoch nicht allen unter ihnen. Teilnehmer*innen aus Serbien und Ungarn äußerten beispielsweise starkes Misstrauen gegenüber Expert*innen des von der Regierung ernannten Krisenteams. Zweitens gab es Unterschiede zwischen der Art und Weise, wie Teilnehmer*innen ihr Vertrauen beziehungsweise ihr Misstrauen gegenüber Expert*innen begründeten. 

Viele Teilnehmer*innen nannten als Grund für Misstrauen die mangelnde Unabhängigkeit von politischen Eliten.
Teilnehmer*innen sagten zum Beispiel, dass sie Expert*innen deswegen vertrauen, weil diese Expert*innen seien. Wenige nannten außerdem Fachwissen, Erfahrung oder Integrität als Gründe. Andere in der Fachliteratur diskutierten Faktoren, wie die Wahl der Kommunikationskanäle und eine einheitliche Meinung von Expert*innen (Expertenkonsens), spielten kaum eine Rolle. Mehrere Teilnehmer*innen erwähnten jedoch ausdrücklich ihr Vertrauen in Personen, die sie persönlich kennen, typischerweise entweder ihren Arzt oder ihre Ärztin, oder medizinisches Fachpersonal im Familien- und Bekanntenkreis. 

Die Hauptgründe für Misstrauen wurden klarer artikuliert und umfassten alle vier Faktoren, die in der Fachliteratur diskutiert werden – nämlich Kompetenz und Charakter der Wissenschaftler*innen sowie wissenschaftlicher Konsens und die Art der Kommunikation. 

Viele Teilnehmer*innen nannten als Grund für Misstrauen die mangelnde Unabhängigkeit von politischen Eliten. Der wahrgenommene Einfluss dieser Eliten auf Expert*innen war besonders in Ungarn und in etwas geringerem Maß in Serbien ein wichtiger Faktor. 

Der zweithäufigste Grund für Misstrauen gegenüber Expert*innen war deren Uneinigkeit (mangelnder Konsens). Einige Teilnehmer*innen waren unsicher, wem sie glauben sollten und wurden misstrauisch. Wenn Expert*innen in Medien auftraten, die als ungeeignet oder nicht unabhängig wahrgenommenen wurden, konnte das dazu führen, dass ihre Kompetenz, Integrität und Unabhängigkeit in Frage gestellt wurden. 

Traditionelle Medien wurden in allen Ländern als wichtige Quelle für Expert*innenmeinungen genutzt, große Unterschiede gab es aber bei der Nutzung sozialer Medien. Vor allem in Ungarn und Serbien wurden soziale Medien als Quellen für Expert*innenmeinungen genutzt. 

Die Ergebnisse deuteten darauf hin, dass die Entwicklung lokalerer, gemeinschaftsbasierter Kommunikationsstrategien zur Vertrauensbildung beitragen könnten.
Mehrere eher regierungskritische Teilnehmer*innen nutzten soziale Medien, um nach ausländischen Expert*innen zu suchen. Andere, die nationalen Krisenstäben misstrauten, suchten dort gezielt nach inländischen Expert*innen, die nicht in den traditionellen Nachrichten auftauchten. Einige der Regierung gegenüber misstrauische Teilnehmer*innen waren nicht in der Lage, aus sozialen Medien verlässliche Quellen zu identifizieren und fielen wenig vertrauenswürdigen Expert*innen zum Opfer.

Schlussfolgerungen: Laut der Autor*innen weisen die Ergebnisse auf zwei Faktoren hin, die in der Fachliteratur bisher weitgehend unberücksichtigt bleiben: der persönliche Kontakt mit (vermeintlichen) Expert*innen und die Unabhängigkeit der Expert*innen von politischen Eliten. Beide Faktoren seien vermutlich im Kontext einer Krise wie der Covid-19-Pandemie von besonderer Bedeutung. Denn Unsicherheit führe wohl dazu, dass sich Menschen an bekannte Personen wenden. Die Studienautor*innen schlagen vor, persönlichen Kontakt systematischer in theoretische Modelle und empirische Studien zum Thema Expert*innenvertrauen einzubeziehen. Die Ergebnisse deuteten darauf hin, dass die Entwicklung lokalerer, gemeinschaftsbasierter Kommunikationsstrategien zur Vertrauensbildung beitragen könnten. 

Die Ergebnisse legen laut der Autor*innen nahe, dass Studien auf Grundlage von Daten aus alteingesessenen westlichen liberalen Demokratien möglicherweise nicht zur Erklärung von Vertrauensbildung in anderen soziopolitischen Kontexten ausreichen. Insbesondere in Ländern, in denen populistische Strömungen einflussreich sind und in denen Regierungen und der Wissenschaft wenig Vertrauen entgegengebracht wird, dürfte nach Einschätzung der Studienautor*innen die Unabhängigkeit von politischen Eliten eine Schlüsselrolle spielen – vor allem in Krisenzeiten. 

Für die Wissenschafts- und Gesundheitskommunikation ließe sich daraus ableiten, dass politische Unabhängigkeit ein wichtiger Faktor für die eigene Glaubwürdigkeit ist. Expert*innen sollten laut der Autor*innen versuchen, ihre berufliche Unabhängigkeit zu wahren und geeignete Kommunikationskanäle abwägen – insbesondere in Situationen, in denen Expert*innenwissen zum Gegenstand politischer Polarisierung wird. 

Einschränkungen: Die Studie beleuchtet eine kurze, frühe Phase der Pandemie. Im Laufe der Zeit könnten sich die Dynamiken der Vertrauensbildung verändert haben – auch in Abhängigkeit von sich wandelnden politischen Kontexten. 

Mihelj, S., Kondor, K., Štětka, V. (2022) Establishing Trust in Experts During a Crisis: Expert Trustworthiness and Media Use During the COVID-19 Pandemic. Science Communication. https://journals.sagepub.com/doi/10.1177/10755470221100558

Orientierung in der Krise: zur Medienpräsenz von Virolog*innen

In der Coronapandemie sind eine Reihe von deutschen Virolog*innen sehr bekannt und populär geworden – nicht zuletzt durch ihre Präsenz in traditionellen Medien, auf Social Media und in neuen Podcastformaten wie dem Coronavirus-Update. Sonja Utz vom Leibniz-Institut für Wissensmedien und der Universität Tübingen sowie Franziska Gaiser und Lara N. Wolfers vom Leibniz-Institut für Wissensmedien haben untersucht, welche Auswirkungen diese Medienpräsenz auf Nutzer*innen hat und welche Rolle ihre parasozialen Beziehungen zu Virolog*innen spielen. 

Methode: Über die Mailingliste der Universität Tübingen sowie Posts auf Twitter, YouTube, Instagram und Facebook wurden Teilnehmende für die Studie rekrutiert. Dabei verwendeten die Wissenschaftler*innen auf Virolog*innen und ihre Podcasts bezogene Hashtags, um möglichst viele Zuhörer*innen dieser Formate zu gewinnen. Es wurden aber auch Personen befragt, die die Virolog*innen nur aus anderen Medien kannten. An einer ersten Umfrage Ende März/Anfang Mai 2020 nahmen 696 Personen teil. An einer zweiten Umfrage zwei Wochen später beteiligten sich 361 von ihnen, von denen aber nur 215 den Teilnehmenden aus der ersten Umfrage zugeordnet werden konnten, weil sie einen anderen Code eingaben als beim ersten Mal. 

Die Teilnehmenden beantworteten Fragen zu ihrer Social-Media-Nutzung und ihrer veränderten Mediennutzung während der Corona-Krise, wie oft sie von bestimmten Virolog*innen gehört hatten und ob sie eine*n von ihnen bevorzugten. Falls ja, beantworten sie Fragen dazu, über welche Medien sie diese*n kannten. Außerdem sollten sie angeben, zu welchem Grad sie Aussagen wie „Mein*e Lieblingsvirolog*in gibt mir ein angenehmes Gefühl – so als ob ich bei einem Freund wäre“ zustimmten. Damit zielten die Wissenschaftlerinnen auf parasoziale Phänomene (PSP) ab, also wahrgenommene zwischenmenschliche Beziehungen zu einer Medienfigur. Mit der Zustimmung zu Aussagen wie „Die Posts von <Name Lieblingsvirologe> nehmen mir etwas von meiner Zukunftsangst“ fragten die Wissenschaftlerinnen ab, inwiefern die Virolog*innen Trost und Zuspruch („solace“) spenden. Gefragt wurde auch, ob die Teilnehmenden Beiträge ihrer*s Lieblings-Virolog*in gelikt, geteilt oder darauf geantwortet haben (verhaltensbezogenes Engagement bzw. „behavioral engagement“). 

Die meisten Befragten mit einer*m Lieblingsvirolog*in nannten Christian Drosten.
Bei allen Teilnehmenden wurde subjektives und faktisches Wissen zu Covid-19 abgefragt. Es wurden außerdem Fragen zu ihrer Fähigkeit gestellt, mit stressigen Situationen umzugehen („coping efficacy“), zu individueller und kollektiver Selbstwirksamkeit (z. B. durch Aussagen wie „Ich vertraue darauf, dass ich [wir als Gesellschaft in Deutschland] zur Eindämmung von Corona beitragen kann“) und dazu, welche vorbeugenden Maßnahmen („preventive behaviors“) sie zur Eindämmung von Corona einhielten. Bei der ersten Erhebung haben die Wissenschaftlerinnen außerdem abgefragt, wie stark der individuelle Bedarf nach Führung („need for leadership“) ist. 

Ergebnisse: Die meisten Befragten mit einer*m Lieblingsvirolog*in nannten Christian Drosten (erste Befragung 72 Prozent, zweite Befragung 69 Prozent). Teilnehmende mit einem*r bevorzugten Virolog*in schnitten bei fast allen Variablen deutlich besser ab. Sie zeigten ein höheres subjektives und objektives Wissen zu Covid-19, höhere individuelle und kollektive Selbstwirksamkeit und stärker ausgeprägtes präventives Verhalten. Nur bei der wahrgenommenen Bewältigungseffizienz („coping efficacy“) unterschieden sie sich nicht vom Rest der Teilnehmer*innen.  

Wer der Kommunikation der*des Lieblingsvirolog*in über zahlreichere Kanäle folgte, zeigte auch stärkeres präventives Verhalten und verhaltensbezogenes Engagement (z.B. Retweeten seiner*ihrer Nachrichten). Wer der Kommunikation des*r Lieblingsvirolog*innen intensiver folgte, zeigte auch stärkeres parasoziales Verhalten. Das war vor allem bei Menschen so, die häufig deren Podcasts hörten. Wie die Wissenschaftlerinnen vermutet hatten, zeigen paarsoziale Phänomene zumindest bei den Variablen Wissen und Trost einen vermittelnden Effekt. Das heißt: Wie sehr sich das Verfolgen der Kommunikation von Virolog*innen auf diese beiden Variablen auswirkt, wird von der Stärke paarsozialen Verhaltens beeinflusst. Das deute laut der Studienautorinnen darauf hin, dass parasoziale Phänomene für Wissen und Emotionen der Nutzer*innen eine wichtige Rolle spielen. Außerdem weisen die Ergebnisse darauf hin, dass der Wunsch nach klarer Führung die Entwicklung parasozialer Bindungen und das Gefühl kollektiver und individueller Selbstwirksamkeit fördere. 

Der große Einfluss von Podcastformaten auf paarsoziale Bindungen unterstreiche den Wert längerer Gesprächsformate für die Ziele der Wissenschaftskommunikation.
Auch bei der zweiten Befragung zeigte sich, dass das Verfolgen der Kommunikation der*s bevorzugten Virolog*in mit stärkerem Verhaltensengagement (Teilen von Tweets etc.) verbunden war. Auswirkungen auf das präventive Verhalten zeigten sich jedoch nicht. Im Gegensatz zur ersten Befragung sagte die Intensität, mit der die Teilnehmenden die Kommunikation der*s Virolog*in verfolgten, voraus, wie hoch sie ihr subjektives Wissen einschätzten und wie tröstlich sie die Kommunikation der*s Virolog*in empfanden. 

Schlussfolgerungen: Die Ergebnisse unterstreichen, wie populär und einflussreich einzelne Wissenschaftler*innen während der Pandemie geworden sind – allen voran Christian Drosten. Auch weisen sie darauf hin, dass Fans der Virolog*innen eine wichtige Rolle als Multiplikator*innen in der Wissenschaftskommunikation spielen könnten. Ein zentrales Ergebnis ist laut der Autorinnen die Bedeutung von parasozialen Prozessen. Daraus lasse sich schließen, dass in der Wissenschaftskommunikation die Entwicklung von Bindungen zu Kommunikator*innen eine wichtige Rolle spielen. Die Ergebnisse weisen unter anderem darauf hin, dass Menschen das Gefühl haben, mehr zu lernen, wenn sie eine parasoziale Bindung zu einer*m Kommunikator*in haben. Da die Stichprobe ein sehr hohes formales Bildungsniveau aufwies, sei zu vermuten, dass das auch bei Akademiker*innen der Fall ist, schreiben die Autor*innen.

Der große Einfluss von Podcastformaten auf paarsoziale Bindungen unterstreiche den Wert längerer Gesprächsformate für die Ziele der Wissenschaftskommunikation. Auch der Wunsch nach klarer Führung scheine die Entwicklung parasozialer Bindungen zu fördern. 

Die Ergebnisse lieferten auch Hinweise auf die emotionale Wirkung von Wissenschaftskommunikation, schreiben die Autorinnen. Im Gegensatz zu Studien, die gezeigt haben, dass Angst positiv mit präventiven Verhaltensweisen zusammenhängt2, zeige sich hier, dass jene Menschen eher präventive Verhaltensweisen an den Tag legten, deren Ängste durch Virolog*innen gelindert wurden. Das führt zu der Vermutung, dass nicht nur Angstappelle, sondern auch positive Emotionen wie Trost rund Zuspruch relevant sein könnten, wenn es darum geht, zu präventivem Verhalten zu ermutigen. 

Einschränkungen: Eine Einschränkung der Studie ist, dass die Stichprobe nicht repräsentativ für die deutsche Bevölkerung ist, da die Teilnehmenden einen überdurchschnittlich hohen formalen Bildungsgrad aufweisen. Individuellen Veränderungen zwischen der ersten und zweiten Erhebung können nur eingeschränkt beurteilt werden, da sich nur ein Teil der Teilnehmenden der zweiten Befragung zuordnen lässt. Der Abstand zwischen den Erhebungen könnte außerdem zu gering sein, um größere Veränderungen beobachten zu können. 

Utz, S., Gaiser, F., Wolfers, L. N. (2022) Guidance in the chaos: Effects of science communication by virologists during the COVID-19 crisis in Germany and the role of parasocial phenomena. In: Public Understanding of Science. https://journals.sagepub.com/doi/full/10.1177/09636625221093194

Neugier und Bewunderung: Ehrfurcht in der Wissenschaftskommunikation

Welche Rolle spielen Gefühle von Ehrfurcht in der Wissenschaftskommunikation? Daniel Silva Luna vom Karlsruher Institut für Technologie und Jesse M. Bering von der University of Otago in Neuseeland haben qualitative Interviews mit Praktiker*innen geführt, um zu untersuchen, wie diese Ehrfurcht verstehen, erleben und in der Wissenschaftskommunikation einsetzen. 

Mehrere Teilnehmer*innen berichteten, dass der Corona-Lockdown zu Ehrfurchtserlebnissen führte, bei denen sie sich plötzlich „wieder verbunden“ fühlten.
Methode: Über eine Mailingliste im Wissenschaftskommunikationsbereich (PSCI-COM) fanden die Wissenschaftler 22 Praktiker*innen, die sich zu einstündigen Online-Interviews über Emotionen in der Wissenschaftskommunikation bereit erklärten. Dafür nahmen die Teilnehmer*innen an einer Verlosung teil, bei der sie einen Gutschein über 150 Euro gewinnen konnten. Die Einzelinterviews wurden im Juni 2020 durchgeführt und drehten sich um die Rolle von Ehrfurcht in der Wissenschaft. 20 der Teilnehmenden arbeiteten hauptberuflich in der Wissenschaftskommunikation, bei zwei von ihnen war dies Teil ihrer Arbeit als Forschende. Der größte Teil war bei einer Universität oder einem Forschungszentrum beschäftigt, einige arbeiteten für ein Wissenschaftsmuseum oder -zentrum, eine gemeinnützige Einrichtung, eine Regierungsorganisation, ein Wissenschaftsfestival oder als Freiberufler*in. Mithilfe einer reflexiven thematischen Analyse (RTA) nach Braun & Clarke3 arbeiten die Autoren zentrale Themen heraus, die verschiedene soziokulturelle Funktionen von Ehrfurcht aufzeigen.

Ergebnisse: Als Hauptthemen identifizieren die Autoren: Unterhaltung (entertainment), Neugier (curiosity), Bewunderung (admiration), Offenbarung (revelation) und Verbindung (connection).

  1. Unterhaltung: auffällige, effekthascherische Aufhänger wie zum Beispiel Explosionen werden von Wissenschaftskommunikator*innen bei Präsentationen eingesetzt – zum Beispiel, um Zuschauer*innen zum Staunen zu bringen oder Begeisterung hervorzurufen. Diese Art von Ehrfurchterzeugung habe eine lange Tradition, zum Beispiel in Form historischer, europäischer Wunderkammern, und trage zur Popularisierung von Wissenschaft bei. Allerdings äußerten Praktiker*innen in den Interviews auch Bedenken. Denn solche Darbietungen könnten unauthentisch wirken, Zuschauer*innen ermüden und von der eigentlichen Aussage ablenken. 
  2. Neugier: Im Gegensatz dazu wurden Gefühle von Ehrfurcht im Sinne von Neugier von vielen Wissenschaftskommunikator*innen als positiv und identitätsstiftend für ihr Verständnis von Wissenschaftskommunikation angesehen. Neugier inspiriere dazu, mehr wissen zu wollen.
  3. Bewunderung: Eine weitere Spielart von Ehrfurcht im Sinne von Bewunderung bezieht sich oft auf wissenschaftliche Entdeckungen oder technische Erfindungen – sei es der Start von Weltraumraketen oder die Erforschung der Tiefsee. Die meisten Befragten verbanden eine Art Ehrfurcht mit Erfahrungen, die mit ihrer Bewunderung und Wertschätzung für den „wissenschaftlichen Fortschritt“ verbunden waren. Kein für die Wissenschaftskommunikation inszeniertes Ereignis, sondern die Wissenschaft selbst dient hier als Quelle von Ehrfurcht.
  4. Offenbarung: Laut der Autoren habe die Ästhetik des Erhabenen nach Edmund Burke (1729–1997) mit ihren übertriebenen Bewertungen und religiösen Untertönen immer noch Einfluss in der Wissenschaftskommunikation. So betrachteten einige der befragten Praktiker*innen eine solche „wahre“ Ehrfurcht als eine Art transzendente Erfahrung. Dieses Gefühl sei sehr großen (z. B. schwarze Löcher, Supernovas, Exoplaneten) oder sehr kleinen (z. B. Mückenlarven, Neutrinos) Dingen vorbehalten. Einige Teilnehmer*innen äußerten die Befürchtung, dass dieses starke Gefühl Menschen dazu bringen könne, sich klein zu fühlen und sich zurückzuziehen. 
  5. Verbindung: Mehrere Teilnehmer*innen berichteten, dass der Corona-Lockdown zu Ehrfurchtserlebnissen führte, bei denen sie sich plötzlich „wieder verbunden“ fühlten – sei es durch die Flora oder den Blick in den Himmel. Gefühle der Ehrfurcht (zum Beispiel gegenüber Schönheit oder Stille) könnten in solchen Momenten dazu dienen, sich wieder mit der Welt zu verbinden. Dabei entstehe ein Gefühl des Staunens über die „alltägliche Natur“, aus dem sich auch Umweltbewusstsein entwickeln könne, schreiben die Autoren. Allerdings könnten Bilder unberührter Natur auch reinen Unterhaltungszwecken dienen oder ungeschicktes Bemühen unterstreichen, Menschen zu politischem Handeln zu motivieren. 
  6. Vielfalt: Einige Teilnehmer*innen nannten Aspekte von Ehrfurcht, die nicht in die fünf Hauptthemen passen – darunter Demut in Bezug auf fiktionalisierte Welten wie sie in Science-Fiction-Filmen dargestellt werden. 
  7. Inklusion: Einige der Praktiker*innen betonten, dass die Darstellungen von Ehrfurcht nicht jede*n auf die gleiche Art und Weise ansprechen würden. Die Autoren betonen, dass Menschen in Abhängigkeit von ihren früheren Erfahrungen unterschiedlich mit Ehrfurcht umgehen. 

Die Autoren betonen, dass Ehrfurcht nicht für alle Menschen und in allen sozialen Kontexten gleich funktioniere.
Schlussfolgerungen: Traditionell werde Ehrfurcht in der Wissenschaftskommunikation vor allem darauf beschränkt, dass sie Neugier auslösen und Menschen zum Lernen bringen solle, schreiben die Autoren. Die Ergebnisse der Studie zeigten jedoch, dass alle beschriebenen Formen von Ehrfurcht im Arbeitsalltag der Praktiker*innen und in verschiedenen soziokulturellen Realitäten bestimmte Funktionen erfülle. Teilweise stünden diese Funktionen im Einklang mit eher klassisch verstandener Wissenschaftskommunikation im Sinne von hierarchischer Wissensvermittlung. Zum Beispiel würde eher werde bei „Ehrfurcht als Bewunderung“ wissenschaftliches Wissen als erkenntnistheoretisch überlegen verstanden. Andere Funktionen von Ehrfurcht hingegen könnten auch in Settings eingesetzt werden, die sich eher an dialogischen und partizipativen Ideen orientierten. Die Übertragung auf vorgefertigte Modelle werde jedoch der Praxis der Wissenschaftskommunikation nicht gerecht. Denn beispielsweise könnten Gefühle der Ehrfurcht parallel für verschiedene Zwecke eingesetzt werden – etwa um das Publikum zu unterhalten und Gelder für Forschung einzuwerben. Das Publikum wiederum könne dabei unterschiedliche Formen von Ehrfurcht erleben – auch solche, die von der*m Wissenschaftskommunikator*in nicht intendiert seien. Die Autoren betonen, dass Ehrfurcht nicht für alle Menschen und in allen sozialen Kontexten gleich funktioniere. Anstatt reflexartige Reaktionen zu erwarten, sollten Praktiker*innen deshalb partizipative und inklusive Räume fördern, in denen unterschiedliche Menschen und Reaktionen Platz finden.

Einschränkungen: Für die qualitative Studie wurde nur eine kleine Anzahl von Praktiker*innen interviewt. Die Stichprobe umfasste zudem überproportional viele Atheist*innen und Agnostiker*innen sowie politisch liberal eingestellte Personen. 

Silva Luna, D., Bering, J. M. (2022) Varieties of Awe in Science Communication: Reflexive Thematic Analysis of Practitioners’ Experiences and Uses of This Emotion. Science Communication. https://journals.sagepub.com/doi/full/10.1177/10755470221098100

Mehr Aktuelles aus der Forschung

Bei seinen Workshops zeigt Samer Angelone von der Universität Zürich Wissenschaftler*innen, wie sich Erzähltechniken aus Filmen für Präsentationen und Publikationen nutzen lassen. In einem Beitrag für die Fachzeitschrift Science Communication schreibt der Filmemacher und Forscher, wie der Film „Don’t Look Up“ (2021) mit Leonardo DiCaprio und Jennifer Lawrence Herausforderungen von Wissenschaftskommunikation veranschaulicht.

Obwohl ältere Leute eine einflussreiche demografische Gruppe darstellen, werden sie in der Klimakommunikation vernachlässigt, schreibt Briony Latter vom King’s College in London. Die Klimawandel-Forscherin hat untersucht, mit welcher Sprache, dem Fokus auf welchen Werten (zum Beispiel Altruismus) und welchem Framing diese Zielgruppe besser erreicht werden kann. Dazu hat sie eine Methode der Organisation Climate Outreach genutzt, bei der sich Menschen über den Klimawandel austauschen. Die Ergebnisse zeigen, dass den Teilnehmenden Gemeinschaft, Rücksichtnahme und Verantwortung besonders wichtig sind. Betont wird außerdem der Einfluss von Regierungen und Organisationen in Bezug auf den Klimawandel.

Wie unterscheiden sich die Reaktionen auf Facebook-Posts von männlichen und weiblichen Wissenschaftler*innen? Das haben Keren Dalyot, Yael Rozenblum und Ayelet Baram-Tsabari vom Technion – Israel Institute of Technology anhand von Posts und Kommentaren auf einer populärwissenschaftlichen israelischen Facebook-Seite untersucht. Es zeigt sich, dass weibliche Wissenschaftlerinnen mehr irrelevante, feindliche und positive Kommentare bekamen als männliche. Außerdem war zu beobachten, dass sie weniger feindselige Kommentare und Ratschläge erhalten, wenn sie in wissenschaftlichem Jargon schreiben.

Mit der Visualisierung von wissenschaftlichen Daten mittels Visual-Effects-Software aus der Filmindustrie beschäftigen sich Eric A. Jensen, Kalina Maria Borkiewicz und Jill P. Naiman in einem Essay. Darin zeigen sie, was darüber bekannt ist, wie Menschen auf diese Art der Wissenschaftskommunikation reagieren. Sie bieten einen Überblick über die Literatur zu diesem Thema, die wichtigsten Ergebnisse und Forschungslücken. Sie diskutieren Erkenntnisse zu Verständlichkeit, Filminhalt sowie das Eintauchen in virtuelle Realität und legen damit Grundlagen für Hypothesen, die in zukünftigen Studien getestet werden können.

Die Forschung zur Klimakommunikation sei in den vergangenen Jahren geradezu explodiert, schreiben Chelsea R. Canon, Douglas P. Boyle und K.J. Hepworth in einem Beitrag für Public Understanding of Science. Um Wissenschaftler*innen dabei zu unterstützen, sich in dem schnell entwickelnden Bereich zurechtzufinden, haben die drei Forscher*innen eine Wissenslandkarte zur Klimakommunikationsforschung erstellt. Dazu haben sie Techniken der Netzwerkanalyse und der Datenvisualisierung auf Metadaten von 2.995 Veröffentlichungen angewendet.

Wie hat sich der Covid-19-bedingte Lockdown im Jahr 2021 auf Wissenschaftler*innen und Postdoktorand*innen in Großbritannien ausgewirkt? Das haben Jamie Beverstock und Martyn Pickersgill von der University of Edinburgh in einer kleinen qualitativen Studie untersucht. Sie betrachteten unter anderem, wie Herausforderungen in der Pandemie konstruiert und ausgehandelt werden, und warum sich Forscher*innen zu diesem Zeitpunkt (nicht) auf das Thema Covid-19 ausrichten konnten. Gezeigt wird, wie die Erfahrungen in der Pandemie mit bereits bestehenden professionellen Diskursen – zum Beispiel zu Finanzierungsfragen – interagieren.