Frau Ahrend, warum ist transdisziplinäre Forschung so wichtig?

Wenn Wissenschaft und Gesellschaft gemeinsam forschen, entstehen Lösungen, die direkt in die Praxis wirken. Christine Ahrend erklärt, warum dieser Ansatz so wirkungsvoll ist, im Wissenschaftssystem jedoch kaum gewürdigt wird.

Christine Ahrend ist Professorin für integrierte Verkehrsplanung und war von 2014-2022 Vizepräsidentin für Forschung, Berufungsstrategie & Transfer an der TU Berlin. Sie ist Gründerin und Vorsitzende der Gesellschaft für Transdisziplinäre Forschung (GTPF). Foto: TU Berlin

Frau Ahrend, Sie forschen selbst transdisziplinär und sind Vorsitzende der Gesellschaft für transdisziplinäre und partizipative Forschung (GTPF). Was ist transdisziplinäre Forschung und wie unterscheidet sie sich von Partizipation?

Transdisziplinäre Forschung geht aus der Wissenschaft heraus um gemeinsam mit der Zivilgesellschaft an gesellschaftlichen Fragestellungen zu arbeiten. Mein Forschungsgebiet lag beispielsweise im Bereich Mobilität und Verkehr, es können aber auch Themen zur Stadtentwicklung oder Digitalisierung sein.

Eines der Gütekriterien ist, dass man schon die Forschungsfrage gemeinsam diskutiert und festlegt. Im Forschungsprozess selbst wird mit den beteiligten Akteur*innen ein Forschungsdesign entwickelt und auch die Ergebnisse werden gemeinsam diskutiert. Die Publikation dieser Ergebnisse liegt dann wieder in der Hand der Wissenschaftler*innen.

Partizipation wiederum ist ein sehr weites Feld. Partizipation kann eine Straßenbefragung oder eine Zukunftswerkstatt sein. Es sind kürzere und manchmal auch längere Verbindungen zwischen Wissenschaftler*innen und Zivilgesellschaft. Es wird jedoch vorher festgelegt, wann dieser partizipative Teil wieder vorbei ist. Bei transdisziplinärer Forschung gibt es diese Definitionsmacht der Wissenschaft nicht.

„Wir empfehlen Transdisziplinarität und Partizipation als wesentliche Merkmale eines Forschungsmodus zu etablieren, dessen Ziel die Gestaltung einer nachhaltigen Zukunft ist.“ Dieses Statement haben sie 2023 in einem Eckpunktepapier formuliert, mit Forderungen an die Wissenschaftspolitik. Warum denken Sie bieten Transdisziplinarität und Partizipation in der Forschung so viel Potenzial?

Weil es über lange Sicht schneller Erfolge bringt. Wenn ich ein klassisches Forschungsprojekt mache, dann veröffentliche ich ein wissenschaftliches Paper und diskutiere vielleicht die Ergebnisse auf Fachkonferenzen. Nur eine bestimmte Gruppe von Menschen erfährt also von diesen Ergebnissen. Bis diese Erkenntnisse in die Gesellschaft hineinwirken, vergehen Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte. Die transdisziplinäre Forschung hat den Vorteil, dass sie den Großteil der Ergebnisse direkt nutzen kann, um in ihrem Bereich etwas zu verändern.

Die Menschen forschen mit, überlegen gemeinsam ob die Forschungsfrage angepasst werden muss und diskutieren die Ergebnisse. Das Wissen ist also, während es entwickelt wird, schon dort, wo es verwendet werden soll.  

Wenn es darum geht, wissenschaftliches Wissen zu nutzen, um transformativ in der Gesellschaft mitzuwirken, dann ist transdisziplinäre Forschung von Vorteil. Sie ist also keine Forschung für Menschen, die mal in Kontakt mit Wissenschaft kommen wollen. Dafür gibt es andere Formate. Es geht um effektiven Erkenntnisgewinn. 

Warum sahen Sie die Notwendigkeit, die Gesellschaft zu gründen?

Mit der GTPF wollen wir zeigen, wie notwendig und effektiv transdisziplinäre Forschung ist. Unser Ziel ist es, dass das Feld der transdisziplinären und partizipativen Forschung im Wissenschaftssystem gleichberechtigt neben der disziplinären und interdisziplinären Forschung wahrgenommen wird und vor allem karrierefreundlicher für Wissenschaftler*innen wird. Diese Missstände haben wir auch in unserem Eckpunktepapier formuliert, mit dem wir uns direkt an die Politik wenden.

Darüber hinaus haben die Arbeitsgruppen bereits einige Gütekriterien und Leitfäden entwickelt, um Qualitätsstandards zu gewährleisten. 

Was, glauben Sie, ist der Grund dafür, dass transdisziplinäre Forschung bisher noch nicht die Anerkennung erhält, die sie verdient?

Das liegt auch daran, dass transdisziplinäre Forschung in den gängigen Reputationssystemen der Wissenschaft kaum Anerkennung findet. Obwohl Wissens- und Technologietransfer seit längerer Zeit wichtige Themen sind, die in der Wissenschaft und der Politik diskutiert werden. Aber wenn sich jemand in der transdisziplinären Forschung vertieft, ist das nicht karriereförderlich – um es vorsichtig auszudrücken.

Den Wissenschaftler*innen fällt es beispielsweise deutlich schwerer, Drittmittel einzuwerben. Wenn man Forschungsgelder für ein Projekt beantragen möchte, wird erwartet, dass die Forschungsfrage schon feststeht. Im transdisziplinären Prozess entwickle ich die Forschungsfrage aber erst gemeinsam mit den beteiligten Akteur*innen. Ich bräuchte also Gutachter*innen, die sich mit dem Ablauf eines transdisziplinären Forschungsprojektes auskennen. Und das ist bisher selten.

Wenn ich in Gremien über die Relevanz von Transdisziplinarität spreche, wird mir häufig geantwortet: „Ja, wir finden Wissenschaftskommunikation auch ganz wichtig.” Mir ist Wissenschaftskommunikation ebenfalls wichtig, aber sie ist nicht dasselbe wie Transdisziplinarität. Es gibt also noch einige Missverständnisse.

Hinzu kommt, dass vorwiegend messbare Resultate in der Wissenschaft Anerkennung bringen. Doch nicht jede gemessene Zahl sagt inhaltlich viel aus. Das ist ein besonderes Problem für Wissenschaftler*innen in transdisziplinären und partizipativen Forschungsprojekten, denn es wird zwar viel Wissen generiert, das sich aber häufig nur schwer messen lässt.

Können Sie das bitte an einem Beispiel erklären?

Stellen Sie sich vor, Sie haben ein transdisziplinäres Forschungsprojekt im Bereich Mobilität und Verkehr mit einer Laufzeit von zwei bis drei Jahren. Sie möchten erforschen, wie sich die Verkehrssituation für Fußgänger*innen an einem bestimmten Ort verbessern lässt. Tatsächlich scheinen die mit den Fußgänger*innen entwickelten Maßnahmen zu funktionieren, denn die Verkehrssituation verbessert sich zunehmend während der Laufzeit des Projekts.

Doch ab wann und wie können Sie belegen, dass diese Verbesserung wirklich durch das Projekt hervorgerufen wurde? Wie beweisen Sie den Impact der Transdisziplinarität?

Die TD Academy, eine Forschungs- und Community-Plattform für Transdisziplinarität, hat versucht, Impact-Faktoren für transdisziplinäre Forschung zu definieren. Sie kam zu dem Ergebnis, dass Impact nur selten mit quantitativen Ergebnissen beschrieben werden kann. Es sind vielmehr qualitative Interviews mit den beteiligten Akteur*innen nötig, um zu reflektieren, was sich seit Beginn des Projekts verändert hat. Das kostet jedoch wiederum Zeit und Ressourcen, die aufgrund geringer Drittmittel knapp sind. In gewisser Weise ein Teufelskreis.

Sie haben bereits erwähnt, dass Sie es ärgerlich finden, dass Partizipation und Transdisziplinarität häufig der Wissenschaftskommunikation untergeordnet werden. Wie möchte die GTPF diesen Missverständnissen entgegenwirken?

Wir möchten Transdisziplinarität, Partizipation, Citizen Science und auch Wissenschaftskommunikation stärken. Dazu wollen wir diese Bereiche sichtbarer machen und Diskussionen anregen. Ein Beispiel hierfür ist unsere jährliche Fachtagung Partwiss.

Wir möchten aufzeigen, wie wichtig diese vier Bereiche füreinander sind und dass sie einander bedingen. Denn natürlich bin ich als transdisziplinär Forschende auf Wissenschaftskommunikation angewiesen. Aber es sind eben zwei verschiedene Bereiche, und das wollen wir durch Aufklärung und Präsenz kommunizieren.