Ein großer Teil der deutschsprachigen Wissenschaft hat sich von der Social-Media-Plattform X zurückgezogen. Für unseren Gastautor Volker Hahn war dies jedoch ein Fehler: Der Rückzug sei voreilig und kontraproduktiv.
Come bacX!
Im Januar dieses Jahres erklärten über 60 deutschsprachige Hochschulen in einer Pressemitteilung ihren Rückzug von der Social-Media-Plattform X. Darin hieß es, sie wollten ihren Rückzug „gemeinschaftlich verkünden“ und „ein Zeichen setzen“. Dieser Schritt sei „Folge der fehlenden Vereinbarkeit der aktuellen Ausrichtung der Plattform mit den Grundwerten der beteiligten Institutionen: Weltoffenheit, wissenschaftliche Integrität, Transparenz und demokratischer Diskurs.“ Unter anderem wurde die „algorithmische Verstärkung rechtspopulistischer Inhalte“ kritisiert, der man mit „Einsatz für eine faktenbasierte Kommunikation” entgegentreten wolle.
Der Rückzug ist Geschichte. Aber war er klug? Die Frage ist relevant, schließlich heißt es in der Pressemitteilung auch, die beteiligten Institutionen wollten „die Entwicklung der Plattformen und ihrer Algorithmen weiterhin aufmerksam beobachten.“ Der Rückzug vom Rückzug ist nicht vom Tisch.
Betrachten wir zunächst eine der beliebtesten Ausweichplattformen für X: Bluesky. Die Hoffnung war, mit Bluesky das alte Twitter wieder aufleben zu lassen. Die Zahlen sprechen allerdings dagegen: Seit dem Jahreswechsel sinken die täglichen Nutzungszahlen stetig. Gleichzeitig wird die Kritik lauter, Bluesky habe sich zu einer homogen progressiven Echokammer entwickelt, die heterodoxe Meinungen aggressiv ausgrenzt. Megan McArdle hält das Projekt Bluesky bereits für gescheitert.
Bemerkenswert finde ich, dass wir uns vor nicht allzu langer Zeit (zurecht) Sorgen wegen radikalisierungs- und polarisierungsfördernder Filterblasen und Echokammern gemacht haben. Mit dem freiwilligen Umzug von X zu Bluesky haben einige dieser Entwicklung selbst Vorschub geleistet – aus freien Stücken, ganz ohne Algorithmus.1
Das wird auch durch neue Daten des Reuters Institute for the Study of Journalism gestützt. Der Digital News Report 2025 beschreibt, aus welchen Medien Menschen weltweit ihre Nachrichten beziehen. Während traditionelle Medien weiterhin an Einfluss verlieren, nimmt jener der Sozialen Medien zu. X hat einen stabilen Anteil von elf Prozent am Social-Media-Nachrichtenkonsum. Der Anteil von Alternativplattformen wie Threads, Mastodon oder Bluesky liegt bei unter zwei Prozent. Die Reuters-Daten zeigen zudem, wie sich die politische Orientierung der X-Nutzer verschoben hat, von einer Mehrheit linker User zu einer knappen Mehrheit rechter User.
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Dieser Wechsel in der Nutzerzusammensetzung und -aktivität erklärt die beobachtete Rechtsdrift auf X plausibler als die vermutete Manipulation des Algorithmus. Die in der eingangs erwähnten Pressemitteilung aufgestellte Behauptung der „algorithmischen Verstärkung rechtspopulistischer Inhalte“ ist insofern wohl selbst keine „faktenbasierte Kommunikation”.2
Der Philosoph Dan Williams schreibt auf Substack: „Die Entscheidung, die Plattform massenhaft zu verlassen, hat einfach dazu geführt, dass Progressive und Liberale nun deutlich weniger Einfluss auf die Gestaltung des Diskurses auf einer wichtigen Plattform für Nachrichten und politische Inhalte haben. […] X würde erheblich verbessert werden, wenn mehr Inhalte von professionellen Journalisten, Wissenschaftlern und Progressiven präsentiert würden.” (Übersetzung durch die Redaktion). Ich stimme zu. Wo das Spektrum gesellschaftlicher Stimmen verarmt, dort verarmt auch der demokratische Diskurs, den man ja eigentlich retten wollte. Zwar ist X noch lange keine homogene Echokammer wie Bluesky. Aber die Stimme der Wissenschaft ist leiser geworden, und das ist bedauerlich.
Nun will ich nicht bestreiten, dass es auch gute Gründe für einen Rückzug aus X gibt. Wenn eine Universität dort ihre strategischen Ziele nicht mehr erreicht, weil die organische Reichweite gelitten hat, dann ist eine Ressourcenverlagerung auf andere Kanäle natürlich legitim. Ich kann auch nachvollziehen, wenn man sich – als Individuum – manch verbalen Schrott nicht antun will, der (neben gutem Content) zweifellos auf X zu finden ist.3
Wenn man sich jedoch primär um den demokratischen Diskurs sorgt, dann kann ich den Rückzugsargumenten nicht folgen. Wenn man gesellschaftspolitische Debatten mit guten Inhalten bereichern oder der Propaganda eines Elon Musk entgegentreten will, wo ist ein besserer Ort dafür als X?
Auf X wird gestritten. Teilweise scharf, populistisch, unsachlich und agitativ. Aber wie Helmut Schmidt sagte: „Eine Demokratie, in der nicht gestritten wird, ist keine“. Wir brauchen offenen Streit, weil er Positionen und Argumente sichtbar, angreifbar und überprüfbar macht. Im besten Fall mündet er in „rational persuasion“. Dan Williams sagt: „Rational persuasion ist schwierig, aber möglich. Fakten sind wichtig. Menschen versuchen oft, Fakten zu ignorieren oder zu leugnen, die ihren bevorzugten Ansichten widersprechen, oder sie so zu interpretieren, dass sie mit diesen Ansichten übereinstimmen. Dennoch, wie Hannah Arendt in ihrem Artikel über Wahrheit und Politik betont, setzt die faktische Wahrheit solcher Propaganda und Selbsttäuschung wichtige Grenzen. Es gibt Hunderte Millionen Nutzer auf X. Die Vorstellung, dass alle oder sogar die meisten dieser Menschen nicht rational überzeugt werden können, ist absurd.” (Übersetzung durch die Redaktion.)
Nun ist streiten nicht Aufgabe einer Forschungseinrichtung und ihrer Pressestelle, schon klar. Sie kann jedoch gesellschaftliche Debatten um guten Content bereichern und somit die Grundlage für konstruktiven Streit verbessern. Zudem kann sie den eigenen Forschenden auf X Rückendeckung geben, ohne sich in gesellschaftspolitischen Streitfragen selbst zu positionieren.
Mein vorläufiges Resümee lautet: Der breite, politisch motivierte Rückzug aus X war voreilig und kontraproduktiv. Wünschenswert wären baldige und ergebnisoffene Neubewertungen. Diese sollten nicht die unbestritten guten Absichten des Rückzugs infrage stellen, sondern vielmehr die tatsächlichen Auswirkungen in den Fokus nehmen. Vielleicht mündet die eine oder andere Evaluation in einem Rückzug vom Rückzug. Vielleicht werden einige ihre inaktiven (aber nicht gelöschten) Accounts demnächst wieder mit guten Inhalten füllen. Und vielleicht gibt es auch wieder eine Pressemitteilung.
PS: Ich freue mich über eine streitbare Replik.
Gastbeiträge spiegeln nicht zwangsläufig die Meinung unserer Redaktion wider. Die Redaktion lag bei Michael Wingens.
- Dieses Problem beschreibt auch der Kommunikationsforscher Christian Hoffmann. Er sagt: „Links wie rechts haben sich nun Alternativen zu den großen Plattformen etabliert, die mehr oder weniger bewusst als digitale Echokammern fungieren.“ ↩︎
- Ich will nicht sagen, dass die Behauptung widerlegt ist oder es nur eine einzige Erklärung für die Rechtsdrift gibt. Aber bislang habe ich keine überzeugenden Belege gesehen, dass rechter Content vom Algorithmus bevorzugt wird, weil er rechts ist – und nicht einfach, weil er meinungsstark, provokativ oder populistisch auftritt, oder mehr Engagement erfährt. ↩︎
- Ich empfehle, die Option “Folge ich” statt “Für dich” in der Timeline zu nutzen. ↩︎