Foto: Bruno Figueiredo

„Oft sind es Kleinigkeiten, die einen glücklich machen“

Was bedeutet Corona für die Veranstaltungswelt? Das haben Wolfgang Himmel und Stefan Luppold in einem Gesprächskreis diskutiert, in dem auch ein Buch zum Thema „Berührende Online-Veranstaltungen“ entstanden ist. Was diese ausmacht, erklären der Partizipationsexperte und der Professor für Messe- und Eventmanagement im Interview.

Herr Luppold, Herr Himmel, Sie haben gerade den Sammelband „Berührende Online-Veranstaltungen“ herausgegeben. Worum geht es darin genau?

Himmel: Es geht darum, wie man es in Onlineveranstaltungen schafft, all das zu ermöglichen, was wir im Moment vermissen: den menschlichen Kontakt, die echte Begegnung und Beteiligung und letztlich die Emotion. Möglichkeiten dafür werden aus unterschiedlichen Perspektiven von 28 Autor*innen beleuchtet, etwa aus den Bereichen Hochschullehre, Messe- und Eventmanagement , Bürgerbeteiligung oder Veranstaltungsplanung.

Was war der Anlass für das Buch?

Stefan Luppold ist Professor und Studiengangsleiter BWL – Messe-, Kongress- und Eventmanagement an der DHBW Ravensburg. Als Autor, Referent und Gastdozent an Hochschulen im In- und Ausland gibt er sein Wissen weiter. Vor seinem Ruf an die DHBW war er zwei Jahrzehnte in internationale Projekte der Veranstaltungswirtschaft eingebunden. Foto: privat

Luppold: Als Corona begann, haben wir beide uns zusammengetan und eine wöchentliche Gesprächsrunde gestartet, weil uns schnell klar war, dass jetzt ein großer Umbruch für die Veranstaltungsbranche kommen würde. Darin haben wir mit verschiedenen Gästen aus unserem persönlichen Netzwerk die aktuellen Entwicklungen und deren Bedeutung für die Veranstaltungsbranche besprochen. Zu den Gesprächspartner*innen gehörte eine Veranstaltungsmanagerin, die kurzfristig eine große Konferenz komplett ‚elektrifizieren‘ musste. Oder ein Improvisationstheaterspieler, der plötzlich ohne Kontakt zum Publikum dastand. Bei den Gesprächen kamen so viele spannende Perspektiven darauf zusammen, wie man Veranstaltungen bedeutsam und berührend gestalten kann, dass wir letztlich das Buch daraus konzipiert haben, um das Wissen und die Erfahrungen der Personen zu teilen.

Was meinen Sie genau mit einer „berührenden Veranstaltung“?

„Was geht bei der Veranstaltung so unter die Haut, dass sich die Teilnehmenden danach sagen: Es hat sich wirklich gelohnt, diese Stunde zu investieren.“ Stefan Luppold
Luppold: Dass sie Emotionen auslöst. Dazu gehören nicht nur das Lachen oder Weinen, sondern auch Ärger oder Zufriedenheit. Ein anderer Aspekt ist die Nachhaltigkeit, also der Nachhall, der bleibt, wenn die Veranstaltung vorbei ist. Die Frage ist also: Was geht bei der Veranstaltung so unter die Haut, dass sich die Teilnehmenden danach sagen: Es hat sich wirklich gelohnt, diese Stunde zu investieren.

Wie sieht so etwas im digitalen Raum aus?

Luppold: Nehmen wir das Beispiel Kino: Hier kann es sein, dass man weint, wenn auf der Leinwand eine berührende Szene zu sehen ist. Oder man lächelt bei einem Telefongespräch, obwohl das Gegenüber das nicht sehen kann. Es passiert also auch in digitalen Kontexten etwas, das über das Funktionale hinausgeht. Bei all der Kritik, die man an digitalen Veranstaltungen üben kann, werden auch hier immer Verbindungen geschaffen, die über die reine Informationsweitergabe hinausgehen. Wir wollten uns also mit den Chancen des Formates beschäftigen. Mit dem, was man digital erreichen kann.

Wolfgang Himmel ist selbstständiger Prozessbegleiter für Partizipationsformate und andere Expeditionen. Zuvor war er 20 Jahre lang Gründer und Geschäftsführer einer Agentur für Bürgerbeteiligung und Veranstaltungsdesign. Foto: Translake

Himmel: Im Bereich Bürgerbeteiligung haben wir auch früher schon viele digitale Formate ausprobiert, allerdings immer als Ergänzung zur analogen Veranstaltung. Die Frage war dann im März 2020 also, ob diese Formate auch für sich stehen können, ohne analoge Anbindung. Die Ansprüche an Beteiligung und an gute Veranstaltungen bleiben ja bestehen: ehrlich sein, transparent sein, und die verantwortungsvolle Planung von Räumen, in denen menschliche Begegnung auch informell stattfinden kann.

Wie kann man ungeplante Begegnungen planen?

Himmel: Das kann man eigentlich nicht. In Anlehnung an den Soziologen Hartmut Rosa würde ich hier den Begriff der Resonanz in den Mittelpunkt stellen. Damit meint er Beziehungen, in denen sich beide Seiten wechselseitig anregen. So eine Resonanz ist nicht einfach verfügbar, man kann sie nicht planen. Man kann nur versuchen, Räume dafür zu schaffen. Und eine Erfahrung, die viele Autor*innen des Buches teilen, ist, dass das, was die Teilnehmenden in diesen Räumen empfinden, nicht immer mit dem übereinstimmt, was man selbst geplant hatte. Oft sind es Kleinigkeiten, die einen glücklich machen und die man gar nicht auf dem Plan hatte.

Luppold: In meiner Disziplin, insbesondere im Kongressmanagement, wird dieses Element der ungeplanten Begegnung bei Veranstaltungen als Matchmaking bezeichnet. Man geht zu einer Veranstaltung und hat natürlich einen Vortrag oder ein anderes festes Programm, aber man geht auch zum Mittagstisch oder hat bei anderen Gelegenheiten total zufällige Konversationen. Man lernt Menschen kennen und nimmt Kontakte ins Adressbuch auf – ein Match. Das geht online nicht oder funktioniert ganz anders. Man braucht konkrete Aufhänger, bei denen Menschen ins Gespräch kommen, die sich noch nicht kennen. Nur so kann man auch von einer digitalen Veranstaltung neue Kontakte mitnehmen. Es gibt aber auch tolle Tools dafür, mit denen man sich am virtuellen Stehtisch treffen kann. Wenn sich die Leute aus anderen Kontexten schon kennen, aber eben nur dann, funktioniert das auch ganz gut, etwa für das virtuelle Feierabendbier.

Wie kann das konkret aussehen?

„Das macht etwas mit den Teilnehmenden. Es entsteht eine Gruppendynamik, ohne dass man sich sieht, ähnlich wie in Social Media.“ Wolfgang Himmel
Himmel: Wir haben beispielsweise mit unserem Gesprächskreis und rund 80 Gästen ein digitales Tool der Schwarmintelligenz ausprobiert, das sehr anonym arbeitet. Es heißt nextmoderator. Dabei kommen viele Leute im digitalen Raum zusammen und beantworten jede*r für sich Fragen, bewerten sie und interagieren so miteinander, ohne tatsächlich in Kontakt zu treten. Für mich mit meinem Hintergrund in Erwachsenenbildung und Didaktik war erst einmal unvorstellbar, wie das funktionieren soll. Und trotzdem ist etwas Berührendes passiert, weil 80 Leute zur selben Zeit zu präzise gestellten Fragen etwas ganz persönliches geschrieben haben, ihr Wissen geteilt haben. Gleichzeitig haben sie gesehen, wie das von anderen bewertet und gerankt wird. Das macht etwas mit den Teilnehmenden. Es entsteht eine Gruppendynamik, ohne dass man sich sieht, ähnlich wie in Social Media.

Luppold: Spannend an dem Tool ist, dass es vor Corona vor allem bei analogen Veranstaltungen zum Einsatz kam. Teilnehmende haben vor Ort als Programmpunkt oder zwischendurch an Computerstationen das Tool genutzt und so entstand dort eine zweite, digitale Ebene. Es diente dazu, Geschwindigkeit in Prozesse zu bringen, die sonst nur mit Kärtchen Schreiben, Hinpinnen und langwierigem Sortieren funktioniert hätten. Für uns war das ein spannender Testlauf, der uns gezeigt hat, was digitale Elemente alles können. Manche Prozesse können stark beschleunigt und wunderbar strukturiert werden, die im direkten Gespräch wahnsinnig lange dauern würden. Hier ist eine Quantifizierung also durchaus sinnvoll.

Gibt es Dinge, die im digitalen Raum besser funktionieren als analog?

„Im digitalen Raum kann man sich von Vorurteilen trennen und sich dadurch wirklich auf die Sachebene begeben. Das hat zum Beispiel auch für politische Beteiligungsverfahren außerordentliches Potenzial.“ Wolfgang Himmel
Himmel: Ja und für mich als Erwachsenenbildner war das eine der wichtigsten Erkenntnisse des letzten Jahres. Die drei wichtigsten Prinzipien beim Lernen sind ja Freiwilligkeit, Beteiligung und soziale Prozesse. Darum konnte ich mir lange nicht vorstellen, mit Leuten zu kommunizieren, die ich gar nicht sehe; die ich darum auch gar nicht einschätzen kann. Mir ist aber klar geworden, dass diese Einschätzung automatisch mit einem Bewertungsprozess zusammenhängt. Ich bewerte die Aussage von einer Person immer im Zusammenhang mit ihrem Aussehen und meiner Einschätzung übe diese Person. Im digitalen Raum kann man sich von Vorurteilen trennen und sich dadurch wirklich auf die Sachebene begeben. Das hat zum Beispiel auch für politische Beteiligungsverfahren außerordentliches Potenzial.

Luppold: Damit werden aber auch Prozesse selbst sehr viel demokratischer und gleichberechtigter. Auch Hierarchien werden abgebaut, die es in Gruppen immer gibt, etwa weil die Jüngeren sich weniger berechtigt fühlen oder Ältere sich stark behaupten. Oder weil man sich weniger traut, weil der Chef mit in der Runde sitzt.

Himmel: Idealerweise verbindet man aber beides – die analoge Begegnung mit einer digitalen Komponente. So kann man die Ergebnisse aus einer quantitativen Methode qualitativ ergänzen.

Gibt es Veranstaltungselemente, die digital einfach nicht funktionieren?

Himmel: In den meisten digitalen Settings kommuniziert man nur mit einem Teil seiner selbst. Von allen sind nur Ausschnitte bis maximal zum Bauch zu sehen. Dadurch bleibt ein Teil der Körpersprache verborgen und somit auch ein Teil der Kommunikation. Es wird sehr selten gemacht, dass wir uns in andere Positionen begeben, aufstehen, herumgehen. Aber das könnte man durchaus machen. Das würde auch ein weiteres Problem lösen, dass nämlich stundenlange Bildschirmarbeit extrem ungesund ist. Wir bewegen und zu wenig, haben eine eingeschränkte Haltung und das beeinflusst auch unsere Konzentration. In dem Buch haben wir darum auch einige Beispiele für aktivierende Formate. Zum Beispiel, dass wir eine Partneraufgabe in einem Workshop so stellen, dass die Teilnehmenden sie einfach am Telefon bei einem Spaziergang lösen können.

„Die meisten Dinge funktionieren digital einfach nach anderen Prinzipien. Wir haben aber auch andere Möglichkeiten.“ Stefan Luppold
Luppold: Die meisten Dinge funktionieren digital einfach nach anderen Prinzipien. Wir haben aber auch andere Möglichkeiten. Wenn man zum Beispiel für eine Konferenz reisen muss, sollte an den zwei Konferenztagen auch möglichst viel Programm stattfinden. Zwei Tage Zoom-Input am Stück sorgt aber vor allem für leere Gesichter bei den Rezipierenden. Wenn ich aber eine digitale Konferenz plane, kann ich den Aufmerksamkeitsspannen viel besser Rechnung tragen und zum Beispiel vier halbe Tage planen. So ermöglicht das Format unter Umständen sogar mehr Teilhabe, weil es einigen Leuten eher möglich ist, hier und da ein paar Stunden dafür freizunehmen, als drei volle Tage mit An- und Abreise.

Himmel: Wichtig ist also viel eher, dass man sich bei jedem Format, dass man vermeintlich digital nicht umsetzen kann, überlegt, welche Alternativen einen zum selben Ziel bringen. Also: Was kann digital einen ähnlich berührenden Effekt haben wie ein analoger Veranstaltungsteil.