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„Aufgabe von Universitäten ist es, ein Ort freier Debatten zu sein“

Die Humboldt-Universität Berlin hat einen Vortrag einer Wissenschaftlerin bei der Langen Nacht der Wissenschaften nach Protesten vorerst abgesagt. Warum sie damit der Wissenschaftsfreiheit einen Bärendienst erwiesen hat, erklärt der Präsident des Deutschen Hochschulverbands Bernhard Kempen.


Die Humboldt-Universität hat den Vortrag „Geschlecht ist nicht (Ge)schlecht, Sex, Gender und warum es in der Biologie zwei Geschlechter gibt“ einer Wissenschaftlerin im Rahmen der Langen Nacht der Wissenschaften in Berlin kurzfristig abgesagt. Als Grund nannte die Hochschule Sicherheitsbedenken, da sie aufgrund von angemeldeten Protesten „mit einer möglichen Eskalation rechnen“ müsse. Gleichzeitig gab die Universität bekannt, dass „die Meinungen“, die die Biologie-Doktorandin Marie-Luise Vollbrecht in einem Gastbeitrag in der Welt äußerte, „nicht im Einklang mit dem Leitbild der HU und den von ihr vertretenen Werten“ stehe. Damit bezog sie sich auf einen Kommentar mit dem Titel „Wie ARD und ZDF unsere Kinder indoktrinieren“, den Vollbrecht mit vier weiteren Co-Autor*innen verfasste. Am 14. Juli findet eine Nachholveranstaltung an der Humboldt-Universität statt, an der auch Bundesforschungsministerin Bettina Stark-Watzinger teilnehmen wird. Es geht darum das Thema „Meinung, Freiheit, Wissenschaft – der Umgang mit gesellschaftlichen Kontroversen an Universitäten“ zu debattieren.

Herr Kempen, die dpa zitiert Sie damit, dass die Universität der Wissenschaftsfreiheit mit der Absage des Vortrags von Marie-Luise Vollbrecht einen Bärendienst erwiesen habe. Wie meinen Sie das?

Bernhard Kempen ist Professor für Öffentliches Recht, Völkerrecht und Europarecht an der Universität zu Köln. Der Rechtswissenschaftler ist seit 2004 Präsident des Deutschen Hochschulverbands. Foto: Till Eitel
Kernaufgabe von Universitäten ist es, ein Ort freier Debatten zu sein. Dabei müssen sie sicherstellen, dass alle wissenschaftlichen Positionen frei und ohne Angst geäußert und diskutiert werden können. Deswegen ist es auch sehr widersprüchlich, wenn die Humboldt-Universität in ihrer Stellungnahme erklärt, der Vortrag könne aus Sicherheitsbedenken nicht stattfinden, gleichzeitig aber auch anklingen lässt, dass die zuvor in einem Zeitungsartikel geäußerten Ansichten der Wissenschaftlerin nicht dem Leitbild der Universität entsprechen. Im Ergebnis führt das dazu, dass eine wissenschaftliche Position diskreditiert wird.

Die öffentlichen Äußerungen, die „nicht im Einklang mit dem Leitbild“ der Hochschule stehen, entstammen beispielsweise einem Beitrag von Marie-Luise Vollbrecht und weiteren Autor*innen aus der Welt. Sanktioniert die Universität sie für eine Meinungsäußerung?
Meiner Meinung nach tut sie das. Aber wissenschaftliche Thesen und Bewertungen müssen keinem Leitbild entsprechen. Die Wissenschaft hat dort ihre Grenzen, wo strafrechtliche rote Linien überschritten werden. Das gilt bei Volksverhetzung, übler Nachrede oder Beleidigung, die freilich erst einmal nicht nur behauptet, sondern gerichtsfest nachgewiesen werden müssen. Keine Universität kann durch ein Leitbild vorgeben, was eine Wissenschaftlerin zu denken und zu sagen hat.

Inwiefern trägt die Universität eine Verantwortung dafür, wem sie eine Bühne bietet, um in die Gesellschaft zu kommunizieren – gerade bei einer Wissenschaftlerin, der vorgeworfen wird, sich transfeindlich zu äußern?
In ihrem Vortrag bei der Langen Nacht der Wissenschaften sollte eine Biologin über das Thema Zweigeschlechtlichkeit sprechen dürfen – selbst wenn dies in einer Form geschieht, die für ein interessiertes Allgemeinpublikum zugespitzt erscheinen mag. Das ist legitim. Die Wissenschaft muss auch fachlich fundierte Thesen in einer allgemeinverständlichen Form präsentieren. Gerade für öffentlichkeitswirksame Veranstaltungen wie die Lange Nacht der Wissenschaften sind zu spezialisierte oder auf höchstem wissenschaftlichem Abstraktionsniveau gehaltene Fachvorträge ungeeignet. Die Interpretation, dass der Vortragsinhalt transfeindlich sein könnte, ist im Übrigen lediglich eine Unterstellung und keineswegs offenkundig. Selbst mit der Vorgeschichte, die diesem Vortrag voranging.

„Sie muss klar machen, dass wissenschaftliche Thesen nicht allen gefallen müssen und an ihnen selbstverständlich Kritik geübt werden kann." Bernhard Kempen
Eine weitere Kritik ist, dass sie als Meeresbiologin nicht die Fachexpertise besitze, um in der Tiefe über das Thema zu sprechen. Teilen Sie diese?
Jeder wissenschaftliche Vortrag darf diskutiert und kritisiert werden. Das ist selbstverständlich und wissenschaftsimmanent: Jede Behauptung muss in der Wissenschaft auf ihre Validität geprüft werden. Es ist aber auch kein guter wissenschaftlicher Stil, pauschal Kritik zu äußern, beispielsweise „als Meeresbiologin darfst du nichts zur Zweigeschlechtlichkeit sagen“. Das halte ich – ohne selbst ein Biologe zu sein – für eine verkürzte Betrachtung. Auch eine Meeresbiologin darf sich fachübergreifend äußern.

Was wäre aus Ihrer Sicht die richtige Reaktion der Universität gewesen?
Die Universitätsleitung der Humboldt-Universität hätte erst einmal die Kritiker*innen zur Besonnenheit aufrufen müssen. In einem zweiten Schritt hätte sie alles ihr zur Verfügung Stehende unternehmen müssen, um den Vortrag stattfinden zu lassen. Aufgabe der Hochschulleitung ist es, sich schützend vor die eigenen Wissenschaftler*innen zu stellen. Sie muss klarmachen, dass wissenschaftliche Thesen nicht allen gefallen müssen und an ihnen selbstverständlich Kritik geübt werden kann. Aber diese Thesen, so sehr sie missfallen mögen, dürfen nicht unterdrückt werden. So wie es jetzt gelaufen ist, hat sich die Universitätsleitung denjenigen gebeugt, die meinen, mit Tabus und Verboten die eigene politische Agenda durchsetzen zu können. An dieser Stelle hat die Hochschulleitung leider versagt.

Die Diskussion um eine Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit wiederholt sich regelmäßig. Lernen wir nichts aus den ständig hochkochenden Debatten?

„Wir dürfen nicht vorab urteilen oder Dinge ausblenden, weil wir sie nicht ertragen. Das wäre wissenschaftsfeindlich." Bernhard Kempen
Ich fürchte, das ist so. Gerade die Humboldt-Universität hat eine unrühmliche Vorgeschichte. Renommierte Wissenschaftler wie Jörg Baberowski werden dort seit Jahren diffamiert und bedrängt und die Hochschulleitung äußert sich bestenfalls halbherzig. Das ist mehr als nur bedauerlich. Studierende und Wissenschaftler*innen müssen die Zumutung ertragen, dass Thesen – solange sie mit wissenschaftlichen Methoden erarbeitet wurden – auch unpopulär oder unbequem sein können. Dass wir mit Thesen konfrontiert werden, die wir für Unsinn halten und die sich später auch als falsch herausstellen können. Das ist das Wesen von Wissenschaft. Wir dürfen nicht vorab urteilen oder Dinge ausblenden, weil wir sie nicht ertragen. Das wäre wissenschaftsfeindlich. Zensur und Wissenschaftler*innen aufgrund ihrer Forschung zu unterdrücken oder zu verfolgen, sind Wesensmerkmale autokratischer Systeme. In einem freien Wissenschaftssystem haben derartige Mittel keinen Platz.

Gibt es einen Punkt, an dem man nicht mehr alle wissenschaftlichen Thesen aushandeln muss, weil sie beispielsweise zu genüge widerlegt sind und sich ein Konsens gebildet hat?
Es gibt in der Wissenschaft kein Wiederholungsverbot. In der Wissenschaftsgeschichte existieren genügend Beispiele, dass Thesen auch erst nach wiederholtem Vorbringen widerlegt oder bestätigt wurden. Das zeigt: Thesen müssen immer wieder neu durchdacht werden. Die Grenzen zieht lediglich das Strafrecht. Diese gilt es zu beachten. Rassistische Thesen oder Holocaustleugnung, die im Gewand der Wissenschaft auftreten, gehen beispielsweise nicht. Das ist ein Fall für die Staatsanwaltschaft. Beim Thema Geschlecht und Gender gibt es aber noch viele offene Fragen. Hier liegt ein riesiges und lohnendes Forschungsfeld vor uns. Aber dabei sind bitte auch die Stimmen zu hören, die gegen den Strom schwimmen. Auch sie gehören zum Gesamtbild dazu.

Welche Rolle kommt den Universitäten dabei zu, Debatten zu fördern?
Die Universitäten sind die Orte, an denen tabulos, ohne Schere im Kopf oder Vorbehalte immer wieder alles von vorne neu gedacht und diskutiert werden muss. Die Aufgabe der Hochschulen ist es, Erkenntnisse zu sammeln, sie in Freiheit zu diskutieren, Argumente zu wägen und zu Ergebnissen zu kommen, die sich morgen womöglich schon wieder als falsch erweisen. Es geht nicht darum, ein politisches Programm zu unterstützen oder zu bekämpfen.

„Wissenschaftsfreiheit bedeutet auch Verantwortung. Sie besteht darin, dass wir uns gegenseitig mit viel mehr Toleranz begegnen müssen." Bernhard Kempen
Ist die Art und Weise, wie wir diskutieren, zu verkürzend um komplexen Themen wie Gender und Geschlecht gerecht zu werden?
Der gesamte Themenbereich des biologischen Geschlechts, des soziologisch begründeten Geschlechts sowie der politischen Folgen, die sich daraus ergeben, ist ein sehr interessantes und großes Thema. Dabei haben sich aber Lager gebildet, die sich recht unversöhnlich gegenüberstehen. Ich vermisse die Bereitschaft, einen Schritt aufeinander zuzugehen und sich in die Denkweise des anderen Lagers hineinzuversetzen.

Welche Debattenkultur braucht es, um gesellschaftsrelevante Fragen öffentlich aushandeln zu können?
An den Universitäten braucht es dafür erst einmal ein neues, ein anderes Bewusstsein. Wissenschaftsfreiheit bedeutet auch Verantwortung. Sie besteht darin, dass wir uns gegenseitig mit viel mehr Toleranz begegnen müssen. Wir müssen zuhören, die andere Position versuchen zu verstehen – das setzt aber voraus, dass wir die Position überhaupt erst einmal zur Kenntnis nehmen – und dann mit wissenschaftlichen Mitteln diskutieren. Eine Verkürzung von Debatten führt zum Stillstand.


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