Foto: Jan Canty

„Es geht nicht nur darum: Was ist Fakt?“

Wie kann Wissen anschlussfähig gemacht werden, ohne dabei auf Komplexität zu verzichten? Der Sammelband „Recontextualized Knowledge“ blickt aus der Perspektive der Rhetorikforschung auf die Wissenschaftskommunikation. Ein Gespräch mit den Herausgebern Markus Gottschling und Olaf Kramer darüber, warum sich Recherche über Zielgruppen lohnt.

Herr Gottschling, Herr Kramer, Sie haben gerade den Sammelband „Recontextualized Knowledge“ herausgegeben. Was bedeutet Rekontextualisierung von Wissen in der Wissenschaftskommunikation?

Olaf Kramer: Es gibt viele Bemühungen, Menschen Wissenschaft nahezubringen. Oft wird dieser Prozess aber als Reduktionsszenario gedacht, also dass Wissen dabei radikal heruntergebrochen werden muss. Das ist eine sehr einseitige Vorstellung, die sich inzwischen durch die Entwicklung hin zu partizipativen Formaten auflöst. Sie weist aber auch auf ein Problem hin, nämlich, dass Forschende beim Kommunizieren oft das Gefühl haben, Komplexität nicht vermitteln zu können. Aus Sicht der Rhetorikforschung wollen wir diesen Vermittlungsprozess darum eher als Rekontextualisierung beschreiben. Das Wissen entsteht im Wissenschaftssystem, in dem bestimmte Regeln gelten. Wenn ich mich nun entscheide, in ein anderes System einzutreten, muss ich mich dort anderen Regeln stellen und meine Informationen an den neuen Kontext anpassen.

Markus Gottschling ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Allgemeine Rhetorik der Universität Tübingen. An der dort angesiedelten Forschungsstelle Präsentationskompetenz forscht er zur rhetorischen Situation, besonders im Hinblick auf Präsentationen und Wissenschaftskommunikation. Foto: privat

Markus Gottschling: Das ist auch der Grund, warum das Thema rhetorisch so spannend ist. Es geht nicht nur darum, zu bilden oder etwas zu lehren, sondern darum, das Wissen anschlussfähig zu machen. Die Absolutheit von Fakten, die in der Wissenschaft ganz entscheidend ist, ist in der öffentlichen Debatte nur ein Faktor unter mehreren. Es geht nicht nur darum: Was ist Fakt? Sondern auch darum, in welchem Kontext man darüber sprechen möchte.

Wie wendet man Rekontextualisierung dann praktisch an?

 Kramer: Ein zentrales Verfahren, auf das wir im Buch einen großen Fokus legen, ist die Perspektivenübernahme. Man versetzt sich dabei in die Situation einer Zielgruppe und versucht, aus diesem Blickwinkel über ein Thema nachzudenken. Zunächst muss ich mich dafür fragen: Wen möchte ich mit meinem Inhalt erreichen? Welche Interessen haben diese Personen? Und in welchem Kontext erreiche ich sie? Was sind die kommunikativen Bedingungen, die in diesem Kontext herrschen? Was gibt das Medium vor? Dazu gehören außerdem auch gesellschaftliche und politische Aspekte: Was haben Menschen für Konnotationen, also welche Nebenbedeutungen haben etwa bestimmte Begriffe für eine Gruppe? Und was verbinden diese Leute mit bestimmten wissenschaftlichen Themen? Auf Basis dieser Überlegungen kann man dann anfangen, die eigene Kommunikation anzupassen.

Können Sie ein konkretes Beispiel geben?

Olaf Kramer ist Professor für Rhetorik und Wissenschaftskommunikation an der
Eberhard Karls Universität in Tübingen und Mitherausgeber des Magazins Science Notes.
Foto: Katja Brandt

Kramer: Nehmen wir einmal den Forschungsbereich zu Künstlicher Intelligenz. Ein Forschungsteam arbeitet an der Optimierung eines Algorithmus und hat vor allem das Ziel, gute Wissenschaft zu betreiben, einen Fortschritt zu erreichen. Wenn sie dann versuchen, Menschen nahezubringen, dass ihre Forschung eine gute Sache ist, stoßen sie möglicherweise auf Vorurteilsstrukturen. Menschen haben zum Beispiel Angst vor Überwachung oder Roboterwesen, die uns beherrschen. Mit diesen Vorurteilen müssen sie dann umgehen. Vorurteile der einen oder anderen Art gibt es gegenüber vielen Forschungsthemen, etwa, weil sie stark wirtschaftlichen Interessen unterliegen oder ethische Implikationen haben. Das muss man bei der Art und Weise berücksichtigen, wie ein Thema dargestellt wird.

Gottschling: Es gibt auch kein Versprechen, dass das gelingt. Wie Sara D. Hodges in ihrem Beitrag „Where Perspective Taking Can and Cannot Take Us“ zeigt, kann die Perspektivübernahme nämlich auch schiefgehen. Etwa, weil man sich nicht auf das Publikum einstellen kann oder sich trotzdem nicht näherkommt. Konkret kann man das auch am Beispiel von Kevin Esvelt sehen, dessen Kommunikation ich im Beitrag „Creating a Rhetorical Situation“ analysiere.

Was ist da genau passiert?

„Es reicht nicht, den Menschen genügend Informationen mitzugeben, damit sie zu denselben Schlüssen kommen, wie man selbst.“ Markus Gottschling
Gottschling: Kevin Esvelt ist ein Genforscher, der ein Verfahren entwickelt hat, das die CRISPR-Cas-Genschere in Organismen verstetigt. 2017 wollte er testen, ob die veränderten Gene weitervererbt werden. Dafür wollte er zwei Mäusepopulationen aussetzen und hatte sich zwei Inseln vor der US-Ostküste für den Versuch ausgesucht. Sein Ziel war es, dabei sehr vorsichtig, sehr offen und transparent vorzugehen. Darum hatte er nicht nur mit den Behörden gesprochen, sondern auch die Bevölkerung informiert, Flyer verteilt, Vorträge gehalten und Townhall-Meetings organisiert, um zu begründen, warum er die Versuche auf diesen Inseln machen möchte. Er hat sich dabei an die Prinzipien der Rekontextualisierung gehalten und theoretisch alles richtig gemacht. Trotzdem haben die Menschen dort am Ende nicht zugestimmt. Das zeigt: Es reicht nicht, den Menschen genügend Informationen mitzugeben, damit sie zu denselben Schlüssen kommen, wie man selbst.

Gibt es noch weitere Risiken bei der Rekontextualisierung?

„Wann geht es zu weit? Wann beginnen etwa die Regeln des politischen oder medialen Diskurses, die Regeln der Wissenschaft zu bestimmen?“ Olaf Kramer
Kramer: Man muss natürlich fragen: Wann geht es zu weit? Wann beginnen etwa die Regeln des politischen oder medialen Diskurses, die Regeln der Wissenschaft zu bestimmen? Politik und Medien haben beide ein Bedürfnis nach Verdichtung, nach Schlagzeilen, Slogans. Dieses Bedürfnis nach einer klaren Botschaft ist für die Wissenschaft auch immer eine Gefahr. Wissenschaft tut sich keinen Gefallen, sich kommunikationsmäßig zurechtbürsten zu lassen, wenn damit gleichzeitig Qualitätskriterien außer Kraft gesetzt werden. Wenn man sich etwa Corona anschaut, ist es natürlich eine tolle Schlagzeile, wenn es einen Impfstoff gegen das Virus gibt. Das funktioniert als Überschrift in der Zeitung sehr gut. Trotzdem muss die Wissenschaft ihre Qualitätskriterien einhalten und sich an ihre eigenen Regeln halten, um nachher auch einen sicheren und wirksamen Impfstoff zu haben.

„Dieser Transfer von Begriffen ist eine Schnittstelle zwischen Politik und Wissenschaft, die hart umkämpft und dementsprechend rhetorisch interessant ist.“ Markus Gottschling
Gottschling: Eine andere Falle sehe ich auch in der Begriffsübernahme, also dass Begriffe aus der Wissenschaft etwa politisch nutzbar gemacht werden. Wenn das passiert, diktieren vielleicht die Begriffe am Ende die Bedingungen in der Wissenschaft. Sophia Hatzisavvidou hat das im Beitrag „Communicating Sustainability“ für den Nachhaltigkeitsbegriff analysiert. Sie vollzieht nach, wie der Begriff aus der Wissenschaft kommend zu einem politischen Argument gemacht wird und diese beiden Sphären verschmelzen lässt. Außerdem gibt es eine große Diskussion über Aktivismus von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Ob sie das sollen oder nicht und ob es schon politisch ist, wenn Jutta Allmendinger sich über die Frauenquote freut. Aus beiden Richtungen gibt es Plädoyers – für den Aktivismus und dagegen. Dieser Transfer von Begriffen ist eine Schnittstelle zwischen Politik und Wissenschaft, die hart umkämpft und dementsprechend rhetorisch interessant ist.

 In welchen Situationen kann man Ihren Sammelband für die Wissenschaftskommunikation zur Hand nehmen?

„Das Buch lädt vielmehr dazu ein, die Komplexität von Kommunikationssituationen zu überdenken, die vielfachen Interessenlagen richtig zu deuten.“ Olaf Kramer
Kramer: Die Botschaft des Buches ist, dass gute Wissenschaftskommunikation nicht so funktioniert, dass man ein festes Set an Regeln hat. Man kann ein Forschungsthema nicht einfach so übersetzen, dass es eine diffuse Allgemeinheit erreicht. Das Buch lädt vielmehr dazu ein, die Komplexität von Kommunikationssituationen zu überdenken, die vielfachen Interessenlagen richtig zu deuten.

Kramer, O. & Gottschling, M. (Hrsg.). 2020. Recontextualized Knowledge: Rhetoric – Situation – Science Communication. Berlin: De Gruyter.