Als erste Deutschdidaktikerin erhält Petra Anders den Communicator-Preis. Sie erforscht und entwickelt Poetry-Slam Formate für Kinder mit dem Ziel, Bildung neu zu denken und das kreative Potenzial junger Menschen sichtbar zu machen. Im Interview erzählt sie, was die Wissenschaft von Poetry-Slams lernen kann.
„Bildung sollte immer voraussetzungslos sein“

Frau Anders, Sie forschen zu Poetry-Slams und haben daraus Formate zur Sichtbarmachung von Schüler*innen und Lehrer*innen entwickelt. Warum hat es Ihnen dieses Format so angetan?
Mich beeindruckt immer wieder, wie Poetry-Slam-Texte die Gesellschaft spiegeln. Ich war kürzlich am MIT in Boston und habe mich gefragt, wie ich diese Stimmung nach der Wahl von Trump einfangen kann. Ich habe mich mit Wissenschaftler*innen unterhalten und Interviews geführt, aber den unmittelbarsten Eindruck konnte ich durch einen Poetry Slam gewinnen. Dort habe ich sehr ehrliche Stimmen gehört. Natürlich in literarischer Verdichtung, aber sehr ausdrucksstark. Sie zeigen, wie dieser Regierungswechsel das Leben mancher Menschen beeinflusst hat. Zum Beispiel spüren queere Personen ganz individuelle Veränderungen im Alltag.
Noch vor 20 Jahren hätte ich mir mehr Personen auf der Bühne gewünscht, die mehrsprachig auftreten oder von biografischem Nichtgelingen erzählen. Und genau das haben wir jetzt. Es gibt nicht nur Wortakrobat*innen, sondern auch politische Texte, die ganz andere Perspektiven ermöglichen und Debatten auslösen können.
Sie selbst stehen aber nicht so oft auf der Bühne, warum?
Das stimmt, ich bin eher Veranstalterin, zum Beispiel vom Praxisschock-Slam, bei dem Lehrer*innen Einblick in ihren Schulalltag geben, und vom Kinder-Kiez-Slam, bei dem Schüler*innen über ihre Erfahrungen in der Schule sprechen. Ich habe zum einen sehr viel Respekt vor dem Format. Zum anderen bin ich Wissenschaftlerin und forsche zu Poetry-Slams, das möchte ich ungern vermischen. Aber ich habe auch schon selbst auf der Bühne gestanden. Angefangen hat es damals mit Action-Writing. Als die Technoszene hier in Berlin sehr stark war, habe ich spontan auf Stichwort von meinem Gegenüber kurze Texte geschrieben. Dadurch wollte ich mehr Kommunikation in diese eher anonym wirkenden Räume des Techno bringen. Ich bin auch schon zweimal bei unserem Praxisschock-Slam aufgetreten. Da habe ich als Dozentin einen Text aus meiner Rolle als Prüfungsausschussvorsitzende gebracht.
Sie sagten, es gäbe nun mehr Poetry-Slams, die mehrsprachig sind. Ist es nicht wichtig, dass das Publikum den Text versteht?
Beim Poetry Slam gibt es die Regel: If you don’t understand it, just feel it.
Auch wenn das Publikum die Sprache nicht versteht, kommt an, dass ich etwas rüberbringen möchte. Kürzlich durfte ich beim Wettbewerb „Mehr Sprachen – mehr wir“ von der Kinder- und Jugendstiftung dabei sein. Auf der Bühne waren hervorragende Texte mit langen Passagen in Arabisch, Türkisch, Kurdisch, Ungarisch, Shughni und anderen Sprachen – was für eine große Bereicherung, so viele Bildungssprachen hören zu dürfen.
Beim Kinder-Kiez-Slam hatten wir unglaubliche Auftritte, bei denen die Kinder in die Luft springen und den ganzen Bühnenraum nutzen. Wichtig ist, dass sich die Auftretenden auf das Verständnis und den Rückhalt des Publikums verlassen können. Denn dort sitzen die Peers, also Kinder und Jugendliche, die zum Beispiel ähnliche Erfahrungen in der Schule machen.
Was glauben Sie, ist wichtig, um Leute dazu zu ermutigen auf die Bühne zu gehen?
Aus unserer Erfahrung mit der Arbeit mit Kindern kann ich sagen: Ein guter Tipp ist es, eigene Themen zu ermöglichen. Kindern fällt das Auftreten häufig gar nicht so schwer. Wichtig ist, ihnen diese Bühne zu bieten, die zugleich Schutzraum sein muss. Bevor man also mit dem Schreiben beginnt, geht es erst einmal darum, durch Übungen Vertrauen in der Gruppe zu schaffen, in der ich meinen Text entwickle. Wer bin ich in dieser Gruppe? Und wie möchte ich mich ausdrücken? Man muss viel mit den Kindern sprechen, damit sie sich während der Entwicklungsphase des Textes wohlfühlen. Es funktioniert nicht, einfach zu sagen: „So, wir schreiben jetzt mal 100 Wörter zum Thema Ferien.” Die Kinder wären dann viel zu sehr aufs Schreiben fixiert, die Themenfindung kommt oft zu kurz.
In den Workshops für die Kinder-Kiez-Slams arbeiten sie mit Künstler*innen zusammen, etwa mit dem Schriftsteller und Poetry-Slam-Experten Bas Böttcher. Was können Künstler*innen bei den Kindern hervorlocken, was Lehrer*innen nicht gelingt?
Die Kinder öffnen sich anders, und Lehrkräfte sind meistens sehr erstaunt und sagen: „Ich habe das Kind noch nie so wahrgenommen.”
Bas Böttcher verfügt über eine enorme Erfahrung als Poetry Slammer. Zunächst möchte er bei den Kindern ein Umdenken anregen. Er spricht frei, bei seinen mündlichen Textbeispielen merken Kinder: „Ach so was kann Poesie?!“ Poesie kann behaupten, dass wir Begriffe anders sehen. Diese Doppeldeutigkeit von Wörtern fällt den Kindern plötzlich auf. Wir können das, was uns im Alltag umgibt, positiv oder negativ beschreiben. Diese Macht der Sprache macht er für die Kinder greifbar, sodass sie merken: Mit Sprache kann ich gestalten. Erst wenn er diesen Raum geöffnet hat, geht es in die Textentwicklung.
Zu diesen Erfahrungen und Tipps habe ich viel didaktisches Material zum Poetry Slam veröffentlicht, damit Lehrer*innen das Potenzial der Kinder fördern können, auch wenn der Workshop mit den Künstler*innen längst vorbei ist.
Stoßen Sie manchmal auf Vorbehalte, insbesondere vonseiten der Lehrkräfte?
Nein, im Gegenteil, im letzten Jahr haben sich vier Schulen für den Poetry Slam für Kinder angemeldet und dieses Jahr sind es schon 22. Ich habe eher das Gefühl, dass Lehrkräfte nach solchen Reflexionsräumen suchen, um den Kindern andere Denk- und Lernmöglichkeiten zu bieten. Das Hauptargument dagegen ist: Wann soll ich das machen? Zu viel Bürokratie und Druck ist in der Schule, durch Tests und Vergleiche. Das vereinzelt. Für das, wofür Lehrkräfte eigentlich da sind, nämlich um persönliche Bildungsmomente in der Gemeinschaft zu gestalten, bleibt häufig gar keine Zeit. Das finde ich schade.
In Science Slams können Wissenschaftler*innen über ihre eigene Forschung sprechen. Denken Sie, dass Wissenschaftler*innen auch von der Teilnahme an einem Poetry Slam profitieren könnten?
Ja, unbedingt. Im universitären Kontext gibt es sehr viele bedeutsame Themen – Stichworte sind Macht, Hierarchie, Karriere und Publikationsstrategie –, über die man als Forschende*r sprechen könnte. Das ist natürlich sehr persönlich, weshalb Wissenschaftler*innen gut abwägen sollten, wie öffentlich sie über solche Themen sprechen möchten. Bisher habe ich noch nicht erlebt, dass Personen aus dem universitären Kontext in literarischen Slam-Texten eigene Themen präsentiert haben. Aber ein Slam ist ein offenes Format, und es wäre interessant, diese Perspektiven zu hören.
Was kann die Wissenschaftskommunikation von Poetry Slams lernen?
Ich möchte, dass Kinder und Lehrkräfte im Unterricht Themen behandeln, die sich in der Gesellschaft widerspiegeln. Die Schule bereitet also nicht nur auf die Gesellschaft vor, sondern ist Teil der Gesellschaft und bildet diese „in a Nutshell“ ab. Das gleiche gilt für die Wissenschaft – zu der auch die Wissenschaftskommunikation gehört. Die Auseinandersetzung der Forschenden mit der Gesellschaft ist eine große Inspirationsquelle, aber auch eine Pflicht. Das beginnt schon bei den Fragen: Wohin fließen die Steuergelder und wohin fließt das Wissen zurück?
Die Wissenschaftskommunikation kann von Poetry Slams lernen, wie Themen inszeniert werden können – durch Sprache, Mimik und Gestik. Auch sensible Themen wie etwa Enthinderung und Gender.
Für Ihr Engagement in der Wissenschaftskommunikation haben Sie kürzlich den Communicator-Preis erhalten. Was bedeutet Ihnen diese Auszeichnung?
Die Auszeichnung bedeutet mir sehr viel, auch weil ich die erste Didaktikerin bin, die diesen Preis erhält.
Interessanterweise hatte ich, bevor ich erfuhr, dass ich den Preis erhalte, ein Gespräch mit einer Person, die mich fragte: „Du machst so viele Sachen mit Künstlern und Schulen, kommst du überhaupt noch zur Wissenschaft?” Diese Frage hat mich irritiert, denn genau das ist doch Wissenschaft. So schaffen wir doch Wissen. So können wir die Deutschdidaktik als eingreifende Kulturwissenschaft leben und unsere Forschungsergebnisse in die Gesellschaft tragen. Der Preis fühlt sich umso schöner an, weil die Jury betonte, dass dies ein Kern wissenschaftlicher Tätigkeit ist.
Die Jury hat ihr Urteil auch damit begründet, dass Sie einen bedeutenden Beitrag zur Bildungsdebatte liefern. Was glauben Sie, könnte dieser Preis bewirken?
Ich hoffe, dass er in der Bildungsdebatte rund um die sogenannten Basiskompetenzen eine Rolle spielen wird. Der Begriff „Basiskompetenz” ist für mich populistisch und auch fachlich falsch, weil er suggeriert, dass man erst etwas können muss, um mitreden zu dürfen. Bildung sollte immer voraussetzungslos sein. Mir ist es wichtig, zu zeigen, was Kinder und Studierende können, um dann zu überlegen, warum sie etwas nicht können und wie sich die Gesellschaft ändern müsste, damit sie zum Zuge kommen. Schule und Hochschule sollten die Basis für Bildungsprozesse sein. Bildung ist immer ein Sozialisationsprozess in Raum und Zeit.
Welche Räume sind geeignet für Kinder und Lehrkräfte, sodass sie in der Gesellschaft sichtbar werden können? Diese Räume zu öffnen, ist meiner Meinung nach eine ganz zentrale Aufgabe von Wissenschaftler*innen. Denn wir haben sehr viel Wissen, mit dem wir diese Räume gestalten können. Und ich hoffe, dass der Preis weitere Menschen ermutigt , Verantwortung dafür zu übernehmen, um das Können von Heranwachsenden sichtbar zu machen.
Wie sollte sich Wissenschaftskommunikation weiterentwickeln?
Sie sollte viel mehr darüber diskutieren, vielleicht sogar aufklären, was Wissenschaft eigentlich bedeutet. Wissenschaft ist viel mehr, als allein am Schreibtisch eine wissenschaftliche Publikation zu verfassen. Sie ist Kollaboration mit der Gesellschaft, mit anderen Wissenschaftler*innen und sie tritt in vielen Formaten auf.
Als Deutschdidaktikerin sage ich ganz bewusst: Wir sollten von dieser schriftsprachlichen Fixierung wegkommen. Ich würde mir wünschen, dass Präsenz- und Austauschformate viel stärker als wissenschaftliche Formate anerkannt werden.
Außerdem wünsche ich mir, dass wir mehr mit der Gesellschaft ins Gespräch kommen. Das wünsche ich mir auch für meinen Fachverband. Wenn wir eine Tagung über deutschdidaktische Themen haben, dann möchte ich dort auch Lehrkräfte, Kinder und Jugendliche sehen. Dieses Sprechen ,über‘ kommt irgendwann an ein Ende, weil wir uns dann immer nur selbst bespielen.
Kinder und Jugendliche sind doch auch Expert*innen für Schule. Wir müssen sie in der Unterrichtsforschung als tatsächliche Akteur*innen ernst nehmen und nicht nur ihre kleinstteiligen Kompetenzen als Datensatz erfassen. Das ist mir nicht mehr genug.