Foto: Khamkéo Vilaysing

Muss Wissenschaft Falschinformationen bekämpfen?

Auf seinen Tweet, eine Kernaufgabe von Wissenschaft im 21. Jahrhundert sei es, Falschinformationen zu bekämpfen, erntete Sebastian Seiffert viel Kritik und Entrüstung. Im Gastbeitrag geht der Chemiker auf die Reaktionen ein.

Es passiert mir immer wieder: Einer meiner Tweets wird durch einen Großaccount geteilt, etwa durch Karl Lauterbach, Renate Künast oder Luisa Neubauer, und erregte Accounts poltern daraufhin wüst dagegen – und damit meine ich ausdrücklich nicht sachliche Kritik. Bei einem kürzlichen Tweet zu den Aufgaben von Wissenschaft brauchte es keine reichweitenstarken Accounts, um den Sturm der Entrüstung binnen nur drei Stunden so massiv werden zu lassen, dass ich das frisch abgeschickte Statement wieder löschte. Welch polarisierende Aussage hatte ich getroffen?

Es waren bloß 13 Worte: „Wissenschaft hat im 21. Jahrhundert drei Kernaufgaben: Forschung, Lehre und Bekämpfung von Falschinformationen.“

Forschung, Lehre und Bekämpfung von Falschinformationen
Natürlich ist das ein reißerisches Statement. Vor allem das Wort „Bekämpfung“ ist sicher strittig. Ich hatte vor dem Absenden in der Tat darüber reflektiert – und mich am Ende bewusst für den Tweet entschieden.

Am 17. Juli schrieb ich um 8:45 Uhr auf Twitter: „Wissenschaft hat im 21. Jahrhundert drei Kernaufgaben: Forschung, Lehre und Bekämpfung von Falschinformationen.“ Gegen 12 Uhr löschte ich den Tweet wieder, weil mir die Reaktionen darauf zu harsch wurden. Foto: Screenshot Sebastian Seiffert

Die Kritik unterteilte sich in drei Formen: Erstens solle Wissenschaft keine Falschinformation bekämpfen und könne das auch nicht, weil sie selber inhärent auf Irrtum beruhe. Die Falschinformation von gestern sei die gesicherte Erkenntnis von heute. Zweitens habe Wissenschaft neutral zu sein. Sie solle Wissen schaffen und weitergeben, aber niemals gesellschaftliche Entwicklungen bewerten und schon gar nicht beeinflussen. Ein dritter Teil sah Wissenschaft als Teil einer aufkommenden Tyrannei, in der verschwörerische Kräfte die Menschen zu unterdrücken versuchten.
Die Reaktionen brachten mich dazu, den Tweet wieder zu löschen. Das Thema stellte sich als offensichtlich zu komplex und vor allem zu polarisierend für ein Statement im Kurznachrichtenstil heraus. Ein guter Grund, es differenzierter zu betrachten.

Was Wissenschaft ist
Fangen wir damit an, was eigentlich die Aufgabe von Wissenschaft ist. Im Grunde steckt die Antwort im Namen: Wissen schaffen. Systematisch und nach einer soliden, etablierten Methode, die auf kollegialen Checks and Balances beruht.

In meinen Vorlesungen sage ich oft: „In der Wissenschaft suchen wir nicht nach der Wahrheit. Wenn Sie diese finden wollen, dann befassen Sie sich bitte mit Philosophie. In der Wissenschaft geht es uns vielmehr um das beste Abbild der Wahrheit. Dies nennen wir Modell.“
Ein Modell ist eine vereinfachte Konzeptualisierung eines natürlichen Zusammenhangs, die möglichst einfach und dennoch weit gültig ist. Es ist intrinsisch nicht vollumfassend und hat Gültigkeitsgrenzen, innerhalb derer wir mit dem Modell die Natur beschreiben können. Außerhalb davon müssen wir das Modell entweder erweitern oder ein ganz neues aufsetzen.

Dieser Prozess geschieht in der Wissenschaft durch Irrtum und Verbesserung. Wir können mit Modellen Voraussagen machen und diese verifizieren; wir können allerdings nicht die Modelle selbst verifizieren. Doch wir können sie falsifizieren, indem wir Beobachtungen finden, die mit den Modellen nicht im Einklang sind. Dann müssen wir sie weiterentwickeln; und eben so funktioniert der wissenschaftliche Fortschritt. Gerhard Vollmer bezeichnete das als „Empor-irren“.

Aber dieses Empor-irren, dieser Prozess aus Modellbildung, Falsifizierung und Neumodellierung geschieht nicht im luftleeren Raum. Es baut auf einer soliden Basis aus gesicherten Erkenntnissen und etablierten Modellen auf, für die es auch den kritischsten Wissenschaftler*innen bislang nicht gelang, sie zu Fall zu bringen. Die Hauptsätze der Thermodynamik etwa sind ein Beispiel dafür.

Wenn Irren Teil der Wissenschaft ist, kann sie Falschinformationen bekämpfen?
Auf den ersten Blick scheint der erste Kritikpunkt also nachvollziehbar. Dabei ist aber auf den Tonfall zu achten: Geht es der kommentierenden Person wirklich um die Methode des Erkenntnisgewinns oder will sie wissenschaftliche Aussagen prinzipiell unglaubwürdig machen? Letzteres ist zumindest in meiner Wahrnehmung leider die häufigere Variante. Denn auf den zweiten Blick geht die Kritik in dieselbe Richtung wie die Unterstellung, (Natur-)Wissenschaft basiere auf vollumfänglicher Offenheit, keine Erkenntnisse seien gesichert und daher erstmal anzuzweifeln. Das ist nichts weniger als der Versuch, naturwissenschaftliche Aussagen prinzipiell unglaubwürdig zu machen. Um es klar zu benennen: Den Manipulationsansatz, (Natur-)Wissenschaftsaussagen als prinzipiell anzuzweifeln darzustellen, nehme ich inzwischen als verbreitete Leugnungstaktik wahr, und ich finde, er gehört auch so benannt und behandelt.

Ja, Naturwissenschaft irrt sich empor. Doch das geschieht dank der wissenschaftlichen Methode auf einem stetig wachsenden Fundament aus gesicherten Erkenntnissen. Das bietet eine solide Basis, auf der die Wissenschaft Falschinformationen fundiert und vertrauenswürdig abwehren kann.

Wissenschaft im (Des-)Informationszeitalter
Durch diese Arbeitsweise schafft Wissenschaft Wissen. Jahrhundertelang war sich das selbst genug. Doch dringt die Wissenschaft inzwischen in Bereiche vor, die direkte Rückwirkung auf unser Leben und Zusammenleben haben, etwa im Bereich der Synthetischen Biologie, der Informationstechnologie oder der personalisierten Medizin. Demnach tritt der Frage „Woran arbeitest Du als Wissenschaftler?“ zunehmend (und zurecht) die Frage nach der eigenen Motivation sowie der Relevanz für mein Gegenüber an die Seite. Nicht zuletzt, weil Wissenschaft steuerfinanziert ist, sind diese Fragen absolut legitim. Wissenschaft muss sich gegenüber der Bevölkerung stets erklären und rechtfertigen können.
Allerdings gilt das offenbar nicht umgekehrt. Sobald Wissenschaftler*innen der Bevölkerung Handlungsweisen nahelegen, sei es zum Infektionsschutz, zum Klimaschutz oder einfach zum persönlichen Wohlergehen, brechen in Online-Kommentarspalten und unter einschlägigen Hashtags auf sozialen Netzwerken Stürme der Entrüstung los. In ihren extremen Ausläufern sehe ich eine grundsätzliche Wissenschaftsskepsis, die Wissenschaftler:innen mit Fragen des „cui-bono“ und „ich-frag‘-ja-nur“ Typs bösartige Eigeninteressen unterstellt. Selbst Leitmedien gießen nicht zuletzt durch Überschriften wie „Die Lockdown-Macher“ Öl ins Feuer.

Ich erkenne in dieser neuen Wissenschaftsskepsis im wesentlichen zwei Ebenen: die Individuelle, auf der Menschen sagen „Ich will nicht hören, was die mir einreden wollen.“ Gefährlich wird es, wenn sich dies mit der zweiten Ebene paart: professionelle Desinformation durch Netzwerke, die die Politik und öffentliche Meinung manipulieren, wie Journalistinnen am Fall des Heartland Institute zeigen konnten. Hinter den Kampagnen stecken Lenkungsköpfe mit Eigeninteressen, die für Macht und wirtschaftliche Profite Falschinformationen verbreiten — und damit wohl auf eine urmenschliche Schwäche treffen: einfache Unwahrheiten einer komplexen Realität vorziehen zu wollen.

In diesem Spannungsfeld sind Falschinformationen wie Treibhausgase: Leichter freigesetzt als wieder eingefangen. Sehr schädlich. Und dienlich dem Profit von einzelnen – zum Nachteil von vielen.

Wissenschaft und Aktivismus
Ist es nun Aufgabe von Wissenschaft, dem entgegenzutreten?

Diese Frage führt uns ins Spannungsfeld aus Wissenschaft und Aktivismus. Darf, ja soll Wissenschaft auch aktivistisch sein? Eine schwere Frage, auf die sowohl „ja“ als auch „nein“ nachvollziehbare Antworten sind. Ja, weil wir in eine Zeit steuern, in der gesellschaftliche Konflikte und letztlich wohl auch Kriege weniger durch unterschiedliche Weltanschauungen begründet sein werden als durch Ressourcenkonflikte – die aufgrund des Ungleichgewichts unserer Lebensweise mit Naturprinzipien und planetaren Grenzen entstehen. Und nein, weil aktivistische Wissenschaft wahrscheinlich bei nicht wenigen an Glaubwürdigkeit und Seriosität verliert. Sie ist dann nicht mehr unabhängige Kontrollinstanz, sondern selbst Interessensvertretung.

Das macht den zweiten Kritikpunkt zum wohl strittigsten. Wer soll Informationen bewerten? Ich würde sagen: Wer, wenn nicht zumindest auch die Personen, die das Wissen und die Übersicht zu solcher Bewertung haben? Unter meinem Tweet antworteten einige, dies sei Aufgabe des Journalismus. Eben hierzu hat Sara Schurmann bei einer Podiumsdiskussion zum Thema „Muss Wissenschaft lauter werden“ herausgestellt, dass viele Journalist*innen ihre Aufgabe in der Berichterstattung, nicht jedoch in der Bewertung sehen; diese Rolle falle vielmehr in den Bereich der Wissenschaft. Dort aber spielen viele den Ball ebenso gern zurück. Wie lösen wir dieses Dilemma? Am besten wäre es wohl, wenn beide sich dieser Aufgabe annehmen – am allerbesten gemeinsam. Bis dahin sollten wir Wissenschaftler*innen vielleicht einfach mal anfangen.

Der dritte Kritikpunkt ist der gefährlichste, denn er birgt eine gesellschaftliche Abwärtsspirale der Gegen-Aufklärung. Und er wird durch den ersten Punkt befeuert: Wer nicht versteht, wie Wissenschaft dazu kommt, bestimmte Sachverhalte als wahr zu betrachten, und dass es dabei nicht auf Personen oder Meinungen ankommt, sondern darauf, wie gut die Hypothese abgesichert ist, bekommt leicht den Eindruck, dass Willkür und Machtspiele am Werk seien, um irgendeine herbei fantasierte Agenda durchzudrücken.

Wissen schaffen im Dialog
Wie aber ist nun damit umzugehen? In meinen Augen soll, ja muss Wissenschaft Desinformationen bekämpfen, weil es nicht zu tun schlicht zu gefährlich ist. Und weil es zumindest bisher noch zu wenige tun. Dazu braucht es drei Dinge: Glaubwürdigkeit, Zuhören und viele Stimmen aus der Wissenschaft.

Da Wissenschaft inhärent auf das Individuum und die Gesellschaft zurückwirkt, ist es essenziell, sich zu erklären und den Dialog zu suchen: empathisch und auf Augenhöhe. Die Kanäle dafür können und müssen vielfältig sein. Social Media, Leser*innenbriefe und am besten wohl das persönliche Gespräch im persönlichen Umfeld, auf Grundlage gegenseitigen Vertrauens und Respekts.

Gleichsam wichtig ist dabei das Zuhören. Wir müssen aufnehmen, warum Menschen verunsichert sind. Sonst werden genau diesen Punkt andere Akteure bedienen; nämlich die mit den oben genannten Eigeninteressen. Menschen verspüren zurecht Sorgen, sie haben Zukunftsängste und erleben den Verlust von sozialem Kitt. Hierauf sind Krallenausfahren und Flucht (in Parallelwelten) wahrscheinlich natürliche Reaktionsmuster.

Letztlich braucht es Einheit. Um Desinformationen wirksam zu begegnen, braucht es viele Wissenschaftler*innen, die mitwirken und die passende Expertise mitbringen. Die Wissenschaft muss lauter werden – „lauter“ im Sinne von stimmgewichtiger.

Wer, wenn nicht wir
Viele Wissenschaftler*innen wollen das jedoch nicht. Sie sehen ihre Aufgabe vor allem darin, in Ruhe zu forschen (und leider oft weniger zu lehren). Diese Sicht auf Wissenschaft stammt aber aus einer Zeit, in der Desinformationen nicht in dem Ausmaß existierten wie heute. Im 21. Jahrhundert spielen Desinformationen eine entscheidende Rolle in Politik und Gesellschaft.
Es mag also vielleicht nicht die angestammte Aufgabe von Wissenschaft sein, Desinformation zu bekämpfen. Aber sie sind Teil unserer Welt. Deshalb müssen wir uns dieser Aufgabe annehmen – gemeinsam mit Politik, Journalismus und möglichst vielen weiteren gesellschaftlichen Akteuren.

Insofern gilt: Wissenschaft hat im 21. Jahrhundert drei Kernaufgaben: Forschung, Lehre und Bekämpfung von Falschinformationen.

Gastbeiträge spiegeln nicht zwangsläufig die Meinung unserer Redaktion wider. Eine Langfassung erschien zuerst auf Sebastian Seifferts Blog.