Premiere von JIVE Klima in Berlin. Foto: Jörg Farys

„Weniger blinde Flecken auf der Landkarte des eigenen Gehirns“

JIVE will Live-Journalismus auf deutsche Bühnen bringen. Bei den Shows geben Reporter*innen Einblicke in ihre Recherchen, Erfahrungen und Erlebnisse. Christine Liehr von der Headliner gUG erklärt, warum das Format auf persönliche Geschichten setzt und berichtet von der ersten Ausgabe zum Thema Klima.  

Medienhäuser setzen immer stärker auf Digitalisierung. Sie aber bringen mit JIVE ein Format ins Spiel, das analoger kaum sein könnte: Reporter*innen stehen live auf der Bühne, musikalisch begleitet von einem Orchester. Ist das ein Akt der Rebellion?

Christine Liehr ist studierte Betriebswirtin und Journalistin und hat einem Hang zur Bühne. Im Frühjahr 2023 hat sie die Headliner gUG mitbegründet, die erste gemeinnützige Organisation in Deutschland, die Journalismus und Kunst in Live-Shows verbindet. Sie lebt in Berlin und teilt sich die Geschäftsführung mit Jochen Markett. Foto: Creative Photography New York

Ja, absolut. Im Prinzip ist JIVE eine Gegenbewegung. Denn alle stoßen gerade in Richtung künstliche Intelligenz und Digitalisierung. Wir verschließen uns dem nicht, aber wir möchten Leute wieder mehr zum klassischen Geschichtenerzählen bringen.
Für unsere Show laden wir sechs bis sieben Journalist*innen verschiedenster Fachrichtungen ein, die zehnminütige Vorträge halten, unterstützt durch künstlerische und visuelle Mittel. Das soll Zuschauer*innen die Chance geben, tief in Themen einzutauchen. Ich merke oft, dass Menschen Argumente und Perspektiven fehlen, um differenziert diskutieren zu können. Man wirft dann nur noch mit Schlagzeilen um sich. Dadurch, dass Leute online in ihren Filterblasen unterwegs sind, bekommen sie gar nicht mehr die ganze Breite an Ressorts einer klassischen Zeitung mit. Wir möchten Zuschauer*innen mit Themen in Berührung bringen, die sie im eigenen Feed durch die Algorithmen der sozialen Medien eventuell gar nicht zugespielt bekommen.
Hinzu kommt, dass der Theaterraum die Stille und Dunkelheit bietet, um sich konzentrierter auf Geschichten einzulassen – ohne Ablenkung durchs Smartphone. Nach der Show gibt es Gelegenheit zum Austausch, mit den eigenen Begleiter*innen und den Mitwirkenden.

Abgesehen von der Themenvielfalt: Welche Ziele verfolgen Sie mit JIVE?

Bei uns kommt die Nachricht aus dem Munde der Reporterin oder des Reporters selbst. So wollen wir Journalismus nahbarer machen und seine Glaubwürdigkeit stärken, weil wir die Branche in einer Vertrauenskrise sehen.
Wir wollen die Bühne aber auch nutzen, um Stimmen hörbarer zu machen, die nicht die verdiente Aufmerksamkeit bekommen. Manche gehen auch im Social-Media-Lärm unter. Das betrifft zum Beispiel Medienschaffende mit migrantischem Hintergrund oder marginalisierte Bevölkerungsgruppen.

Live-Journalismus

JIVE, das neue Live-Journalismus-Format in Deutschland, hat internationale Vorbilder. 2009 wurde an der Westküste der USA das Pop-Up Magazine ins Leben gerufen. Ab 2014 kamen mehrere europäische Initiativen dazu, darunter das Live Magazine in Frankreich, The Black Box aus Finnland und Diario Vivo in Spanien. In Deutschland haben Christoph Herms, Jochen Markett und Christine Liehr im Mai 2023 die gemeinnützige Headliner gUG registriert, um damit das Format JIVE zu entwickeln. Das Projekt hat eine dreijährige Strukturförderung der Schöpflin Stiftung bewilligt bekommen. Mithilfe einer Förderung der WPK sollen JIVE-Ausgaben mit Wissenschaftsgeschichten auf die Bühne gebracht werden. Zusammen mit dem Kooperationspartner Correctiv hat die Headliner gUG auch eine Förderung der Allianz Foundation im Rahmen des Climate Cultures Call bekommen. So konnte die erste Ausgabe zum Thema Klima und Stadt im November 2023 finanziert werden.
Mehr Information unter www.jive.de, JIVE auf YouTube: https://www.youtube.com/@JIVE-show

Und wir wollen natürlich auch eine Einkommensquelle für freiberufliche Journalist*innen schaffen. Sie bekmmen bei uns ein Honorar, auch weil sie Zeit für Probentage und Absprachen mitbringen. Wir wollen sie bestmöglich für ihren Auftritt auf der Bühne vorbereiten, denn für einige ist es das erste Mal im Scheinwerferlicht. Für sie ist JIVE eine Möglichkeit, direkte Rückmeldungen vom Publikum zu bekommen und zu sehen, ob eine Geschichte funktioniert. Sie können auch „Outtakes“ ihrer Recherche präsentieren. Bei uns auf der Bühne ist ein verwackeltes Handyvideo auf einmal vorzeigbar und sorgt für Lacher. Das wäre in traditionellen Medien schlecht möglich. Das Format gibt also viel Freiheit.

Wie werden bei JIVE Inhalte vermittelt?

Mich treibt oft die Frage um: Warum muss man heutzutage überhaupt noch etwas wissen? Denn heutzutage kann man über Google und OpenAI alles binnen Sekunden abrufen. Bei uns geht es aber nicht nur um die Vermittlung von Informationen, sondern um ein tieferes Verständnis und die Verknüpfung von verschiedenen Themen. Wir versuchen, universelle Wahrheiten auf einzelne Schicksale und Geschichten runterzubrechen. Wir hoffen, dass es den Zuschauer*innen Spaß macht, auch Querverbindungen zwischen den einzelnen Beiträgen knüpfen. Eventuell führt das zu weniger blinden Flecken auf der Landkarte des eigenen Gehirns.
Wir setzen dabei gezielt darauf, dass Journalist*innen persönliche Erfahrungen einbringen. Bei unserer ersten Ausgabe hatten wir zum Beispiel eine schöne Geschichte von Sarah Kröger, einer freiberuflichen Journalistin aus Bochum, die die Transformation ihrer Heimatstadt von einer Betonwüste in eine Schwammstadt dargestellt hat. Nach Vorgesprächen haben wir dann zusammen entschieden, dass die spannendere Geschichte für unsere Bühne eine kollektive Heldengeschichte ist. Denn ganz viele Initiativen, Ministerien und Einzelpersonen setzen sich für diese Transformation ein, und verdienen es, vorgestellt zu werden.
Ein amerikanischer Kollege von den Vorreitern aus den USA, dem Pop-Up Magazine, hat mal schön gesagt: „We want to leave the audience with their heads and hearts full.“ Mit den Inhalten sollen also Herz und Kopf angesprochen werden.

Premiere von JIVE Klima im Babylon Berlin: die freie Journalistin Judit Alonso Gonzalbez auf der Bühne. Foto: Jörg Farys

Live-Journalismus-Formate gibt es unter anderem schon in den USA, in Finnland, Spanien und Frankreich. Sie haben mit Jochen Markett und Christoph Herms zusammen im Mai die Headliner gUG gegründet, um JIVE zu entwickeln. Wie sind Sie auf die Idee gekommen?

Wir fangen nicht bei Null an, sondern haben bereits Erfahrungen mit Reporter Slams gesammelt, die mein Mitgesellschafter und Co-Geschäftsführer Jochen Markett 2016 ins Leben gerufen hat. Er war damals erstaunt, dass es so etwas wie Poetry Slams und Science Slams für Medienschaffende noch nicht gab. Im Vergleich zu JIVE steht bei den Slams das Kompetitive stärker im Vordergrund. Es treten fünf bis sechs Reporter*innen gegeneinander an, das Publikum wählt einen Sieger oder eine Siegerin und es gibt zum Schluss einen Pokal. Aber tatsächlich geht es vor allem darum, dabei zu sein und dem Publikum die eigene journalistische Arbeit näherzubringen.

Vor zwei Jahren sind wir dann zur ersten internationalen Live-Journalismus-Konferenz nach Helsinki geflogen und haben gesehen, wie Vorreiter*innen des Genres ganze Magazine auf die Bühne bringen. Wir dachten: Wieso gibt es das nicht in Deutschland?

Ihre finnischen Kolleg*innen haben mit Musta laatikko („Black Box“) schon länger eine sehr erfolgreiche Live-Journalismus-Show und haben dazu eine Studie veröffentlicht. Was sind die Ergebnisse?

Sie haben über einen Zeitraum von sechs Jahren über 500 Befragungen mit Zuschauenden ihrer Shows durchgeführt und ein Handbuch zur Wirkkraft von Live-Journalismus veröffentlicht, „The Power of Live Journalism“. Es kam unter anderem heraus, dass die Geschichten länger im Gedächtnis bleiben und auch die Bereitschaft wächst, die Inhalte zu teilen. Wir wollen in Zukunft auch in Deutschland Befragungen durchführen und hoffen, dass wir zu ähnlichen Ergebnissen kommen.
Bisher gab es erst eine JIVE-Show: Ende November zum Thema „Die Städte und der Klimawandel“ im Babylon in Berlin-Mitte. Wie lief’s?

„Wir versuchen, universelle Wahrheiten auf einzelne Schicksale und Geschichten runterzubrechen.“ Christine Liehr
Wir waren vorher sehr nervös, aber am Ende sehr zufrieden. Da kamen viele herausfordernde Faktoren zusammen. Zum einen musste die Show zweisprachig sein, weil wir neben deutschen auch Reporter*innen aus anderen europäischen Ländern dabei hatten. Das hat natürlich die Vorbereitung und Organisation erschwert. Und wir haben zum ersten Mal mit dem tollen Improvisations-Orchester Stegreif zusammengearbeitet. Gemeinsam mit den verschiedenen Akteuren Choreografien zu entwickeln bedeutet Aufwand und benötigt verschiedene Fachexpertisen. Ich denke, dies ist auch ein Grund, warum Live-Journalismus in Deutschland noch nicht so verbreitet ist. Das Ganze war auf vielen Ebenen neu für uns, aber wir konnten sehen, dass es funktioniert.

Was würden Sie beim nächsten Mal anders machen?

Ich glaube, der wichtigste Punkt ist, dass wir uns Unterstützung im Bereich Dramaturgie holen wollen, weil die einzelnen Geschichten teilweise sehr textlastig waren. Wir haben uns sehr auf die Einzelbeiträge konzentriert und dabei die Gesamtdramaturgie der Show aus dem Blick verloren. Wir möchten deshalb mit einer Person mit Theaterexpertise zusammenarbeiten, um die visuellen Mittel noch intensiver und effektiver einsetzen zu können. Auch mit unserem musikalischen Partner wollen wir noch mehr ausloten, wie Musik die Geschichten besser ergänzen kann und Übergänge noch besser gestaltet werden können.

Wen sprechen Sie mit JIVE an? Zu den Shows muss man hingehen und Tickets kaufen. Birgt das nicht die Gefahr, dass vor allem Menschen kommen, die sowieso schon bühnen- und medienaffin sind?

„Wir möchten auf der Bühne Diversität zeigen und hoffen, dass sich das irgendwann auch im Publikum spiegelt.“ Christine Liehr
Ja, diese Frage treibt uns sehr um. Wir hatten mit der Klima-Ausgabe das Glück, im Babylon Premiere zu feiern. Damit haben wir natürlich zum einen theater- und kunstaffine Menschen angesprochen – und außerdem über unsere eigenen Kreise viele Medienschaffende und Medienaffine erreicht. Das wollen wir Stück für Stück ausweiten und uns dazu am Modell unserer französischen Kolleg*innen orientieren. Sie geben meist zehn Prozent der Gesamttickets kostenlos an marginalisierte Bevölkerungsgruppen weiter. Wir möchten auf der Bühne Diversität zeigen und hoffen, dass sich das irgendwann auch im Publikum spiegelt. Das probieren wir auch über gezielte Kooperationen mit bestimmten Communities zu erreichen. Wir sind zum Beispiel mit Nalan Sipar im Gespräch, um im Herbst einen deutsch-türkischen Reporter Slam im Heimathafen Neukölln zu zeigen.

Und wie geht es mit JIVE weiter?

Dank der Förderung des Innovationsfonds Wissenschaftsjournalismus der Wissenschaftspressekonferenz (WPK) wollen wir uns Wissenschaftsgeschichten zuwenden – aber nicht nur. Wir planen, einen thematischen Beitrag zu Europa ins Programm aufzunehmen und die ersten Shows vor den anstehenden Europaparlamentswahlen am 9. Juni stattfinden zu lassen. Wir führen auch Gespräche zu Themen aus den Bereichen Kunst und Kultur, Geschichte, Politik – um alle klassischen Ressorts zu bedienen. Schwerpunktmäßig wird JIVE auf Berliner Bühnen stattfinden, wobei wir auch gerade dabei sind, Auswärtstermine zu planen.

Nächste Show: 30. und 31. Mai 2024 auf der Bühne des Säälchen, Holzmarktstraße 25, 10243 Berlin