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„Wenn es wichtig ist, muss es auch mal lang sein“

Journalismus in Zeiten der Krise: Das Coronavirus-Update mit Christian Drosten und Sandra Ciesek wurde in kurzer Zeit ein großer Podcast-Erfolg. Aus journalistischer Perspektive wurde aber auch Kritik laut. NDR-Info-Redakteurin Korinna Hennig berichtet von Herausforderungen, Selbst-Kannibalisierung und Lehren für die Wissenschaftskommunikation. 

Korinna Hennig ist eine der drei Redakteurinnen, die hinter dem Coronavirus-Update von NDR Info stecken. 2020 hat sie das Format mit entwickelt. Sie hat Germanistik, Geschichte und Journalistik in Bamberg, Salamanca und Hamburg studiert und arbeitet seit 2002 bei NDR Info, zunächst in der Politik und der Kultur, mittlerweile als Teamleiterin des Ressorts Wissenschaft. Gemeinsam mit ihren Kolleginnen gestaltet sie heute unter anderem den Wissenschafts-Podcast „Synapsen“. Foto: Christian Spielmann/NDR

Als der NDR Anfang 2020 bei Christian Drosten für einen täglichen Corona-Podcast anfragte, hatten Sie ein 15-minütiges Format im Sinn. Warum kam es anders? 

Am Anfang ging alles ziemlich schnell. Unsere Kolleg*innen aus der Podcastentwicklung hatten die Idee für ein schnelles Update zum Thema, und wir haben einfach losgelegt. Sonst wäre vielleicht vorher klar gewesen, dass zehn bis fünfzehn Minuten für Wissenschaft verdammt wenig sind. Christian Drosten hat sofort zugesagt. Dann ging’s los – und wir haben dann in der Umsetzung gemerkt, dass die Idee eines schnellen Updates nicht so richtig funktioniert. Bei der ersten Folge dachten wir, dass wir erst einmal grundlegende Begriffe erklären müssen und dann mit der Zeit automatisch kürzer werden würden. Aber das ist nicht passiert. An einer Stelle hat Christian Drosten selbst überrascht gesagt: „Jetzt rede ich schon sehr lange.“ 

Warum haben Sie ihn nicht unterbrochen?

Das hatte zum Teil technische Gründe. Wir haben mit einer App aufgenommen, bei der es – wie beim Telefonieren – einen Verzögerungseffekt gab. Deshalb war es nicht einfach, jemandem ins Wort zu fallen, ohne die Kommunikation zu behindern, besonders, wenn man sich dabei nicht sieht. Ich habe dann notiert, wenn ein Fachwort gefallen ist, das wir später noch erklären sollten. Im Laufe der Zeit sind wir aber aktiver geworden. Die Technik funktionierte immer besser und wir waren tiefer eingelesen, sodass wir genauere und klügere Fragen stellen konnten. 

Das Coronavirus-Update

Das Coronavirus-Update von NDR Info wurde zum ersten Mal im Februar 2020 veröffentlicht. Inzwischen wurden 137 Folgen produziert. In dem Podcast sprachen die Wissenschaftsredakteurinnen Korinna Hennig, Anja Martini und Beke Schulmann im Wechsel mit Christian Drosten, dem Leiter der Virologie in der Berliner Charité, und mit Sandra Ciesek, Leiterin des Instituts für Medizinische Virologie am Universitätsklinikum Frankfurt. Der Podcast war mit Christian Drosten gestartet, seit September 2020 wechselte er sich mit Sandra Ciesek als Gesprächsgast ab. Auch gab es Folgen mit anderen Gästen, die bis heute in unregelmäßigen Abständen fortgesetzt werden. Der Podcast war innerhalb von kürzester Zeit sehr populär, die einzelnen Folgen wurden jeweils rund eine Million Mal abgerufen. Unter anderem wurden das Format und die Arbeit der Redakteurinnen mit dem Grimme Online Award, dem Preis der Bundespressekonferenz und dem Georg von Holtzbrinck Preis für Wissenschaftsjournalismus ausgezeichnet.

Häufig wird in der Wissenschaftskommunikation geraten, Dinge knapp und allgemeinverständlich darzulegen. Die Folgen des Coronavirus-Updates sind teilweise länger als anderthalb Stunden und voller Fachwörter. Warum haben trotzdem so viele Menschen zugehört? 

Das lag sicher zuerst einmal an der Situation. Wir werden oft gefragt, ob wir nicht auf ähnliche Weise einen Klima-Podcast machen können. Aber das Konzept lässt sich leider nicht ohne weiteres übertragen – obwohl das Thema Klima auch alle Menschen betrifft. Aber die Pandemie war in ihren unmittelbaren Auswirkungen viel greifbarer, sie war neu für die Menschen, während das Klima-Thema schon lange in der Welt ist.

Hinzu kam, dass die Corona-Maßnahmen das öffentliche Leben teilweise lahmlegten und viele Leute zu Hause saßen. Ich glaube, das lässt sich mit dem Lagerfeuereffekt vergleichen, den das Fernsehen früher hatte. Zu Anfang der Pandemie gab es auch nicht so viele umfangreiche Quellen, weil die Kolleg*innen in den Printredaktionen zwar tolle Arbeit gemacht haben, aber meist nur eine bestimmte Zeilenzahl zur Verfügung hatten. 

Außerdem war Christian Drosten einer der Menschen mit der größten Expertise in Deutschland. Er konnte mit Verweis auf unseren Podcast manche andere Interviewanfragen absagen. Das war – so hat er es erzählt – auch ein Motiv für ihn, mitzumachen. Auch von uns war es ausdrücklich so gedacht, dass die Inhalte anderen Kolleg*innen zu Verfügung stehen. 

Der Podcast war sehr erfolgreich und wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Aber es gab auch Kritik. Holger Wormer, Professor für Wissenschaftsjournalismus an der TU Dortmund, verwendete den Begriff „Cheerleading-Journalismus“. Hatte er Recht? 

„Auch zu Beginn haben wir Christian Drosten nicht einfach das Mikro hingehalten und ihn reden lassen.“ Korinna Hennig
Vor ein paar Wochen, nach meiner Keynote bei einer Fachgruppen-Tagung der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, hat sich Holger Wormer im Publikum zu Wort gemeldet und gesagt: Wenn er das später geschrieben hätte, hätte er das nicht so hart formuliert. Das hat mich natürlich gefreut. Aber ich finde die Kritik nach wie vor nicht unberechtigt. Gerade zu Anfang haben wir als Journalist*innen nicht viel Raum eingenommen und weniger nachgefragt als später. Das lag natürlich an der Krisensituation damals, in der wir nicht alles so machen konnten, wie wir es normalerweise tun würden. In einem solchen Fall finde ich es gerechtfertigt, vorübergehend nur einen einzelnen Experten zu befragen, wenn er wie Christian Drosten die perfekt passende Expertise mitbringt und damit sehr sorgfältig umgeht. Christian Drosten hat immer deutlich gemacht, dass er nicht auf alles eine Antwort hat. Wir haben auch fast nie über seine eigenen Studien gesprochen. Später haben wir Sandra Ciesek dazu geholt und weitere Fachleute befragt. 

Doch auch zu Beginn haben wir Christian Drosten nicht einfach das Mikro hingehalten und ihn reden lassen. Ich habe erst später begriffen, dass wir vielleicht sichtbarer hätten machen müssen, wie viel Recherche von unserer Seite dahintersteckte. Wir haben die Studien und Einordnungen dazu gelesen und uns mit Fachleuten ausgetauscht. Eine Handvoll Virolog*innen hat Christian Drosten und Sandra Ciesek widersprochen. Das haben wir immer wieder geprüft und sind dann zu dem Gesamtbild gekommen, dass dieser pauschale Widerspruch unlogisch ist. Warum hätten wir das ständig thematisieren sollen, wenn es einen breiten wissenschaftlichen Konsens gab? Aber im Sinne der Transparenz wäre es sicher gut gewesen, unseren Weg dahin deutlicher zu machen. 

Glauben Sie, dass das Coronavirus-Update nachhaltig Interesse für Wissenschaft geweckt hat? 

„Dass wir Hintergrundwissen über Wissenschaft vermittelt haben, ist eine Besonderheit an dem Format.“ Korinna Hennig
Ich glaube schon. Dass wir Hintergrundwissen über Wissenschaft vermittelt haben, ist eine Besonderheit an dem Format – und auch ein Erfolgsfaktor.  Auch, wenn viele Menschen inzwischen nicht mehr an Corona interessiert sind, haben sie ein Grundwissen aufgebaut, das man reaktivieren kann. Das sehen wir auch an unserem Wissenschaftspodcast „Synapsen“, den wir schon vorher geplant hatten. Auch hier sagen wir: „Wenn es wichtig ist, muss es auch mal lang sein“. Wir versuchen die Metaebene zu erklären und Wissenschafts-Hintergrunddiskurse zu vermitteln. Den Rückmeldungen nach zu urteilen, wird das von den Zuhörer*innen sehr wertgeschätzt. 

Wir müssen aber auch sagen, dass wir bestimmte Gruppen gar nicht erreicht haben, was ich sehr schade finde. Wir müssen uns überlegen, wie wir besseres Wissenschaftsverständnis auch unter Bevölkerungsgruppen fördern können, an die wir bisher nicht gut herankommen: Solche, die der Wissenschaft aus verschiedenen Gründen skeptisch gegenüberstehen, oder auch Menschen, die bisher wenig Zugang zu Bildung hatten oder bei denen es eine Sprachbarriere gibt. Oft fehlen in den Redaktionen die Kapazitäten dafür, entsprechende Ideen zu entwickeln. 

Wissenschaftsjournalist*innen mussten sich in der Krise in einer Situation der Unsicherheit und einer extrem schnellen Wissensproduktion zurechtfinden. Wie war das für Sie?

Anfangs gab es sicher ein bisschen eine Überforderung, weil die Situation so politisiert war. Bei mir war es so, dass ich mich für das Thema interessiert habe und quasi zufällig als Host zu dem Podcast gekommen bin. Medizin war vorher nicht mein Kernthema. Ich habe mich eher mit Bildungsforschung, Meta-Diskussionen in der Wissenschaft und Themen aus der Geschichte und Linguistik beschäftigt. Natürlich kann man auch mit einem geisteswissenschaftlichen Hintergrund Wissenschaftsredakteurin sein. Aber für mich war der Aufwand, bestimmte Dinge zu verstehen, größer als bei Naturwissenschaftler*innen. Ich habe trotzdem gesagt: Ich lese die Studien, aber maße mir nicht an zu denken, ich hätte alles sofort verstanden. 

Ich glaube, es gibt zwei wesentliche Zutaten, die es im Wissenschaftsjournalismus braucht. Das eine ist eine fachliche Expertise, die man entweder mitbringt oder die man sich aufbaut. Und das andere ist, um es vielleicht etwas pathetisch zu sagen: Demut. Nicht vor den Fachleuten, sondern vor dem Sachgegenstand.

Der Druck auf die häufig kleinen Wissenschaftsredaktionen war in der Pandemie riesig. Wie würden Sie die Situation beschreiben?

„Auch für Journalist*innen ist es hart, wenn keine ausreichenden Ressourcen zur Verfügung stehen.“ Korinna Hennig
Ich möchte unsere Arbeitsbelastung nicht mit der von Menschen in Pflegeberufen oder mit der von Soldaten vergleichen, aber in aller Vorsicht würde ich sagen: Das Prinzip ist dasselbe. In der Pflege ist nicht nur die schlechte Bezahlung problematisch, sondern auch die extrem belastende Arbeitssituation und die Personalnot. Dadurch entstehen moralische Verletzungen. Denn die meisten Menschen in der Pflege sehen in ihrem Beruf doch eine wertvolle Aufgabe, die sie verantwortungsvoll ausfüllen wollen, was unter den Bedingungen oft nicht gelingen kann.

Auch für Journalist*innen ist es hart, wenn keine ausreichenden Ressourcen zur Verfügung stehen. So etwas wie das Coronavirus-Update kann man nicht halbgut machen. Das bedeutete für uns: Wir haben rund um die Uhr gearbeitet. Nur so war es möglich, verantwortungsbewusst zu handeln. Um Missverständnisse zu vermeiden und entscheiden zu können, was wir weglassen können, mussten wir einen riesigen Rechercheaufwand leisten. 

Ich glaube, viele Journalist*innen – besonders in der Wissenschaftsressorts – haben sich selbst kannibalisiert, aus Verantwortungsgefühl und um moralische Verletzungen zu vermeiden. Das war für uns schon eine extreme Belastung, wir haben das auch körperlich und psychisch gespürt.

Hat sich denn im Zuge der Pandemie etwas an der Wertschätzung und den strukturellen Bedingungen des Wissenschaftsjournalismus verändert? 

Ich glaube schon, dass es mehr Anerkennung gibt, aber auch mehr Gezerre und Polemik, wenn Erwartungen nicht erfüllt werden. Für uns kann ich sagen: Wir werden im NDR jetzt anders wahrgenommen und finden mit unseren Themen auch mehr Gehör. Trotzdem gibt es finanziellen Druck. Die Zeiten, in denen bei den Öffentlich-Rechtlichen alles ganz locker lief, sind lange vorbei. Bei uns arbeiten sich viele Leute genauso kaputt wie woanders. Wir konnten personalmäßig ein kleines bisschen aufstocken, und ich hoffe, das ist in anderen Wissenschaftsredaktionen ähnlich. Trotzdem glaube ich, dass man mehr tun müsste. Insgesamt passiert noch viel zu wenig.