Besuchte Ortschaft während der Dialogreise. Foto: Clara Bahlsen

Forschung auf Tour

Zum Abschluss ihres Forschungsprojekts zur „Wende“-Zeit bereiste Historikerin Kerstin Brückweh mit ihrer Forschungsgruppe Ostdeutschland, um mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen ihre Ergebnisse zu besprechen. Wie die Dialogreise ablief und was sie aus der Erfahrung mitnimmt, bespricht sie im Interview.

Frau Brückweh, wie entstand die Idee zur Dialogreise durch Ostdeutschland?

Kerstin Brückweh ist Historikerin und Fellow am Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien der Universität Erfurt und Privatdozentin an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Sie forscht derzeit vor allem zur Geschichte Ostdeutschlands und zur Eigentumsgeschichte. Foto: Clara Bahlsen

Es begann 2016 mit einem ganz klassischen Forschungsprojekt am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF). Im Kern ging es in der Forschungsgruppe um die Frage, wie Ostdeutsche das Ende der DDR und den Systemwechsel – die „Wende“ – erlebt und gestaltet haben und wie sie sich heute daran erinnern. Mit Blick auf die Abschlusspräsentation fanden wir, dass eine wissenschaftliche Konferenz wegen der alltagsgeschichtlichen Fragestellung und in Anbetracht der aktuellen politischen Lage nicht das passende Format sein konnte. Immerhin hatte die „Alternative für Deutschland“ (AfD) im brandenburgischen Wahlkampf 2019 den zentralen Begriff der „Wende“ geschichtspolitisch vereinnahmt: „Vollende die Wende!“ oder „Wende 2.0“ hieß es auf ihren Wahlplakaten. Vor dem Hintergrund des alltagsgeschichtlichen Forschungsthemas einerseits und der Vereinnahmung der DDR-Geschichte für politische Zwecke andererseits entstand die Idee der Dialogreise. Wir wollten vor Ort mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen ins Gespräch kommen. Es ging uns dabei einerseits um das Verbreiten der Forschungsergebnisse und das Prüfen und Diskutieren unserer Interpretationen, andererseits aber auch um das Aufklären über wissenschaftliches Arbeiten und eine Versachlichung und historische Fundierung oder Widerlegung aktueller Debatten.

Wie liefen die Planung und die Veranstaltungen dann ab?

Die Dialogreise war praktisch nur eine Perle in einer ganzen Kette von Maßnahmen der Wissenschaftskommunikation. Wir haben zum Beispiel eine Projektsitzung von einer Comic-Zeichnerin quasi protokollieren lassen und daraus Teile für unsere Dialogreise verwendet. Ganz konkret haben wir zunächst für diese Reise ein Textformat entwickelt, das wir „Schriftgespräch“ nennen. Historikerinnen und Historiker sitzen ja häufig alleine im Archiv oder am Schreibtisch. Wir haben neben unseren regelmäßigen Projekttreffen als Vorbereitung für die Dialogreise unsere Ergebnisse aufgeschrieben und diskutiert. Dann haben wir diese interviewähnlichen Schriftgespräche im Herbst 2019 an Zeitzeuginnen und Zeitzeugen geschickt und um Kommentare gebeten. Mit einigen von ihnen haben wir während der Dialogreise gemeinsam auf dem Podium gesessen.

Graphic Recording der Diskussion. Grafik: 123comics

 

Wir haben an vier aufeinanderfolgenden Tagen mit unserem „Tourbus“ Orte in Ostdeutschland besucht: Am ersten Abend diskutierten wir in Meiningen, einer in Thüringen, nahe zur bayerischen Landesgrenze gelegenen Kreis- und Mittelstadt. Dann reisten wir in das brandenburgische Dorf Garrey, in unmittelbarer Nähe zu Sachsen-Anhalt. Am nächsten Tag führte uns die Reise nach Kleinmachnow, direkt an der Berliner Stadtgrenze. Abgeschlossen haben wir die Tour in Leipzig. Wir hatten nicht nur sehr unterschiedliche Regionen gewählt, auch die Veranstaltungsorte selbst variierten von einer Schulaula über eine Dorfpension und einen Rathaussaal bis zum Museum. Dort haben wir in einem einstündigen Podiumsgespräch die Ergebnisse präsentiert und mit den Zeitzeuginnen und Zeitzeugen besprochen. Moderiert wurde das Gespräch von verschiedenen Journalistinnen und Journalisten sowie Forschenden.

Für den zweiten Veranstaltungsteil gab es dann Angebote, um die Besucherinnen und Besucher untereinander und mit uns ins Gespräch zu bringen. Hierfür haben wir Karten  ausgelegt, auf denen sie ihre eigenen Erinnerungen an die Zeit festhalten konnten und Tische mit Quellenmaterial zu den einzelnen Forschungsthemen vorbereitet.

Erinnerungen der Teilnehmenden an die Zeit um 1989.

Außerdem hatte ich die Dialogreise quasi als Mehrgenerationenprojekt angelegt und versucht, die Hierarchien des Wissenschaftssystems möglichst nicht spürbar werden zu lassen, sondern alle mit eigenen Aufgaben gleichermaßen einzubeziehen. So berichteten die beiden studentischen Hilfskräfte selbstständig über die viertägige Reise auf den Social-Media-Kanälen des ZZF und vor allem durch ein Take-Over der Twitter-, Instagram- und Facebook-Accounts der Plattform Zeitgeschichte Online. Die Auswertung war für mich erstaunlich: Wir haben über 40.000 Impressionen verzeichnet.

Interessierten sich die Besucherinnen und Besucher für andere Aspekte Ihrer Forschung als Ihre Kolleginnen und Kollegen vom Fach? Gab es da unerwartete Reaktionen?

Nein, das war eher nicht der Fall. Aber unsere Zielgruppe, die „breite Öffentlichkeit“, ist ja auch sehr unspezifisch und durchmischt. Da man sich nicht vorab für die Veranstaltungen anmelden musste, wussten wir nicht, wer kommt, oder ob überhaupt jemand kommt. Am Ende besuchten rund 250 Personen die vier Abende, mehr als ich erwartet hatte. An den Orten nahe Berlin waren aber auch beispielsweise eine ganze Reihe von Kolleginnen und Kollegen anwesend, an die sich die Veranstaltung ja eigentlich nicht direkt richtete. Fragen aus dem Fachpublikum sind ja doch andere, sie richten sich zum Beispiel viel genauer auf Methoden und Fragestellungen. Ich empfinde es als schwierigen Spagat, wissenschaftliche Ergebnisse in einer nicht-wissenschaftlichen Sprache einer interessierten Öffentlichkeit, die ja selbst wieder ganz unterschiedliche Bildungs- und Lebensgeschichten mitbringt, zu präsentieren. Letztlich kommt es wohl darauf an, dass sich alle Beteiligten auf das Format einlassen und aus ihrer eigenen Komfortzone hinaustrauen.

„Letztlich kommt es wohl darauf an, dass sich alle Beteiligten auf das Format einlassen und aus ihrer eigenen Komfortzone hinaustrauen.“ Kerstin Brückweh

Was wir als auffällige Reaktion vonseiten der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen wahrgenommen haben, war eine Rollenzuschreibung uns gegenüber, auch das war sehr interessant.

Was meinen Sie damit?

Auf der Tour saßen Kathrin Zöller und Clemens Villinger, also die beiden Doktoranden, mit mir auf dem Podium und auch unsere studentischen Hilfskräfte reisten mit, altersmäßig waren wir also sehr gemischt. Zum Teil kamen da Kommentare wie: „Naja, Sie können dazu sowieso nichts sagen, so war das gar nicht.“ Im Fall der Mittelalterforschung würde keiner fragen, ob wir im Mittelalter gelebt hätten. Doch bei diesem Thema wird einem schnell die Kompetenz abgesprochen, wenn man jünger ist oder nicht aus Ostdeutschland kommt. Aber darum ging es ja auch während der Reise: um das Aufklären über wissenschaftliches Arbeiten, gerade in der Geschichtswissenschaft und zum Thema „Wende“-Zeit. Es ist wichtig, klarzumachen, wie sich unsere Arbeit unterscheidet von einem subjektiven Roman oder Film beziehungsweise was die Vorzüge des einen und des anderen sind. Wir diskutieren als Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen auf der Basis von Quellen und Empirie und diese lassen sich nicht einfach „wegreden“. Für manche Veranstaltungsbesucher und -besucherinnen war es schwer, von ihren eigenen Erinnerungen und Erfahrungen zu abstrahieren und sich auf unsere Interpretationen einzulassen, die wir aus einer Vielzahl von Quellen und aus verschiedensten Perspektive auf die lange Geschichte von 1989 gewonnen haben. Wir wollten zu einer Versachlichung der heute zum Teil sehr emotional geführten Diskussionen über die „Wende“-Zeit und Ostdeutschland beitragen.

Eindrücke wie diese von der Dialogreise und den Erinnerungen an die Zeit um 1989 sammelte auch die mitreisende Künstlerin Clara Bahlsen.

Evaluieren Sie das Projekt?

Wir hatten im Herbst schon überlegt, dass wir uns nicht wie üblich in erster Linie von anderen Forschenden bewerten lassen wollten. Ihre Meinung ging bereits im Vorfeld über unsere Vorträge auf Fachtagungen und die wissenschaftsinternen Diskussionen in das Projekt ein. Vor allem aber hatten wir die Künstlerin Clara Bahlsen und den Journalisten Christian Bangel eingeladen, uns als unabhängige Beobachter auf der Reise zu begleiten. Ihre Eindrücke werden dann im Herbst 2020 mit unseren Ergebnissen als Buch beim Ch. Links Verlag erscheinen. Das Buch wird „Die lange Geschichte der ,Wende‘. Geschichtswissenschaft im Dialog“ heißen und unter anderem auch die Kommentare der Mitlebenden und von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen aus anderen Ländern und Disziplinen enthalten.

Können Sie jetzt schon ein erstes persönliches Urteil über die Reise fällen?

Erst einmal bin ich – und die anderen Mitreisenden wohl auch – etwas müde und zugleich zufrieden: Wir haben unsere Ergebnisse präsentiert, unsere Arbeitsweisen erklärt und stark darauf gesetzt, die unterschiedlichen persönlichen Geschichten zu respektieren. Wenn wir im wissenschaftlichen Kontext unsere Ergebnisse präsentiert haben, dann sind wir manchmal gefragt worden, was unsere Forschungen denn nun Neues im Vergleich zu den bisherigen Geschichten bringen. Das Bedürfnis nach einer Art „Meistererzählung“, die alles erklärt, ist durchaus vorhanden. Wir haben ja aber vor allem auf das Alltägliche im Systemwechsel geblickt, also an sich schon eine widersprüchliche Situation. Deshalb wollten wir ein anderes Motto dagegen setzen: „Differenzierung ist die neue Meistererzählung.“ Es sollte verdeutlichen, dass die Frage nach einer vereinheitlichenden Meistererzählung, die für alle Ostdeutschen gelten sollen, verständlich ist, dass aber Differenzen in ostdeutschen Biografien akzeptiert und auch ausgehalten werden müssen. Das klappt mal mehr und mal weniger, aber ganz allgemein haben wir sehr viel Zustimmung erhalten.

Mit Blick auf unsere Forschungsergebnisse haben wir auf der Reise keine grundsätzlich neuen Interpretationen gewonnen, aber eine Bestätigung unserer Deutungen. Und auch das ist ein wichtiger Punkt.

Besuchte Ortschaft während der Dialogreise. Foto: Clara Bahlsen

Sehr spannend war auch die Reaktion aus den Medien und der Politik. Nach dem positiven Bericht auf Spiegel Online vom ersten Abend in Meiningen, erhielten wir per Twitter einen Dank der brandenburgischen Forschungsministerin und ein Fernsehteam des rbb kam in den brandenburgische Dorfsaal. Das hat die Gesprächsdynamik verändert – darüber werden wir in unserem Buch noch schreiben. Außerdem konnten wir durch die Reise auch neue Kontakte zu gesellschaftlichen und politischen Akteuren gewinnen.

Haben Sie auch Ideen gesammelt für künftige Forschungsprojekte?

Die Forschungsgruppe zur langen Geschichte der „Wende“ war so angelegt, dass ganz unterschiedliche Themen in diesem Untersuchungssetting bearbeitet werden können. Die Auswahl, die wir getroffen haben, mit dem Fokus auf Konsum, Schule, Wohnen und politischer Partizipation, hätte auch anders ausfallen können. Aus Sicht der Besucherinnen und Besucher wäre das Thema Arbeit elementar gewesen. Das werde ich künftig wohl noch weiterverfolgen. Generell sind auf dem Gebiet noch sehr viele Bereiche der Lebenswelt in einer langen historischen Perspektive nicht betrachtet worden. Auch die Sekundäranalyse von quantitativen und qualitativen sozialwissenschaftlichen Studien der 1990er, wie wir sie in unseren Arbeiten durchgeführt haben, bieten noch viel Potential.

Welche Lehren würden Sie für zukünftige Dialogreisen mitnehmen?

Zum einen die Erkenntnis, dass es sich um eine Hybrid-Veranstaltung handelt, die Menschen mit verschiedenen Hintergründen anspricht, sowohl Forschende als auch Bürgerinnen und Bürger. Die Erwartungen aller zu erfüllen, ist schwierig. Daher ist es sinnvoll, sich frühzeitig über die Zielgruppen und ihre Erwartungen Gedanken zu machen und vielleicht doch mit Anmeldungen zu arbeiten. Wiederum hält gerade die Unplanbarkeit die Veranstaltungen lebendig – da wäre ein Austausch mit anderen Projekten, die ähnliches versuchen oder versucht haben, hilfreich.

„Die Erwartungen aller zu erfüllen, ist schwierig. Daher ist es sinnvoll, sich frühzeitig über die Zielgruppen und ihre Erwartungen Gedanken zu machen.“ Kerstin Brückweh

Ein weiterer Punkt sind die Veranstaltungsorte. Wir sind beispielsweise im Dorfsaal oder in der Schulaula viel intensiver ins Gespräch gekommen als im Museum. Ich glaube, die Atmosphäre und die Mischung an Teilnehmenden an diesen spezifischen Orten macht da viel aus.

Was mich außerdem sehr beschäftigt, ist der Umgang mit forschungsethischen Fragen. Mit der Dialogreise verfolgten wir im Prinzip einen Citizen-Science-Ansatz. Dabei kam für mich die Frage auf, ob man sich damit zugleich von geschichtswissenschaftlichen Praktiken entfernt. Schon im Vorfeld haben wir für die Reiseplanung überlegt, ob wir an unsere Untersuchungsorte fahren sollen oder gerade nicht. Wären wir im Elfenbeinturm geblieben, hätten wir unsere Untersuchungsorte vermutlich anonymisiert oder pseudonymisiert. Aber auch dann ist es illusorisch anzunehmen, dass mit Forschungen vor Ort nichts im Ort bewirkt wird. In anderen Disziplinen und in anderen Ländern wird darüber schon viel länger diskutiert. Das ist ein Grund, warum wir mit unserem Projekt schon während der Forschungsphase einen intensiven interdisziplinären Austausch mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus dem Ausland gesucht haben.

Es gibt also noch offene Fragen, die ich gerne in größeren Kontexten weiter diskutieren würde.