Der Wissenschaftsrat warnt: Das deutsche Wissenschaftssystem ist schlecht auf neue sicherheitspolitische Herausforderungen vorbereitet. Im Interview erklärt Franz-Ferdinand Schüth, wie Wissenschaft widerstandsfähiger werden kann und warum jede*r Wissenschaftler*in Verantwortung trägt.
Wissenssicherheit: Warum Wissenschaft nicht naiv sein darf

Der Wissenschaftsrat hat kürzlich ein Positionspapier mit Empfehlungen zur Stärkung der Wissenssicherheit veröffentlicht. Demnach ist das deutsche Wissenschaftssystem aktuell nicht „für die dramatisch veränderte Sicherheitslage gewappnet“. Was ist mit dem Begriff Wissenssicherheit gemeint?
Einerseits zählen dazu Gefahren wie Cyberangriffe, unerwünschte Einflussnahme und die Weitergabe von Forschungsergebnissen ins Ausland. Andererseits kann sicherheitsrelevante Forschung selbst dazu beitragen, dass das Wissenschaftssystem und auch die Gesellschaft widerstandsfähiger wird. Das grundlegende Problem besteht darin, dass sich viele Wissenschaftler*innen und Forschungseinrichtungen nicht bewusst sind, dass ihre Arbeit sicherheitsrelevant sein könnte. Welche Technologien sind besonders sicherheitsrelevant? Mit welchen Ländern sind wissenschaftliche Kooperationen besonders kritisch? Weder innerhalb der Wissenschaft noch im Zusammenspiel zwischen Wissenschaft, Politik und Sicherheitsbehörden erfolgt eine ausreichende Koordination. Wichtige Informationen werden zudem nicht zentral zur Verfügung gestellt.
Welche Forschungsbereiche sind besonders sicherheitsrelevant?
Prinzipiell kann es jeden Zweig der Wissenschaft betreffen. Das gesamte Feld der Cybersicherheit ist ein offensichtliches Beispiel: In Zeiten hybrider Kriegsführung kann der Zugang zu sensiblen Informationen ein erhebliches Risiko darstellen. Aber auch weniger offensichtliche Bereiche können sicherheitsrelevant sein. So werden in der Klimaforschung mit Fernerkungdungsmethoden unterschiedliche Meeresschichten analysiert. Welche Temperaturen dort herrschen, wie sie einander übergehen, wie sich das Wasser zusammensetzt, wieviel CO2 enthalten ist – aus all dem lassen sich Schlüsse auf Klimaveränderungen ziehen. Zugleich ist die Technik dahinter perfekt geeignet, um etwa aus Störungen der Schichten die Spuren von U-Boot-Bewegungen zu verfolgen.
Die meisten Wissenschaftler*innen möchten vermutlich einfach nur in Ruhe forschen und im besten Fall nicht mit sicherheitspolitischen Themen in Berührung kommen. Ist das eine naive Vorstellung, die nicht mehr tragbar ist?
Da haben Sie recht, auch ich würde am liebsten einfach forschen, ohne mir Gedanken über sicherheitspolitische Fragen machen zu müssen. Aber so einfach ist es leider nicht immer. Wissenschaft hat für mich auch die Pflicht, der Gesellschaft zu nutzen. Dazu gehört, dass sich Wissenschaftler*innen der möglichen Risiken, aber ebenso des potenziellen Nutzens ihrer Forschung bewusst sind.
Wenn Wissenschaftler*innen in ihrer Forschung auf etwas stoßen, das Deutschland helfen könnte, widerstandsfähiger zu werden, so wie beim Beispiel der Spuren von U-Booten, dann sollten sie darauf hinweisen, damit gezielt in dieser Richtung weiter geforscht werden kann.
Das ist eine große Verantwortung für Wissenschaftler*innen. Welche Vorschläge hat der Rat, um Forschende bei dieser Aufgabe zu unterstützen?
In vielen Fällen können Wissenschaftler*innen selbst gut einschätzen, ob ihre Forschung sicherheitsrelevante Aspekte enthält. Dabei benötigen sie aber Unterstützung, insbesondere dann, wenn es um Kooperationen mit potenziell kritischen Ländern geht. Dafür sind Informationen erforderlich, die nicht frei im Internet verfügbar sind. Aus diesem Grund schlagen wir die Einrichtung einer nationalen Plattform vor, an die sich Forschungseinrichtungen vertrauensvoll wenden können, um Zugang zu sensiblen sicherheitsrelevanten Informationen zu erhalten.
Wie könnte ein solcher Vorgang konkret aussehen?
Nehmen wir als Beispiel das Argo-Forschungsprogramm, bei dem Wissenschaftler*innen aus über 30 Ländern gemeinsam an der Vermessung der Weltmeere arbeiten. Solche internationalen Kooperationen bergen grundsätzlich Risiken – etwa durch mögliche Einflussnahme, eine militärische Zweckentfremdung der gewonnenen Daten oder auch einfach durch Vorenthalten von Daten, so dass das Ziel nicht erreicht werden kann. Bevor Forschende sich an einem potentiell sensiblen Projekt beteiligen, sollten sie daher prüfen, ob sicherheitsrelevante Implikationen bestehen, die die Bundesrepublik gefährden könnten. In den meisten Fällen wird sich zeigen, dass keine Risiken bestehen oder dass der Nutzen die Risiken überwiegt, wie bei Argo.
Sollten Zweifel auftreten, folgt als nächster Schritt ein Beratungsgespräch mit erfahrenen, speziell geschulten Kolleg*innen. Gemeinsam wird geprüft, ob potenzielle Gefahren vorliegen. Bleiben nach diesem Austausch weiterhin Zweifel, werden die Kommissionen für Ethik sicherheitsrelevanter Forschung (KEFs) einbezogen – Gremien, die es bereits an einigen Forschungseinrichtungen gibt. Die KEFs können sich an die geplante nationale Plattform wenden, um dort eine vertiefte sicherheitspolitische Einschätzung einzuholen: Sind kritische internationale Partner beteiligt? Ist die eingesetzte Technologie potenziell sicherheitsgefährdend? Auf Basis dieser Informationen gibt die KEF eine Empfehlung an die Forschenden und die Leitung der Einrichtung ab.
Welche konkreten Empfehlungen gibt der Wissenschaftsrat neben der nationalen Plattform noch, damit das Wissenssystem resilienter wird?
Auf politischer Ebene haben wir im Wesentlichen zwei weitere Empfehlungen. Neben der nationalen Plattform empfehlen wir ein strategisches Dialogforum. In diesem Rahmen könnten Vertreter*innen wissenschaftlicher Organisationen sowie relevante Ministerien und Sicherheitsakteure gemeinsam über sogenannte Fähigkeitslücken diskutieren – also über Bereiche, in denen der Wissenschaft derzeit noch das nötige Know-how fehlt, um sicherheitsrelevante Risiken angemessen zu adressieren. Ein Beispiel hierfür ist wiederum die Cybersicherheit. Werden solche Lücken identifiziert, könnten gezielte Forschungsprogramme initiiert werden, um diese Defizite zu schließen und langfristig die Resilienz des Gesamtsystems zu stärken.
Darüber hinaus empfiehlt der Wissenschaftsrat den Aufbau sogenannter Innovation Hubs. Diese sollen Universitäten die Möglichkeit bieten, unter sicheren Bedingungen an sensiblen oder militärisch relevanten Themen zu arbeiten – etwas, das bislang vorrangig außeruniversitären Einrichtungen wie den Fraunhofer-Instituten vorbehalten ist. Die Innovation Hubs wären mit abgeschotteten IT-Systemen, Zugangskontrollen und strengen Sicherheitsstandards ausgestattet, sodass ausschließlich überprüftes Personal Zugang erhält. Sie würden regional verteilt angelegt und interdisziplinär ausgerichtet sein, um Forschende aus unterschiedlichen Fachrichtungen zusammenzubringen. Auf diese Weise könnten auch Universitäten künftig einen aktiven Beitrag zur sicherheitsrelevanten Forschung leisten.
Schränken diese Prozesse die Wissenschaftsfreiheit ein?
Das ist zumindest möglich. Die Wissenschaftsfreiheit ist ein hohes Gut, das wir unbedingt schützen wollen. Allerdings bedeutet sie nicht, dass Forscher*innen uneingeschränkt an jedem beliebigen Thema arbeiten können, das sie persönlich interessiert. Auch jenseits der Frage der Wissenssicherheit ist die Wissenschaftsfreiheit durch andere, ebenfalls im Grundgesetz geschützte Rechtsgüter begrenzt – etwa durch den Embryonenschutz oder das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Bislang spielte die Dimension der Wissenssicherheit in diesem Kontext kaum eine Rolle. Angesichts der veränderten weltpolitischen Lage sollte sich das jedoch ändern.
Und wie steht es um die Wissenschaftsdiplomatie? Wird auch sie durch den Fokus auf Wissenssicherheit eingeschränkt?
Das hielte ich für fatal. Es gab immer drei Bereiche, in denen – unabhängig von politischen Differenzen – ein Dialog möglich war: Sport, Kultur und Wissenschaft. Die ersten Gespräche zwischen Deutschland und Israel nach dem Zweiten Weltkrieg wurden durch wissenschaftliche Kooperationen angebahnt. Vor rund 50 Jahren nahmen die Chinese Academy of Sciences und die Max-Planck-Gesellschaft erste Kontakte auf, als sich China langsam dem Westen öffnete. Solche Gesprächsfäden jenseits der politischen oder militärischen Ebene sind essenziell. Sie schaffen Räume für gegenseitiges Verständnis und leisten einen Beitrag zu einem langfristig friedlichen Zusammenleben auf globaler Ebene.
In Europa und den USA herrscht häufig die Vorstellung, dass die weltweit beste Forschung bei uns stattfindet. Damit einher geht oft die Sorge, dass unser Wissen unkontrolliert weitergegeben und womöglich missbraucht werden könnte. Diese Sichtweise ist jedoch überholt. Im Bereich der Künstlichen Intelligenz etwa zählen heute vor allem chinesische Institute zu den führenden Einrichtungen weltweit. Es kann daher nicht in unserem Interesse sein, die wissenschaftliche Zusammenarbeit mit solchen Ländern grundsätzlich zu beenden. Gleichzeitig müssen wir angesichts der veränderten weltpolitischen Lage immer wieder neu austarieren, wo die Grenzen einer solchen Kooperation liegen – mit Augenmaß, aber auch mit dem klaren Willen, den Dialog nicht abbrechen zu lassen.
Das Positionspapier richtet sich nicht direkt an die Gesellschaft, sondern an Politik und Wissenschaft. Halten Sie es dennoch für wichtig, auch die Bevölkerung über das Thema Wissenssicherheit aufzuklären?
Ich fürchte, ein großer Teil der Bevölkerung hat im Moment andere Sorgen. Wenn sie sich über nationale Sicherheit Gedanken macht, dann eher über die Kriege in der Ukraine oder in Gaza und nicht darüber, was die deutsche Wissenschaft in den nächsten zehn Jahren tun kann, um resilienter zu werden. Das ist für viele Menschen zwei Schritte zu weit von ihrer Lebenswirklichkeit entfernt.
Trotzdem halte ich es für wichtig, auch die Bevölkerung für das Thema Wissenssicherheit zu sensibilisieren. Das gelingt am besten über konkrete, greifbare Beispiele: Wenn wir etwa weiterhin sicher Onlinebanking nutzen wollen, müssen wir dafür sorgen, dass die zugrunde liegenden Verschlüsselungstechnologien – die auf wissenschaftlicher Forschung basieren – auch in Zukunft gegen Angriffe geschützt sind. Wissenschaft trägt entscheidend dazu bei, unsere Verwundbarkeit gegenüber Bedrohungen zu verringern. Genau das gilt es der Öffentlichkeit verständlich zu machen – nicht abstrakt, sondern alltagsnah.