Foto: Petri Heiskanen

Kurz vorgestellt: Neues aus der Forschung im Juli 2023

Wie beschäftigen sich brasilianische Memes zu Corona mit Wissenschaft? Wie beurteilen Wissenschaftler*innen aus Südeuropa die Zusammenarbeit mit Journalist*innen? Und wie haben sich populärwissenschaftliche Zeitschriften in der Türkei entwickelt? Das sind Themen im Forschungsrückblick für Juli. 

In unserem monatlichen Forschungsrückblick besprechen wir aktuelle Studien zum Thema Wissenschaftskommunikation. Diese Themen erwarten Sie in der aktuellen Ausgabe:

  • In welcher Form greifen Memes in der Coronapandemie auf Wissenschaft zurück? Welche Botschaften wollen sie damit verbreiten? Brasilianische Forscher*innen haben Beispiele auf Instagram untersucht. 
  • Wie haben Wissenschaftler*innen in Italien, Spanien und Portugal die Zusammenarbeit mit Journalist*innen erlebt? Dazu haben Forscher*innen eine Umfrage und Interviews durchgeführt. 
  • Unter welchen Bedingungen haben sich populärwissenschaftliche Zeitschriften in der Türkei entwickelt? Emre Canpolat gibt einen Überblick. 
  • In der Rubrik „Mehr Aktuelles aus der Forschung“ geht es unter anderem um ein Projekt des Museums für Naturkunde in Berlin und Forschung zum Hören.

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Bolsonaro als Virus: Brasilianische Memes zu Covid-19

Memes können Bilder, Texte, Videos oder Kombinationen verschiedener Medienformen sein, die sich im Internet verbreiteten. Häufig nehmen sie auf kritische und humorvolle oder sarkastische Art Bezug auf aktuelle Ereignisse – wie sich exemplarisch an der Coronapandemie zeigen lässt. Memes können Maßnahmen im Kampf gegen das Virus sowohl unterstützen als auch in Frage stellen. Durch ihre schnelle und weite Verbreitung können sie für die Gesundheitskommunikation eine wichtige Rolle spielen. Wilmo Ernesto Francisco Junior und Tereza Cristina Cavalcanti de Albuquerque von der Federal University of Alagoas haben deshalb gemeinsam mit den Pädagoginnen Biânca Luiz dos Santos Costa und Rafaella Lima Gomes brasilianische Memes zu Covid-19 untersucht. Sie wollten herausfinden, welche wissenschaftlichen Informationen sie senden und welche Botschaften sie im Rahmen der Kommunikation über Covid-19 bezwecken.

Methode: Die Forscher*innen nutzten Netnographie oder virtuelle Ethnographie, wendeten also ethnografische Methoden auf den digitalen Raum an, um soziale Praktiken im Internet zu untersuchen. Zuerst sammelten sie auf Instagram Konten, die auf brasilianischem Portugiesisch vorwiegend Memes verbreiteten. Die 60 identifizierten Konten wurden von März 2020 bis Dezember 2021 beobachtet, um einen Korpus aus Memes mit wissenschaftlichen Bezügen zu Covid-19 aufzubauen. Es wurden 83 Memes gefunden, von denen zwölf ausgesucht wurden, die wissenschaftliche Inhalte mit sehr spezifischen Bedeutungen vermitteln. 

Diese Auswahl untersuchten die Forscher*innen in Anlehnung an die Grammar of Visual Design (GDV), betrachteten also vor allem Repräsentation (wie werden Charaktere dargestellt und positioniert?), Interaktion (wie wird zum Beispiel der Blick gelenkt?) und Komposition (wie werden die einzelnen Elemente arrangiert?). Auf dieser Grundlage legten die Forscher*innen Kategorien für vermittelten Botschaften fest und analysierten, wie wissenschaftliches Wissen präsentiert wird. Dabei legten sie besonderes Augenmerk auf die multimodale Wirkung, also das Zusammenspiel von Text, Bild, Audio und Video. 

Ergebnisse: Die zwölf Memes wurden in drei Kategorien eingeteilt. Es werden hier jeweils Beispiele vorgestellt. 

1. Memes zum Thema Präventivmaßnahmen: 

  • Ein Meme aus dieser Kategorie beschäftigt sich mit dem Thema Händewaschen. Ein Fußballtorwart tritt darin auf einen Ball, der Ball platzt. Der Torwart symbolisiert die Seife, der Ball steht für das Virus. Die Seife durchbricht damit die Lipidschicht des Virus. 
  • Ein anderes Meme vergleicht das Verhalten von Teilchen in der Physik mit Maßnahmen zur sozialen Distanzierung. Es ruft dazu auf, sich mehr wie Fermionen zu verhalten, die Abstand zueinander wahren, statt wie Besonen, die eng aufeinander hängen. Dabei wird eine Verbindung zwischen dem Wort Boson mit dem Namen des ehemaligen Brasilianischen Präsidenten Bolsonar gezogen, der oft als „bozo“ bezeichnet wird und in der Pandemie durch Wissenschaftsleugnung aufgefallen ist.
  • Ein weiteres Meme zeigt eine Darstellerin einer brasilianischen Seifenoper mit verwirrtem Gesichtsausdruck und dem Text: „Wenn Händedesinfektionsmittel das Coronavirus abtöten, warum kann dann kein Impfstoff auf Alkoholbasis hergestellt werden?“ Diese Frage kann als Unverständnis über die wissenschaftlichen Aspekte der Pandemie gewertet werden.

Bei allen Memes sind zum besseren Verständnis der Botschaft und des ironischen Tons wissenschaftliche Erkenntnisse erforderlich.
In den vier Memes werden zwei Arten wissenschaftlicher Erkenntnisse miteinander verknüpft. Die erste bezieht sich auf Coronamaßnahmen – insbesondere Hygiene und soziale Distanzierung. Die zweite wissenschaftliche Erkenntnis besteht aus Vergleichen und Kontrasten, die darauf abzielen, den Leser*innen eine spezifische konzeptionelle Bedeutung zu vermitteln. Bei Analogien, ist es wahrscheinlicher, dass die konzeptionelle Dimension nur von einer bestimmten Gruppe verstanden wird – beispielsweise bei einem Meme, das sich auf Konzepte von Charles Darwin bezieht. 

Memes zum Thema Behandlung von Covid-19: 

  • Dieser Kategorie wurde ein Großteil der Memes zugeordnet. Auf ironische Weise kommentieren sie die Unkenntnis über die wissenschaftlichen Prinzipien, die dem Einsatz von bestimmten Medikamenten, insbesondere Hydroxychloroquin und Antibiotika, zur Bekämpfung des Coronavirus zugrunde liegen.
  • Eines dieser Memes spielt in der Zukunft“ und bedient das Genre „beleidigende Witze über Mütter“. Es zeigt zwei lachende Frauen. Einen von ihnen sagt: „Was ist mit deiner Mutter, die früher Medikamente gegen Läuse nahm, um eine Ansteckung mit Covid-19 zu vermeiden!“

Teilweise sind die Memes düster und greifen das Thema Tod auf. Einige spielen auf wissenschaftsfeindliche oder postfaktische Bewegungen an. Bei allen Memes sind zum besseren Verständnis der Botschaft und des ironischen Tons wissenschaftliche Erkenntnisse erforderlich. Leser*innen müssen beispielsweise wissen, dass Antibiotika Medikamente zur Behandlung bakterieller Infektionen sind und daher im Kampf gegen Corona wirkungslos sind. Auch in dieser Kategorie werden narrative und konzeptionelle Funktionen von wissenschaftlichen Informationen miteinander verknüpft. 

Memes über die Funktionsweise des Virus

  • Das einzige Meme in dieser Kategorie besteht aus Bildern, die das Virus darstellen und aus Fotos des ehemaligen brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro bestehen, was dem Covid-19-Virus menschliche Eigenschaften verleiht. Was die konzeptionelle Darstellung betrifft, vermittelt das Meme metaphorisch die Idee einer Mutation, die durch die Veränderung von Gesichtsausdrücken symbolisiert wird. Die Botschaft „Vorsicht vor den neuen Varianten des Virus!!“ impliziert, dass Brasiliens ehemaliger Präsident selbst ein Virus ist.

Einer der Kernaspekte ist die Komplexität der Darstellungen in Memes über Covid-19, die durch verschiedene multimodale Interaktionen die Elemente von Humor, Ironie und Sarkasmus einbringen, die mit sozialer und politischer Kritik verbunden sind.

Um die Memes zu verstehen, müssen verschiedene Ebenen von Text und Bild zusammen gelesen werden. Inhaltlich beschäftigen sie sich mit verschiedenen Themen wie prophylaktischen Maßnahmen oder antiwissenschaftlichen Bewegungen. Kenntnisse wissenschaftlicher Grundlagen sowie aktueller Ereignisse sind notwendig, um die Botschaften zu verstehen. 

Schlussfolgerungen: Die Untersuchung hat gezeigt, dass Memes im Kontext der Covid-19-Pandemie zwar sehr präsent waren. Deutlich wurde aber auch, dass sich nur ein kleiner Teil der während der fast einjährigen Beobachtung gesammelten Memes auf wissenschaftliche Erkenntnisse bezog und dabei spezifische Bedeutungen zu Covid-19 produzierte. Möglicherweise ist das laut der Autor*innen ein Zeichen dafür, wie schwierig es ist, die für Memes charakteristischen Effekte von Mehrdeutigkeit, Humor und Kritik unter Bezugnahme auf wissenschaftliches Erkenntnisse hervorzurufen. 

Anspielungen auf wissenschaftliches Wissen tritt in Form von Redewendungen, Analogien und Metaphern auf.
Die multimodale Darstellung, der Bezug auf allgemeines sowie spezifischeres wissenschaftliches Wissen sowie das Zusammenspiel von Elementen wie Humor, Ironie und Sarkasmus sorgen für eine gewisse Komplexität der Memes. Anspielungen auf wissenschaftliches Wissen tritt in Form von Redewendungen, Analogien und Metaphern auf. Um die Memes zu verstehen, braucht das Publikum nicht nur Kenntnisse über die Ereignisse, auf die sie sich beziehen, sondern muss auch über wissenschaftliches Wissen verfügen – vor allem, um die konzeptuellen Darstellungen zu verstehen. Bei Memes aber, die eine einfachere narrative Struktur haben, hängt das Verständnis nicht nur von wissenschaftlichem Verständnis ab. Für die Wissenschaftkommunikationspraxis kann das Hinweise darauf geben, welche Art von Memes für welche Zielgruppen funktionieren könnten. Konzeptuellen, auf spezifischem wissenschaftlichen Wissen beruhende Memes erreichen womöglich nur ein kleines Publikum. 

Einschränkungen: Eine Einschränkung der Studie ist, dass nur zwölf Memes untersucht wurden. Möglicherweise könnten auf weiteren Instagram-Konten oder anderen Social-Media-Kanäle noch weitere Memes gefunden werden, die sich zur Untersuchung eignen würden. 

Francisco Junior, W. E., Albuquerque, T. C. C., Costa, B. L. S. and Gomes, R. L. (2023). ‘Science by means of memes? Meanings of Covid-19 in Brazil based on Instagram posts’. JCOM 22 (04), A03. https://doi.org/10.22323/2.22040203

Journalismus in der Pandemie: Was denken Wissenschaftler*innen?

Covid-19 hat Wissenschaftler*innen wie Journalist*innen vor große Herausforderungen gestellt. Gerade zu Beginn der Pandemie war das Informationsbedürfnis groß. Medien standen unter Druck, die Bevölkerung schnell mit akkuraten und vertrauenswürdigen Artikeln zu versorgen. Wie hat diese Zeit das Verhältnis zwischen Wissenschaftler*innen und Journalist*innen verändert? Das haben Esther Marín-González, Inês Navalhas und Cristina Luís von der Universität Lissabon zusammen mit Anne M. Dijkstra und Anouk De Jong von der University of Twente in Enschede am Beispiel von Spanien, Italien und Portugal untersucht.

Methode: Die Forscher*innen führten eine Umfrage und Interviews durch. Sie interessierten sich dabei insbesondere für Aspekte der Medialisierung von Wissenschaft, also der zunehmenden Ausrichtung an den Gesetzmäßigkeiten des Mediensystems. 

An der Umfrage nahmen zwischen Mai und Juli 2022 Wissenschaftler*innen teil, die an der Forschung zu einem auf Covid-19 bezogenen Thema beteiligt waren und mit Journalist*innen interagiert hatten. 317 Fragebögen wurden ausgewertet. Die vier zu beantwortenden Fragen bezogen sich auf die Anzahl, die Art und die Qualität der Interaktionen mit der Presse. Die Teilnehmer*innen wurden beispielsweise gefragt, inwieweit sie bestimmten Aussagen zur Motivation, dem erwarteten Nutzen und den Befürchtungen in Bezug auf die Interaktion mit Journalist*innen zustimmen würden. Auch sollten sie beurteilen, welchen Einfluss die Pandemie ihrer Ansicht nach auf die Beziehungen von Wissenschaftler*innen mit den Medien hatte. Auf Grundlage der Umfrageergebnisse und bisheriger Forschung zum Thema wurden Fragen für die Interviews entwickelt, die zwischen September und November 2022 via Zoom geführt wurden. Die sieben Fragen bezogen sich auf die Interaktion der Wissenschaftler*innen mit Journalist*innen während der Pandemie, auf ihre Motivation und ihre Sorgen. Auch wurde nach Möglichkeiten gefragt, die Zusammenarbeit zu verbessern.

Fast 70 Prozent der Teilnehmer*innen bewerteten ihre Medienkontakte positiv.
Die Interviews wurden mithilfe des Programm Atlas.ti v22 ausgewertet, um Themen herauszuarbeiten. Dazu wurden zuerst die Transkripte kodiert und in jedem Land Muster identifiziert, die zu potenziellen Themen zusammengefasst wurden. Anschließend wurden die Ergebnisse der drei Länder miteinander verglichen. 

Ergebnisse: Die meisten Befragten nannten drei Hauptgründe, warum sie mit Medien in Kontakt stehen: die Verbesserung der ,wissenschaftlichen Kultur’ in der Gesellschaft, der Kampf gegen Covid-19-bezogene Missinformationen und der Wunsch, in den Medien für Wissenschaft werben zu wollen. Vor allem in Portugal und Spanien sahen Wissenschaftler*innen dies als ihre berufliche Pflicht an. Beim erhofften Nutzen stand eine positive öffentliche Einstellung gegenüber der Wissenschaft an erster Stelle, gefolgt von öffentlicher Bildung und der Möglichkeit, die öffentliche Debatte zu beeinflussen. Wissenschaftler*innen in allen drei Ländern äußerten als Sorge, falsch zitiert zu werden. Einige bezeichneten Journalist*innen als unvorhersehbar. In Portugal und Spanien befürchten Wissenschaftler*innen, es könne ein negatives Bild in der Öffentlichkeit entstehen, während Italiener*innen eher besorgt über kritische Reaktionen vonseiten ihrer Vorgesetzten waren.

Die Teilnehmer*innen stimmten Statements, in denen es um Medialisierung von Wissenschaft ging, überwiegend zu, darunter diesen beiden: „Wissenschaftler*innen werden häufiger angefragt und zitiert als vor der Pandemie“ und: „Wissenschaftliche Themen sind in den Medien präsenter als vor der Pandemie“. Fast 70 Prozent der Teilnehmer*innen bewerteten ihre Medienkontakte positiv, rund zehn Prozent hatten negative und 20 Prozent neutrale Erfahrungen gemacht. 

Die Teilnehmer*innen stimmten folgenden Statements am stärksten zu: „Ich habe es geschafft, meine Botschaft in die Öffentlichkeit zu tragen“ und „Mit den Journalist*innen zu sprechen war angenehm“. Bei der Auswertung der Leitfadeninterviews zeigten sich ähnliche Gründe, mit Medien zu interagieren. In allen drei Ländern berichteten die Befragten, dass sie auf den Informationsbedarf der Bevölkerung reagieren wollen – einerseits, weil sie dies als Teil ihres Jobs begreifen und andererseits weil sie finden, Bürger*innen hätten ein Recht auf Informationen. Mehr als die Hälfte der Befragten fand, dass Journalist*innen ausreichend spezialisiert sind. Einige lobten die gute Vorbereitung oder das Vorwissen ihrer Gesprächspartner*innen. Die Hälfte der Befragten bemängelte, dass Wissenschaftler*innen zu wenig Training im Umgang mit Medien hätten. Einige fühlten sich dabei unwohl.

Wichtig für die Wissenschaftler*innen ist der gemeinsame Kampf gegen Desinformation.
Auch an Journalist*innen wurde Kritik geübt: Wissenschaftler*innen beschwerten sich beispielsweise über sensationalistische Headlines und fehlende Vorbereitung der Journalist*innen. Kritisiert wurde auch, dass Generalist*innen im Medienbereich nur über begrenztes Wissen verfügten und es Medien mitunter aus finanziellem Interesse auf Klicks abgesehen hätten. Gleichzeitig erkannten die Wissenschaftler*innen auch strukturelle Probleme im Journalismus an – etwa begrenzte zeitliche und finanzielle Ressourcen. 

Fast die Hälfte der Befragten fand es wichtig, vor Veröffentlichung Korrekturen anbringen zu können. Gleichzeitig sagten genauso viele, dass Wissenschaftler*innen möglichst klare Aussagen machen und für Fragen zu Verfügung stehen sollten, um Journalist*innen die Arbeit zu erleichtern. 

Schlussfolgerungen: Die Ergebnisse zeigen, dass Wissenschaftler*innen im Kontakt mit Medien in allen drei untersuchten Ländern durch normative Erwartungen und berufliches Verantwortungsgefühl angetrieben werden. Die Wissenschaftler*innen erkannten die Bedeutung der Zusammenarbeit mit den Medien an, um den Informationsbedürfnissen der Gesellschaft zu begegnen. 

Die Ergebnisse sprechen für eine zunehmende Medialisierung der Wissenschaft. Selbst in der Pandemie, einer Zeit großer Unsicherheiten und Spannungen, wurden die Beziehungen zwischen Wissenschaftler*innen und Journalist*innen größtenteils positiv wahrgenommen. Die außergewöhnliche Situation scheint keinen merklich negativen Effekt auf die Wahrnehmung der Interaktion mit den Medien zu haben. Die Wissenschaftler*innen reflektierten die jeweiligen Rollen und äußerten Ideen, wie eine fruchtbare und vertrauensvolle Zusammenarbeit unterstützt werden kann. Dazu gehöre auf Seiten der Journalist*innen ein gutes Verständnis wissenschaftlicher Praxis – inklusive der Offenheit für Veränderungen, Unsicherheiten und Nuancen. Wichtig für die Wissenschaftler*innen ist der gemeinsame Kampf gegen Desinformation. 

Einschränkungen: Die Forscher*innen haben sich in der Studie auf die Perspektive der Wissenschaftler*innen konzentriert. Um ein vollständiges Bild zu bekommen, könnten auch Journalist*innen befragt werden. Auch der Vergleich mit anderen gesellschaftlich relevanten und kontrovers diskutierten Themen könnte aufschlussreich sein. 

Marín-González, E., Navalhas, C. Dijkstra, A. M., De Jong, A., Luís, I. (2023) Science journalism in pandemic times: perspectives on the science-media relationship from COVID-19 researchers in Southern Europe, Frontiers in Communication, https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fcomm.2023.1231301/full

Die Entwicklung populärwissenschaftlicher Zeitschriften in der Türkei

Populärwissenschaftliche Zeitschriften existieren in der Türkei seit 160 Jahren. Wie haben sie sich seit dem Osmanischen Reich bis heute entwickelt? Vor welchen Herausforderungen standen sie in unterschiedlichen Epochen? Welche Rolle spielen dabei politische, wirtschaftliche und soziale Verhältnisse? Das hat Emre Canpolat von der Hacettepe Universität in der Türkei untersucht. 

Methode: Der Autor beleuchtet die Geschichte populärwissenschaftlicher Zeitschriften in der Türkei von ihren Anfängen bis heute. Dafür hat sie Literatur zum Thema gesichtet und Leitfadeninterviews mit drei Chefredakteur*innen populärwissenschaftlicher Zeitungen geführt. Besonderer Fokus lag dabei auf dem ökonomischen Kontext. Dieser werde laut Canpolat in der Forschung zur Wissenschaftskommunikation oft vernachlässigt. Deshalb wirft er einen Blick auf die Produktionsverhältnisse der jeweiligen Epochen. Das sei wichtig, weil die Geschichte der Zeitungen auch vom Wandel von einer vorkapitalistischen zu einer kapitalistischen Gesellschaft geprägt sei. 

Ergebnisse: In den letzten 160 Jahren sind in der Türkei insgesamt 22 populärwissenschaftliche Zeitschriften erschienen. Die letzten drei Jahrzehnte des Osmanischen Reichs standen im Zeichen der Bemühungen, gegenüber dem Westen aufzuholen. Dazu gehörte auch, dass populärwissenschaftliche Aktivitäten staatlich organisiert wurden. Im Interesse der Entwicklung einer modernen, westlichen Gesellschaft wurden Schulen aufgebaut, die eine säkulare Bildung vermittelten. Das trug zur Entwicklung einer westlich orientierten osmanischen Reformbewegung bei. Die erste türkische populärwissenschaftliche Monatszeitschrift, Mecmua-i Funûn (Magazin der Wissenschaften), wurde von 1862 bis 1867 von der Cemiyet-i İlmiye-i Osmaniye (Osmanische Wissenschaftliche Gesellschaft) herausgegeben, die sich an der Royal Society of London orientierte. Während der langen Herrschaft von Sultan Abdülhamid (1878-1908) wurde die Zeitung eingestellt, in dieser Zeit stand die freie Presse unter Druck. Dennoch gab es populärwissenschaftliche Zeitschriften, die mit seiner Erlaubnis herausgegeben wurden. Das wachsende Interesse an populärwissenschaftlichen Inhalten zu dieser Zeit hatte laut Canpolat auch damit zu tun, dass die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf weniger politische Themen gelenkt werden sollte. 

Diese vorkapitalistische Periode war von kleinen handwerklich arbeitenden Verlagshäusern geprägt. Es wurde mit wenigen Angestellten, kleiner Auflage und ohne Profitinteresse publiziert. Zeitschriften und Zeitungen wurden damals von einer kleinen Gruppe von Intellektuellen herausgegeben. Adressiert wurde damit ein kleines Segment der Gesellschaft, denn Ende des 19. Jahrhunderts lag die Alphabetisierungsrate laut Canpolat höchstens bei 15 Prozent. Nach der Revolution von 1908 wurde ein Säkularisierungs- und Nationalisierungsprozess eingeleitet. Publizistische Aktivitäten konzentrierten sich vor allem auf tagespolitische Inhalte, es gab nur eine populärwissenschaftliche Zeitschrift.

Die kommerziell orientierten Zeitschriften wurden bis auf ein Beispiel inzwischen eingestellt.
Auch in den Jahrzehnten der Republik, die 1923 ausgerufen wurde, dominierten handwerklich geprägte Produktionsprozesse. Die Eigentümer von Verlagen waren in der Regel bürgerliche Intellektuelle. Der Staat versuchte in dieser Zeit, die eigene politische Agenda durch die Presse durchzusetzen. Vor der Einführung des lateinischen Alphabets im Jahr 1928 gab es drei populärwissenschaftliche Zeitschriften, darunter Fen Alemi (Die Welt der Wissenschaft), die staatlich unterstützt wurde. Das spiegelt laut Canpolat die Nähe der damaligen Presse zum Staat wider. 

Bis 1965 stieg die Alphabetisierungsquote auf 48 Prozent. Wie der Autor schreibt, reichte dies jedoch nicht, um populärwissenschaftliche Zeitschriften am Leben zu erhalten. In der jungen Republik entstand eine verwestlichte Bürokratie, die sich vom religiös geprägten Bürgertum entfernte. Die in den 1950er-Jahren beginnende Kommerzialisierung der Medien und die zunehmende Abkehr vom Staat hatte einen tiefgreifenden Einfluss auf die Entwicklung der Populärwissenschaft. In den 1960er-Jahren wurden populärwissenschaftliche Zeitschriften mit geringer Auflage durch solche mit hoher Auflage ersetzt. Diese Periode wurde durch eine rasche Industrialisierung, dem Aufkommen von Massenproduktion, stärkerer Urbanisierung und einem Wachstum der Arbeiterklasse geprägt. Boulevardpresse und Massenmedien erreichten ein immer größeres Publikum. 

Eine wichtige Entwicklung für Wissenschaftsmagazine war die Gründung des türkischen Rates für wissenschaftliche und technologische Forschung (TÜBİTAK) im Jahr 1963, der Wissenschaft und Technologie vorantreiben sollte. Der Rat begann mit der Herausgabe der Zeitschrift Bilim ve Teknik (Wissenschaft und Technik), die seit 1967 monatlich erscheint und keinen Gewinn erwirtschaftet. 

Seit den 1980er-Jahren entwickelten sich populärwissenschaftliche Medien in zwei unterschiedliche Richtungen.
Alle Regierungen, die seit dem Militärputsch 1980 regierten, verfolgten laut des Autors eine Politik des freien Marktes, was die Rahmenbedingungen für Medien beeinflusste. Canpolat identifizierte zwei unterschiedliche Richtungen, in die sich die populärwissenschaftlichen Zeitschriften seitdem entwickelten. Eine sei von Kommerzialisierung und Boulevardisierung geprägt, wie das Magazin Bilim (Wissenschaft) (1982-1985) zeigt, das sich selbst als bunt und boulevardesk beschreibt und auch pseudowissenschaftliche Inhalte enthielt. Die kommerziell orientierten Zeitschriften wurden bis auf ein Beispiel inzwischen eingestellt, schreibt der Autor. Die andere Richtung ist politisch eher links geprägt und steht für die Verbreitung wissenschaftlichen Denkens ohne kommerzielles Interesse. Ein Beispiel dafür ist Doğa ve Bilim (Natur und Wissenschaft) (1980–1983), ein anderes Bilim ve Sanat (Wissenschaft und Kunst) (1981–1989). Diese Art von Magazinen arbeitet mit wenigen Mitarbeiter*innen und kleinem Budget. 

Schlussfolgerungen: Wie die historische Analyse zeigt, wurde in der Zeit der ersten populärwissenschaftlichen Zeitschriften in der Türkei eher ein Top-Down-Ansatz von Wissenschaftskommunikation verfolgt. Der osmanische Staat verfolgt gezielte Bemühungen zur Popularisierung von Wissenschaft. Die Vorstellung, Lai*innen auf diese Weise Wissenschaft zugänglich zu machen und die Gesellschaft aufzuklären, bringt Emre Canpolat mit dem Defizitmodell von Wissenschaftskommunikation in Verbindung, das eine Tendenz zu hierarchischen Ansätzen habe. Die traditionellen, handwerklichen Produktionsverhältnisse mit kleinen Auflagen änderten sich erst in den 1960er-Jahren, als sich zunehmend Massenmedien verbreiteten. Der hierarchische Charakter der Wissenschaftskommunikation blieb aber laut des Autors auch in dieser Zeit bestehen.

Seit den 1980er-Jahren entwickelten sich populärwissenschaftliche Medien in zwei unterschiedliche Richtungen: Die erste ist nicht kommerziell und politisch links orientiert. Dass es nicht mehr unabhängige, populärwissenschaftliche Zeitschriften gibt, liegt laut des Autors vor allem daran, dass sie aufgrund der geringen Werbeeinnahmen nicht als lukrativ genug angesehen werden. Folgt man seiner Analyse, ist das Genre der populärwissenschaftlichen Zeitschriften in der Türkei auf altruistische, nicht kommerziell arbeitende Verleger*innen angewiesen.  

Einschränkungen: Die Studie betrachtet die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen populärwissenschaftliche Zeitschriften in der Türkei im Laufe der Zeit erschienen sind. Die Inhalte dieser Zeitungen werden nur am Rande berührt. Auch sie könnten Aufschluss über die Entwicklung des Wissenschaftsjournalismus in der Türkei geben. Auch ein Vergleich mit anderen Ländern könnte weitere Einblicke in die Bedeutung von ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen geben. 

Canpolat, E. (2023). Different periods, similar challenges, opposing paths: Exploring the social structure of popular science magazines in Turkey. Public Understanding of Science, 0(0). https://doi.org/10.1177/09636625231182528

Mehr Aktuelles aus der Forschung

📚 Seit 2018 testet das Museum für Naturkunde in Berlin in seinem „Experimentierfeld für Partizipation und Offene Wissenschaft“ Formate für Forschungskommunikation und verschiedene partizipative Ansätze. Wie wird der Raum gestaltet und wie werden dort Bedingungen für Partizipation und Ko-Kreation geschaffen? Wiebke Rössig, Bonnie Dietermann, Yori Schultka, Suriya Poieam und Uwe Moldrzyk kennen das Projekt aus unterschiedlichen Perspektiven und geben Einblicke in die Hintergründe und die Ergebnisse der externen Evaluation.

📚 PubCasts sind gekürzte und kommentierte Aufnahmen wissenschaftlicher Arbeiten im Hörbuchstil, die Forschung für ein breiteres Publikum zugänglich machen sollen. Hannah L. Harrison von der Dalhousie University in Kanada und Philip A. Loring von der University of Guelph in Kanada berichten in einem Beitrag von ihren eigenen Erfahrungen mit dem Format und diskutieren dessen Potenzial, durch eine solch persönliche Form der Wissenschaftskommunikation Fehlinformationen vorzubeugen.

📚 Wie beeinflussen bedrohliche Nachrichten über den Klimawandel, wie Menschen über das Phänomen denken und ihre Bereitschaft, Maßnahmen zu ergreifen? Christofer Skurka, Jessica Myrick und Yin Yang von der Penn State University in den USA haben dazu zwei Experimente durchgeführt, bei denen Menschen über mehrere Tage hinweg mit bedrohlichen Nachrichten über den Klimawandel konfrontiert wurden. Es zeigte sich, dass eine solche Berichterstattung Menschen mit der Zeit noch ängstlicher machen kann. Gleichzeitig kann sie aber auch zum Nachdenken über mögliche Lösungswege anregen.

📚 Ob Texte in einfacher oder Fachsprache geschrieben sind, kann sich auf das Vertrauen von Leser*innen auswirken. Mark Jonas, Martin Kerwer, Tom Rosman und Anita Chasiotis vom Leibniz-Institut für Psychologie haben in einer Studie beide Effekte untersucht. Knapp 1500 Lai*innen lasen vier kurze Forschungszusammenfassungen, bei denen die Wissenschaftlichkeit und Einfachheit variiert wurde. Ein wissenschaftlicher Schreibstil führte zu einer höheren wahrgenommenen Vertrauenswürdigkeit von Autor*in und Text. Wie einfach der Text geschrieben war, zeigte hingegen keinen Einfluss auf die Vertrauenswürdigkeit.

📚 Wer über ein höheres formales Bildungsniveau verfügt, hat häufig auch mehr Vertrauen in die Wissenschaft. In Ländern mit einer hohen Korruptionsrate sei es jedoch sinnvoll, Autoritäten zu misstrauen, heißt es in einer Studie eines Forschungsteams um Sinan Alper von der Yasar University in der Türkei und Busra Elif Yelbuz vom Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht. Die Forscher*innen haben diese These anhand von Datensätzen aus 47 Ländern überprüft. Sie stellten fest, dass der Zusammenhang zwischen Bildungsgrad und Wissenschaftsvertrauen in sehr korrupten Ländern schwach oder nicht vorhanden war. Davon ausgehend empfehlen die Forscher*innen, in der Forschung zu Vertrauen den jeweiligen gesellschaftlichen Kontext stärker zu berücksichtigen.

📚 Mediale Berichterstattung ist ein zentraler Aspekt von Katastrophen-Kommunikation. Was aber berichten Journalist*innen über Arbeitsbedingungen, Herausforderungen und Bewältigungsstrategien während ihrer Einsätze? Das haben Liselotte Englund und Kerstin Bergh Johannesson von der Karlstad University zusammen mit Filip K. Arnberg von der Uppsala University am Beispiel von skandinavischen Journalist*innen untersucht, die im Jahr 2012 über das Erdbeben in Haiti berichtet haben. Die Befragten beschrieben einen schwierigen und herausfordernden Einsatz mit teilweise lebensverändernden Erfahrungen. Mit wenigen Ausnahmen berichteten sie von einem geringen Risiko, unter posttraumatischem Stress zu leiden. Wichtig seien eine gute Ausrüstung, mentale Vorbereitung und kollegiale Unterstützung.