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Wie gefälschte Forschung unsere Glaubwürdigkeit bedroht 

Die Wissenschaft steht vor einer existenziellen Herausforderung: Eine organisierte Schattenindustrie schleust systematisch gefälschte Forschung ein. Die Wissenschaftskommunikation riskiere, ihr unwissender Verstärker zu werden, schreibt Sebastian Tillmann, Autor des Blogs “Nullhypothese” im Gastbeitrag.

Das System unter Beschuss

Traditionell funktioniert wissenschaftliche Qualitätssicherung über Peer-Review: Expert*innen prüfen ehrenamtlich eingereichte Arbeiten, bevor sie veröffentlicht werden. Dieses vertrauensbasierte System wird nun systematisch unterlaufen.

Das Team um Reese Richardson von der Northwestern University analysierten Millionen von Artikeln und deckten erschreckende Strukturen auf: Bei PLOS ONE waren nur 0,25 Prozent der Editor*innen für über 30 Prozent aller zurückgezogenen Artikel verantwortlich. Diese „flagged editors“ bildeten dichte Netzwerke, schoben sich gegenseitig Manuskripte zu und umgingen so die unabhängige Kontrolle. Dabei kamen die Hälfte dieser Editor*innen aus nur drei Ländern: Indien, dem Irak und Indonesien. Es wäre jedoch zu einfach, es nur auf diese Nationen einzuschränken. Denn aktuelle Skandale zeigen: Das Problem hat längst den Westen erreicht, beziehungsweise war vermutlich auch hier schon immer ein Problem. Der Verlag Wiley musste 11.300 Artikel zurückziehen und 19 Zeitschriften schließen. Taylor & Francis pausierte 2024 komplett die Einreichungen für das Journal Bioengineered, nachdem etwa 1000 Artikel Manipulationszeichen aufwiesen.

Betrug im industriellen Maßstab

Sogenannte „Paper Mills“ produzieren gefälschte Studien wie am Fließband. Ein konkretes Beispiel aus der Studie von Richardson: In der Krebsforschung tauchten identische Western-Blot-Bilder in über 50 verschiedenen Studien auf – angeblich von unterschiedlichen Forschergruppen aus verschiedenen Ländern. Die Analyse von 2.213 Artikeln mit Bildduplikationen enthüllte riesige Cluster. Nur etwa ein Drittel dieser manipulierten Artikel wurde bisher zurückgezogen.

Die Organisation Academic Research and Development Association (ARDA) wirbt offen mit garantierter Veröffentlichung und pflegt ein Portfolio von 188 Zeitschriften. Wird eine Zeitschrift aus Datenbanken entfernt, ersetzt ARDA sie einfach durch eine neue. Diese Strategie des „Journal Hopping“ macht Eindämmung extrem schwierig.

Besonders beunruhigend: Eine Science-Investigation deckte auf, dass Paper Mills Editor*innen renommierter westlicher Journals bis zu 20.000 Dollar für die Annahme gefälschter Artikel bieten – und über 30 Beteiligte Editoren als involviert identifiziert wurden. Selbst die Stanford University blieb nicht verschont: Ihr Präsident musste 2023 zurücktreten, nachdem mehrere seiner Artikel Datenmanipulationen enthielten.

Der Nährboden: „Publish or Perish“

Der Nährboden für diese Schattenindustrie ist der immense Publikationsdruck im globalen Wissenschaftssystem. In vielen Ländern hängen Karrieren und Forschungsgelder direkt von der Anzahl an Veröffentlichungen ab. Paper Mills bedienen diesen Bedarf als Dienstleister für gefälschten Erfolg und untergraben damit das Fundament der Wissenschaft. Gleichzeitig existiert ein großer Andrang, denn während sich legitime wissenschaftliche Artikel etwa alle 15 Jahre verdoppeln, verdoppelt sich die Anzahl der mutmaßlichen Paper-Mill-Produkte alle eineinhalb Jahre. 

Die Gegenmaßnahmen sind völlig unzureichend, nur etwa 25 Prozent der identifizierten Fake-Artikel werden jemals zurückgezogen. Wir bewegen uns von einer Replikationskrise zu einer Betrugs-Epidemie. Ein wachsender Teil der Literatur ist nicht nur methodisch schwach, sondern schlichtweg erfunden.

Wissenschaftskommunikation als unfreiwilliger Verstärker

Diese Entwicklung stellt uns als Wissenschaftskommunikator*innen vor neue Herausforderungen. Täglich greifen wir aktuelle Studien auf, recherchieren ihre Inhalte und übersetzen komplexe Forschung für die Öffentlichkeit, ohne zu ahnen, dass manche dieser Arbeiten aus Paper Mills stammen könnten. So werden wir ungewollt zu Verstärker*innen falscher Ergebnisse und tragen dazu bei, dass erfundene „Erkenntnisse“ gesellschaftliche Debatten prägen.

Besonders problematisch wird es, wenn vermeintliche „Durchbrüche“, die wir enthusiastisch kommuniziert haben, später als Fälschungen entlarvt werden. In solchen Momenten wird unsere hart erarbeitete Glaubwürdigkeit dramatisch beschädigt. Nicht durch eigenes Verschulden, sondern durch die Manipulation des Systems, auf das wir angewiesen sind. 

Gleichzeitig erwächst daraus eine neue Mitverantwortung: Wir müssen Rückzüge ebenso prominent kommunizieren wie ursprüngliche Meldungen, während KI-Systeme bereits mit gefälschten Daten aus unserer vergangenen Berichterstattung trainiert werden und mögliche Fehlinformationen weiter in die Zukunft tragen.

Die Wissenschaft braucht eine Weiterentwicklung ihrer Selbstverteidigungsmechanismen. Für die Wissenschaftskommunikation bedeutet das: Wir müssen Teil der Lösung werden und mehr als nur zu informieren, müssen wir auch prüfen und eine gesunde Skepsis an den Tag legen. 

Eine Checkliste für vertrauenswürdige Wissenschaft

Für die tägliche Arbeit sollten wir eine neue Routine etablieren und in den Ablauf integrieren. Hier sind einige Vorschläge:

  • Journal & Peer-Review: Ist die Studie in einem bekannten, seriösen Journal erschienen? 
  • Transparenz: Sind Rohdaten und Analyse-Code verfügbar? Fehlende Transparenz ist ein Warnsignal.
  • Prä-Registrierung: Wurde die Studie vorab registriert? Das erschwert Manipulationen erheblich.
  • Post-Publication-Review: Gibt es Kritik auf Plattformen wie PubPeer?

Warnhinweise für die Praxis: 

  • Autoren mit ungewöhnlich hoher Publikationsfrequenz (>1 Paper/Monat)
  • Studien aus Ländern mit bekannten Publikationsproblemen ohne internationale Ko-Autor*innen
  • Fehlende Interessenkonflikte bei kommerziell relevanten Themen
  • Auffällige Autor*innenkonstellationen (beispielsweise Zahnmediziner*innen publizieren über Insektenforschung)

Tool-Box für die Redaktion:

  • PubPeer für Post-Publication-Review
  • Retraction Watch Database für zurückgezogene Artikel und Wissenschaftler*innen mit hohen Retractionsraten
  • Open Science Framework für Prä-Registrierungen

Ein Appell für epistemische Bescheidenheit

Über diese technische Prüfung hinaus erfordert die Krise eine grundlegende Haltung: epistemische Bescheidenheit. Einzelstudien sind selten das letzte Wort, sondern vorläufige Einblicke. Unsere Aufgabe ist es, dies mit sauberer Sprache, klarer Unterscheidung zwischen Korrelation und Kausalität und verständlicher Erklärung statistischer Konzepte abzubilden.

Statt jede neue Veröffentlichung als „Durchbruch“ zu feiern, sollten wir eine bayesianische Frage stellen: „Wie stark sollte diese eine Studie unsere bisherige Einschätzung verändern?“ Diese Herangehensweise schützt nicht nur das Publikum vor voreiligen Schlüssen, sondern stärkt langfristig unsere Glaubwürdigkeit.

Krise als Chance

Diese Krise ist auch eine Chance. Wenn wir als Wissenschaftskommunikator*innen mit neuen Standards, kritischem Blick und dem Mut zur Transparenz vorangehen, können wir das Vertrauen in Wissenschaft nicht nur bewahren, sondern sogar stärken. Denn eine Wissenschaft, die ihre Probleme offen benennt und löst, ist glaubwürdiger als eine, die sie verschweigt.

Die Zeit des Wegschauens ist vorbei. Wissenschaftskommunikation muss sich dieser existentiellen Herausforderung stellen – mit Transparenz, neuen Standards und dem Mut, auch unangenehme Wahrheiten zu vermitteln.