Matej Meza

Mit Citizen Science das Vertrauen in Wissenschaft fördern

Wie definieren wir gesellschaftlichen Zusammenhalt? Warum es wichtig ist, dass Bürger*innen und Wissenschaftler*innen diese Frage gemeinsam erforschen, berichten die Projektverantwortlichen Julia Gantenberg und Sarah Göhmann des Projektes „GINGER – Gemeinsam Gesellschaft erforschen“ im Gastbeitrag.

Unsere demokratische Gesellschaft steht vor vielfältigen Herausforderungen. Wie wichtig die Reflexion von gesellschaftlichem Zusammenleben ist, zeigt aktuell die Corona-Pandemie, die das individuelle wie soziale Leben herausfordert. Was bedeutet „zusammen“ und „gemeinsam“ in einer Krise, mit der alle individuell umgehen müssen? Fühlen wir uns mehr verbunden? Oder dominiert das Gefühl der Ungleichheit? Gibt es diesbezüglich milieuspezifische Unterschiede? Wie können wir uns solidarisch verhalten? Ebenso zeigt die aktuelle Situation, wie unterschiedlich die Erwartungen an Wissenschaft sind. Es ist wichtig, darüber aufzuklären, was Wissenschaft mit ihren Ergebnissen leisten kann – und was nicht.

Vor diesem Hintergrund entstand das Citizen-Science-Projekt GINGER des Zentrums für Arbeit und Politik (zap) und der Universität Bremen. Als Einrichtung, die Wissen produziert und vermittelt, gehört es zum Selbstverständnis des zap, nicht nur über Gesellschaft, sondern auch mit der Gesellschaft zu forschen. 

Aktuell wird im Projekt GINGER zu Themenfeldern wie Verteilungs- und Teilhabe-Konflikten, Migration, Begegnungen im öffentlichen Raum sowie dem Wandel gesellschaftlicher Kommunikation geforscht. Im Rahmen von Kooperationen sind es aktuell Themen wie intersektionale Diskriminierungserfahrungen von geflüchteten jungen Frauen, Zukunftsperspektiven von Jugendlichen und Gründe für das Erstarken rechter Parteien.

Die gewonnen Daten fließen in die fachwissenschaftliche Forschung des ebenfalls BMBF-geförderten bundesweiten „Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt“ (FGZ) ein, an dem auch das zap beteiligt ist.

Citizen Science – Herausforderung und Chance für die Sozialwissenschaften

Singvögel zählen, Wasserproben entnehmen, Baumbestände dokumentieren: Während Bürger*innenbeteiligung bei naturwissenschaftlichen Fragestellungen mittlerweile etabliert ist, gibt es vergleichsweise wenige Projekte in den Sozialwissenschaften. Eine Schwierigkeit sei, dass die Forschenden die nötige Distanz zum Forschungsgegenstand wahren müssen (vgl. Goebel et al. 2020; Pettibone/Ziegler 2016)1. Oft sind die Forschungsgegenstände in den Sozialwissenschaften gesellschaftliche Strukturen, in die man als Forscher*in selbst involviert ist. In GINGER greifen wir diese Herausforderung gezielt auf, indem wir die Reflexion der besonderen Rolle sozialwissenschaftlich Forschender in Workshops und Online-Tutorials bewusst thematisieren. In diesen begleitenden Angeboten lernen die Gesellschaftsforscher*innen die Grundlagen des sozialwissenschaftlichen Arbeitens kennen und können die verschiedenen Phasen des Forschungsprozesses anhand von Übungen reflektieren.

Gleichwohl wird in Citizen Science auch ein Innovationspotenzial für die Sozialwissenschaften gesehen (vgl. Franzen/Hilbrich 2015)2. So kann der partizipative Ansatz relevante Impulse für die sozialwissenschaftliche Forschung geben. Zum Beispiel kann er genutzt werden, um gesellschaftsnahe Forschungsfragen zu entwickeln, Daten zu liefern, zu denen Wissenschaftler*innen nur schwer Zugang bekommen, oder Ergebnisse aus anderer Perspektive zu reflektieren. Durch die gemeinsame Forschung mit Bürger*innen lassen sich gesellschaftliche Phänomene ganz neu betrachten. Speziell Fragen können weitaus umfassender beantwortet werden, wenn die Perspektive der Gesellschaftsakteur*innen miteinbezogen wird. Solche Fragen sind beispielsweise: Was ist gesellschaftlicher Zusammenhalt , was stärkt oder schwächt ihn und in welchen Lebensbereichen wird er gesehen?

Im Rahmen des Projekts GINGER haben Citizen Scientists die Möglichkeit, sich mit unterschiedlichen Partizipationsgraden an allen Phasen des Forschungsprozesses zu beteiligen. Sie werden dazu befähigt, eigene Forschungsfragen zu entwickeln und selbst Daten zu erheben. Diese werten sie anschließend im Dialog mit Wissenschaftler*innen aus und bereiten sie gemeinsam für die wissenschaftsinterne wie -externe Öffentlichkeit auf. Dabei können Bürger*innenforscher stets eigene thematische Schwerpunkte setzen. Dadurch berücksichtigt GINGER die Grundidee von Citizen Science, lebensweltliches Wissen auf allen Stufen des Forschungsprozesses zu integrieren. Gleichzeitig erlangen die involvierten Bürger*innen Zugang zu sozialwissenschaftlicher Forschungsarbeit und lernen dadurch, wie sozialwissenschaftlicher Erkenntnisgewinn funktioniert. Das Projekt fördert das Vertrauen in Wissenschaft und trägt zur Akzeptanz von Forschungsergebnissen bei.

Forschung auf Augenhöhe

Ein Citizen-Science-Projekt wie GINGER erfordert Flexibilität, was die Projektplanung angeht. Je offener die Beteiligung der Citizen Scientists gestaltet ist, desto schwerer ist im Vorfeld zu kalkulieren, wie viele Menschen sich beteiligen werden und mit welcher Intensität. Auch die Einbindung diverser Zielgruppen stellt Projektinitiator*innen immer wieder vor die Herausforderung, Konzepte anpassen zu müssen und zu erweitern. Außerdem ist es unabdingbar, sich im Vorfeld Gedanken über die Qualitätssicherung der Daten zu machen.

Um dies zu ermöglichen, verfolgt das Projekt GINGER drei Ansätze der Beteiligung: Wir führen gezielte Kooperationen mit zivilgesellschaftlichen Organisationen durch, wie zum Beispiel mit Terre des Hommes, dem Verein zur Förderung akzeptierender Jugendarbeit Bremen (VAJA e.V.) oder der Freiwilligenagentur Bremen. Citizen Scientists können im Rahmen eines offenen Angebotes, einzeln oder in Gruppen, mitforschen. Hinzu kommen sogenannte „Public Data Sprints“. Das sind mehrtägige Forschungsevents, bei denen Gruppen zu einem Oberthema unterschiedliche Fragestellungen bearbeiten.

Beworben wird das Projekt bislang vor allem über die Plattform „Bürger schaffen Wissen“, die deutschlandweit stark wahrgenommen wird. Die Aufnahme in die Projektdatenbank zu Citizen-Science-Projekten, hat in GINGER zu einer überregionalen Beteiligung geführt hat. Die lokale Berichterstattung und Projektvorstellungen im Rahmen von öffentlichen WissKomm-Veranstaltungen, wie Science goes Public, machen GINGER vor Ort in Bremen bekannt.

Generell ist ein großes Interesse an Citizen Science wahrzunehmen. Menschen unterschiedlichen Alters haben die Motivation, auch selbst einen Beitrag zur Forschung zu leisten. Ein Projekt zum Thema „Gesellschaftlicher Zusammenhalt“ trifft offenbar einen Nerv. Regelmäßig erreichen uns Kooperationsanfragen, seien es Schulen oder außerschulische Bildungsträger, NGOs oder Akteur*innen aus der Jugendarbeit. Auch in der Hochschullehre wird Citizen Science immer mehr verankert – eine Entwicklung, die im Sinne einer transformativen Wissenschaft zu begrüßen ist.

Citizen Scientists mit ihrer jeweiligen Expertise einzubinden, gehört aus unserer Sicht zu den wichtigsten Bedingungen, damit ein Citizen-Science-Projekt gelingt. Sie können mehr sein als reine „Datenlieferant*innen“, sondern unterschiedliche Aufgabenbereiche in einem  Projekt übernehmen. Dazu gehört auch, dass man als Wissenschaftler*in immer wieder die eigene Rolle reflektiert und das eigene Wissenschaftsverständnis erweitert.

Wichtig ist: Citizen Science beruht zu einem Großteil auf ehrenamtlichem Engagement. Wir haben mit Leuten zu tun, die ein Interesse haben, sich an Wissenschaft und Forschung zu beteiligen. Aus diesem Grund sollten Wertschätzung und Honorierung besonders bedacht werden. Es gibt viele Möglichkeiten, dies auszudrücken: beispielsweise durch eine Zertifizierung der Beteiligung, einen Zugang zur universitären Infrastruktur aber auch zu aktuellen fachwissenschaftlichen Impulsen, durch das Schaffen eines barrierefreien Arbeitsambientes und das Bereitstellen von Verpflegung und Arbeitsmaterialien.