Foto: Anne Weißschädel

„Konstruktive Berichterstattung mit Lösungsoptionen“

Vor rund einem Jahr sind die ZEIT-Ressorts Wissen und Chancen zu einem zentralen Ressort fusioniert. Im Gespräch blicken die Ressortleiter Andreas Sentker und Manuel Hartung auf das erste Jahr zurück, sprechen über weitere Veränderungen und die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf den Wissenschaftsjournalismus.

Herr Hartung, Herr Sentker, vergangenes Jahr haben wir uns über das damals neue zentrale Ressort Wissen der Zeit unterhalten. Nun soll sich wieder etwas verändern. Ist Ihnen langweilig geworden?

Manuel Hartung: (lacht) Nein, ganz im Gegenteil. Es war eine sehr spannende und intensive Zeit – vor und nach der Zusammenlegung. Uns ist jetzt ein großer Wunsch erfüllt worden. Wir bekommen ein großes Buch „Wissen“ in der Mitte der Zeitung. Bisher gab es trotz des zusammengelegten Ressorts zwei Bücher – „Wissen I“ und „Wissen II“ weil es aus technischen Gründen nicht möglich war, so viele Seiten in einem Buch zu drucken. Wir haben es jetzt gemeinsam mit unserer Druckerei geschafft, dieses Problem zu lösen. Das gibt uns ganz andere dramaturgische Gestaltungsmöglichkeiten – und war auch ein Wunsch aus den Feedbackrunden mit unseren Leserinnen und Lesern. 

Andreas Sentker: Wir haben jetzt die Möglichkeit, einen technischen Geburtsfehler zu beheben. Wir hatten damals im Kopf, dass das erste Buch das schnelle und aktuelle ist und das zweite bei Themen in die Tiefe geht. Corona hat diese Strategie verändert. Weil der Informationsbedarf so groß war, hatte das erste Buch fast immer das Thema Corona als Aufmacher – mit vielen Titelgeschichten. Mit „Wissen II“ konnten wir dann einen Kontrapunkt setzen, beispielsweise mit einem Aufmacher zum Klimawandel. Dabei haben wir aber auch davon profitiert, jetzt ein gemeinsames Ressort zu sein. Eine weitere Veränderung, die von unseren Leserinnen und Lesern sehr positiv wahrgenommen wird, sind die Quellenangaben, die wir seit der Neuausrichtung immer mitveröffentlichen. In Zeiten einer Pandemie mit vielen Unsicherheiten und neuen Erkenntnissen ist es besonders wichtig, deutlich zu machen, woher wir wissen, was wir schreiben.

Hartung: Das spiegelt sich auch in den Klickzahlen der Links zu den Quellen wieder. Das zeigt uns, dass diese Transparenz für unsere Leserinnen und Lesern sehr wichtig ist; deshalb werden wir diese Angaben noch einmal prominenter machen. 

Wie wird das neue Buch dann konkret aussehen?

Andreas Sentker, ist geschäftsführender Redakteur der ZEIT und seit 1998 Ressortleiter
WISSEN. Er ist Herausgeber von ZEIT WISSEN und ZEIT DOCTOR. Er studierte Biologie
und Rhetorik. Foto: Martin Schoberer/ZEIT

Sentker: Das Buch wird klar durchstrukturiert sein. Wir wollten weiterhin die Möglichkeit haben, auch mehrere große Geschichten zu machen. Das bleibt also, ebenso wie die Kommentarspalte, die klassische, längere Geschichte auf der dritten Seite, der Abschluss mit einer Infografik und die eben schon erwähnten Quellenangaben. Im Anschluss an die Seite drei kommt dann aber eine größere Neuerung. Wir werden Seiten haben, die aus kleinteiligen Formaten bestehen, die immer wieder neu gedacht werden. Dieser Teil in der Mitte des Buches ist quasi unser Labor. 

Hartung: Dieses Labor belegt auch, was uns im neuen Ressort besonders wichtig ist: thematische Vielfalt und Interdisziplinarität. Das spiegelt sich auch in der Zusammenarbeit der Redakteurinnen und Redakteure wider. Wir wollen Themen von unterschiedlichen Perspektiven aus beleuchten und verschiedene wissenschaftliche Disziplinen zusammenführen. Das werden wir weiter ausbauen. 

Sentker: Das Buch soll aber nach hinten raus – also nach den Laborseiten – nicht weniger wichtig werden. Darum wird es einen zweiten großen Schwerpunkt geben. Außerdem werden im hinteren Teil auch Personen und Positionen ihren Platz finden, wie beispielsweise das Bildungsgespräch oder der politische Fragebogen. 

Werden auch die Formate inhaltlich noch einmal angepasst?

Manuel J. Hartung, ist seit 2015 Ressortleiter WISSEN der ZEIT. Zuvor war er Geschäftsführer von TEMPUS CORPORATE und Chefredakteur von ZEIT CAMPUS. Er studierte Geschichte und Public Administration. Foto: Beatrice Jansen

Hartung: Ja, wir haben zum Beispiel viel positive Resonanz auf die Formate in unserem akademischen Stellenmarkt bekommen. Hier haben wir deshalb entschieden, zukünftig mit zwei unterschiedlichen Formaten aufzumachen – zum einen den Gastbeiträgen aus der Wissenschaft, die seit einem Jahr unter der Überschrift „Die Position“ laufen; zum anderen mit einr Seite, die sich mit den großen Fragen der Hochschulen und der Arbeitswelt beschäftigen. Die Rubrik „Worum geht’s“, in der wir Studiengänge vorstellen, und auch unser beliebter Fragebogen „3 ½ Fragen an“ bleiben. All diese Formate wollen wir vor allem dafür nutzen, Menschen aus der Wissenschaft eine Stimme zu geben.

Sentker: Auch das Format „Was wir wissen, was wir nicht wissen“ wird sich auf Grund der gemachten Erfahrungen verändern. Das bestand im ursprünglichen Entwurf immer aus zwei Texten, die wir nebeneinander gestellt haben. Wir haben aber festgestellt, dass die Texte dann zwangsläufig sehr redundant geschrieben sind. Deshalb haben wir die Form nochmal verändert und schreiben nun einen Text und fassen dann rechts und links „Wissen“ und „Nicht-Wissen“ nochmal kompakt zusammen. Auch hier sieht man einen Laborprozess. 

Gibt es Erkenntnisse, ob es allgemein gut ankommt, dass das Ressort seinen Platz in der Mitte der Zeitung hat?

Hartung: Wir befragen unsere Leserinnen und Leser regelmäßig – und bereits vor Corona haben diese Umfragen ergeben, dass die Zusammenlegung in der Mitte der Zeitung sehr gut funktioniert hat. Die Lesequote ist dadurch gestiegen. Durch Corona wurde dieser Trend natürlich nochmal verstärkt.

Erlebt das Thema Wissenschaftsjournalismus durch die Corona-Pandemie derzeit einen Aufschwung?

„Die Wertschätzung von Wissenschaftsressorts war wohl noch nie so hoch wie derzeit.“ Andreas Sentker
Sentker: Die Wertschätzung von Wissenschaftsressorts war wohl noch nie so hoch wie derzeit. Sowohl in den Redaktionen als auch in der Außenwahrnehmung. Das spiegelt sich auch darin wider, dass fast alle Qualitätszeitungen in der Krise an Auflage gewonnen haben. Wir haben noch ein bisschen mehr gewonnen als andere und haben nachgefragt, woran das liegt. Die Leserinnen und Leser sagen, dass sie an unserer Berichterstattung besonders schätzen, dass wir keine Panik machen und einen ruhigen und aufklärerischen Ton anschlagen. Die Quellenangaben befähigen sie dazu, nachzuvollziehen, wie bestimmte Prozesse ablaufen und wie man zu bestimmten Entscheidungen und Einschätzungen kommt. Das freut uns natürlich. 

Hartung: Das betrifft nicht nur die Naturwissenschaften, sondern auch die anderen Disziplinen. Auch hier haben wir versucht, in einem ruhigen und sachlichen Ton konstruktive Berichterstattung mit Lösungsoptionen zu machen. Wir freuen uns, dass das so gut ankommt.

Haben Sie denn generell das Gefühl, dass Corona den Wissenschaftsjournalismus verändert?

„Die Sichtbarkeit des Wissenschaftsjournalismus in den Redaktionen ist gestiegen – und auch das Interesse des journalistischen Nachwuchses ist gewachsen.“ Manuel Hartung
Sentker: Wir diskutieren diese Frage derzeit selbst sehr intensiv. Ich denke, dass der Wissenschaftsjournalismus weiter wichtig bleibt. Corona hat quasi das Gras abgemäht, das über viele Themen gewachsen war, über die deutlich zu wenig gesprochen wurde – wie beispielsweise Rassismus, der Artenschutz oder aber auch das Bildungssystem und die Digitalisierung. Hier sind viele Schwächen sichtbar geworden. Da stecken viele große Themen für den Wissenschaftsjournalismus drin. 

Hartung: Darüber hinaus ist auch die Sichtbarkeit des Wissenschaftsjournalismus in den Redaktionen gestiegen – und auch das Interesse des journalistischen Nachwuchses ist gewachsen. 

Sie sprechen den gestiegenen Stellenwert in den Redaktionen an. In der Vergangenheit hatte man oft das Gefühl, dass sobald ein Thema aus der Wissenschaft richtige Wellen schlägt, ein anderes Ressort nach den Geschichten greift und die Wissenschaftsredaktion eher außen vor ist. Wie funktioniert so etwas bei Ihnen?

Hartung: Das mag es gegeben haben, aber bei uns ist es das schon lange anders. Bei der ZEIT – die sich als Wochenzeitung für Politik, Wirtschaft, Wissen und Kultur versteht – hat Wissen eine ganz große Bedeutung; wir sind in Zukunft das dickste Buch in der ganzen Zeitung. Bei uns produziert das Wissenschaftsressort regelmäßig Titelgeschichten – gerade in diesem Jahr – und gibt diese nicht an andere Ressorts ab. Das gleiche gilt für Leitartikel und Kommentare, die auch aus unserem Ressort kommen. Unsere Expertise ist also nicht nur bei der Darstellung von Fakten, sondern auch bei der Deutung gefragt. 

Einiges ist aber auch schief gelaufen – zumindest deutschlandweit – wie bewerten Sie diese Ereignisse?

„Es war noch nie so wichtig wie heute, Wissenschaft als Prozess zu vermitteln.“ Andreas Sentker
Sentker: Es war noch nie so wichtig wie heute, Wissenschaft als Prozess zu vermitteln. Darüber wurde früher zu wenig diskutiert und kommuniziert und hier liegt ein fundamentaler Fehler. Christian Drosten ist hier eine absolute Ausnahme, da er seine Unsicherheiten und sein Rollenverständnis sichtbar macht. Wir haben aber auch das Gegenteil erlebt und beobachten können – es gab immer wieder Kritik daran, dass sich Expertenmeinungen häufig verändert haben. Hier müssen offenbar auch Politiker noch viel lernen. Außerdem wurden strukturelle Probleme offengelegt. Die mit nur zwei Personen besetzte Pressestelle des Robert-Koch-Instituts ist hier wohl das eindrücklichste Beispiel. Hinzu kommt, dass auch wir aufgrund der veränderten Bedingungen nicht ganz so gut arbeiten konnten wie sonst. Unsere Recherchemöglichkeiten waren schlicht und einfach eingeschränkt und deshalb musste man eben andere Wege gehen, um trotzdem eine qualitativ hochwertige Berichterstattung zu bewerkstelligen. 

Hartung: Wir bemühen uns übrigens, die Vorläufigkeit von Wissenschaft nicht nur in der Berichterstattung zu verdeutlichen, sondern versuchen dem wissenschaftlichen Prozess an sich auch Artikel zu widmen. Ich habe den Eindruck, dass die Wissenschaftskommunikation und die Wissenschaft einiges gelernt haben in der Krise. Sowohl, was die Art zu kommunizieren angeht, als auch darüber, wie bestimmte Strukturen funktionieren oder wo es eben Probleme gibt. Insgesamt finde ich den Umgang mit der Kritik, die teilweise aufkam, sehr positiv. Ich denke, die Wissenschaftskommunikation gewinnt auch als Folge der Krise weiter an Bedeutung. 

Eine zentrale Rolle in der Kommunikation haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler selbst gespielt. Neben dem Positivbeispiel Christian Drosten, hat ja beispielsweise auch ein Alexander Kekulé viel Aufmerksamkeit bekommen, der nicht explizit Experte für das Virus ist. Wie bewerten Sie dies?

„Wir stehen in der Verantwortung, dem Impuls zu widerstehen, immer die gleichen Leute zu befragen, weil sie präsent und verfügbar sind.“ Manuel Hartung
Sentker: Alexander Kekulé hat eine besondere Rolle. Er ist ein sehr guter Kommunikator und verfügt auch wenn er selbst nicht zu Corona aktiv forscht über Expertise auf dem Fachgebiet. Allerdings hat er in dieser Krisensituation seine eigene Rolle nicht klar definiert. Wir waren selbst überrascht, als wir ein Portrait über ihn realisiert haben, dass dieses mangelnde Rollenverständnis für ihn zum Problem wird. Es ist bei der Auswahl von Expertinnen und Experten sehr wichtig, transparent zu machen, vor welchem Hintergrund, mit welcher Motivation, mit welchen persönlichen Interessen und aus welcher Rolle heraus sie sprechen. Die Debatte um Hendrik Streeck und das Heinsberg-Protokoll zeigt, wie wichtig es ist, diese Fragen zu stellen, bevor man berichtet. Mir persönlich sind jene Expertinnen und Experten am liebsten, die eher sachlich und persönlich zurückhaltend auftreten, wie beispielsweise Jonas Schmidt-Chanasit, der seine Rolle sehr klar abgegrenzt und verdeutlicht hat. 

Hat der Journalismus nicht eigentlich eine Verantwortung nur diejenigen zu Wort kommen zu lassen, die auch wirkliche Expertise haben und ihre Rolle klar und deutlich machen?

Sentker: Wir stehen in der Verantwortung, dem Impuls zu widerstehen, immer die gleichen Leute zu befragen, weil sie präsent und verfügbar sind. Da bewegt sich zumindest im Qualitätsjournalismus aber auch etwas in die richtige Richtung. Das ist aber nur eine persönliche Beobachtung, die ich nicht mit Studien belegen kann. 

Könnte der Wissenschaftsjournalismus also der große Gewinner der Krise sein? 

Sentker: Ich denke, die großen Qualitätsblätter werden davon profitieren. Das gilt aber nicht nur für das Wissensressort, sondern auch für die anderen Ressorts. 

Hartung: Mich stimmt dabei vor allem positiv, dass der Zuspruch der Leserinnen und Leser so groß ist, obwohl wir eben keine Panikmache betrieben haben. Das gibt Hoffnung für die Entwicklung des Wissenschaftsjournalismus – und motiviert uns auch für die Zukunft.