Foto: Pan Xiaozhen

Eine Reflexionsinstanz des Fortschritts

Fragt man Jenny Oesterle, Historikerin für Mittelalterliche Geschichte und Mitglied der Arab-German Young Academy for Sciences and Humanities, so sollten die Geisteswissenschaften eine tragendere Rolle im gesellschaftlichen Diskurs spielen. Warum und was sich dafür verändern müsste, erklärt sie im Interview.

Frau Oesterle, wenn es um Wissenschaft im gesellschaftlichen Diskurs geht, dann dominieren anscheinend naturwissenschaftliche Themen wie künstliche Intelligenz oder Gentechnik. Woran, glauben Sie, liegt das?

Ich denke, dass man nicht von einer strikten Trennung der Geistes- und Naturwissenschaften ausgehen sollte. Dieser Dualismus aus dem 19. Jahrhundert ist inzwischen überholt. Viele Frage- und Problemstellungen sind auf den Dialog zwischen beiden Disziplinen angewiesen, daher würde ich eher fragen: Warum brauchen die Naturwissenschaften die Geisteswissenschaften und umgekehrt?

Jenny Oesterle studierte Mittelalterliche Geschichte, Islamwissenschaft und Theologie (ev.).  Ab dem 1.4. 2020 ist sie Professorin für die „Geschichte des europäischen Mittelalters und seiner Kulturen“ an der Universität Passau. Foto: privat

Wenn es um die Dominanz naturwissenschaftlicher Themen geht, so ist diese aus meiner Sicht an die Vorstellung geknüpft, dass Naturwissenschaften direkte nützliche Ergebnisse für die Gesellschaft liefern. Wahrgenommen wird nicht unbedingt der lange, höchst komplizierte Forschungsprozess, sondern vor allem das konkrete Ergebnis, beispielsweise in Medizin oder Technik. Den Geisteswissenschaften wird diese direkte gesellschaftliche Umsetzbarkeit nicht zugesprochen. Ich denke, das beginnt schon in den Schulen, wenn Schülerinnen und Schülern vermittelt wird, dass die sogenannten „harten“ Fächer später im Leben bessere berufliche Erfolgsaussichten versprechen als geisteswissenschaftliche Inhalte. Diese Sichtweise auf die Geisteswissenschaften zu verändern, ist aus meiner Sicht unter anderem auch eine Herausforderung für die Wissenschaftskommunikation.

Wie sähe ein „Worst-Case-Szenario“ aus, in dem das nicht gelingt?

Wie unser Kulturverständnis aussehen könnte, wenn es die Geisteswissenschaften nicht gäbe, zeigt ein Blick in diktatorische Regime, in denen es zum Beispiel keine Literaturwissenschaft gibt, sondern „nur“ Linguistik. Oder in denen Geschichte allein frontal unterrichtet wird, ein ideologisiertes Geschichtsbild vermittelt wird, ohne Narrative kritisch zu hinterfragen. Dadurch, dass Geisteswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler die Frage stellen „Könnte es nicht auch anders sein?“, halten sie stets ein Bewusstsein für mögliche Alternativen wach. Eine wichtige Aufgabe der Geisteswissenschaften ist es, kritisch denkende Menschen, zum Beispiel Lehrerinnen und Lehrer, Journalistinnen und Journalisten, auszubilden. Die Unverzichtbarkeit der Geisteswissenschaften wird immer dann deutlich, wenn ‚Nachhaltigkeit‘ in der Kultur angestrebt und gefordert wird.

„Die Unverzichtbarkeit der Geisteswissenschaften wird immer dann deutlich, wenn ‚Nachhaltigkeit‘ in der Kultur angestrebt und gefordert wird.“ Jenny Oesterle

Was meinen Sie damit?

Die Geisteswissenschaften stiften nicht nur zentrale Bezüge zu Kunst, Sprache und Ästhetik, sondern auch zu unserer Erinnerungskultur. Sie tragen zu einem reflektierten Umgang mit der Vergangenheit bei, was aktuell sehr wichtig ist, gerade in Phasen rapider gesellschaftlicher Veränderungen, Beschleunigungen, Um- und Neuorientierungen. Das gilt insbesondere auch für die Reflexion historischer Erinnerungen in einem Land wie Deutschland, das im 21. Jahrhundert zu einem Einwanderungsland wird und werden muss.  Geisteswissenschaften verfügen über methodische Instrumentarien zur Erkenntnis, Verarbeitung und Übersetzung von Differenzen zwischen Kulturen. Sie helfen, verschiedene Perspektiven, Ähnlichkeiten und Unterschiede zu erarbeiten und damit der Gefahr der Gleichmacherei entgegenzutreten.

Hinzu tritt die konkrete Expertise von Sprachen, Kulturen und Religionen. Andere Kulturen verstehen zu lernen, ist ein immens wichtiger Bereich für die Geistes- und Kulturwissenschaften. Vor einigen Monaten haben wir auf der internationalen AGYA-Konferenz „The Place of Humanities in Research, Education and Society. An Arab-German Dialogue“ auch mit arabischen Kolleginnen und Kollegen darüber debattiert. An einigen Universitäten in Deutschland gibt es die sogenannten „kleinen Fächer“, darunter die Islamwissenschaft, Koreanistik, Sinologie und andere, die leider stets von Schließungen bedroht sind. Diese Fächer vermitteln jedoch Kenntnisse über bestimmte Weltregionen, einschließlich hochkomplexer Sprachen. So eine detaillierte Expertise ist in einer globalisierten Welt insgesamt sehr wichtig, konkret aber auch für ein friedliches Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher religiöser und kultureller Hintergründe im Deutschland des 21. Jahrhunderts.

Vom 8.-11. November 2019 organisierte Oesterle gemeinsam mit den AGYA Kolleginnen Nuha al-Shaar (Sharjah/United Arab Emirates; links), Barbara Winckler (Münster; 2. v. rechts) und Beate LaSala (Berlin; rechts) eine internationale Konferenz zum Thema „The Place of Humanities in Research, Education and Society. An Arab-German Dialogue“, im Rahmen der Arab German Young Academy of Sciences and Humanities. Foto: Judith Affolter/AGYA

Gibt es bestimmte Zielgruppen, die Sie vor allem für die Relevanz der Geisteswissenschaften sensibilisieren möchten?

Eine Priorisierung ist nicht ganz leicht. Aber natürlich geht es um Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger an Hochschulen und in Ministerien sowie eine erhöhte Gewichtung der Lehre an Hochschulen. Daneben ist vor allem die Schule als zentrales Bindungsglied zwischen Wissenschaft und Gesellschaft zu nennen. Schülerinnen und Schülern sollte vermittelt werden, dass geisteswissenschaftliche Studien den Erwerb von Fähigkeiten ermöglichen, die gesellschaftliche Langzeitrelevanz haben und durchaus auch berufliche Perspektiven eröffnen können. Gesteigerte Sensibilität ist zudem von den Medien zu wünschen: Sie können von geisteswissenschaftlichen Debatten berichten und einem Publikum außerhalb der Wissenschaftswelt zugänglich machen.

Können Sie Beispiele für Formate nennen, mit denen aus Ihrer Sicht die Vermittlung von Geisteswissenschaften sehr gut gelingt?

Einige sogar! Was ich für sehr wichtig halte, sind Schülerwettbewerbe. Ich selber habe 1997 am Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten teilgenommen, das hat mich letztlich zum Geschichtsstudium gebracht. Hier werden übliche Unterrichtsroutinen aufgebrochen, man geht ins Archiv und nähert sich Fragestellungen der Geschichte in einer ganz anderen Weise. So wird nicht nur eine Vernetzung von Schule und Wissenschaft, sondern auch von Gesellschaft und Wissenschaft angebahnt. Natürlich sind Ausstellungen und Museen generell zu nennen mit Initiativen wie zum Beispiel den langen Museumsnächten. Vergleichbares gilt für sogenannte Wissenschaftstage, an denen Forschende in öffentlichen Vorträgen und Werkstätten für ein breiteres Publikum Ergebnisse und Arbeitsweisen ihrer Disziplin vorstellen beziehungsweise aktuelle eigene Forschungsfragen einer Stadtöffentlichkeit präsentieren.

"Ich glaube, wir können zeigen, dass neben Fortschritt und Futurisierung auch Tradition und die Verbindung der Vergangenheit mit dem, was kommt, unverzichtbar ist." Jenny Oesterle

Sie haben bereits die AGYA-Konferenz angesprochen. Welche Ziele wurden bei diesem Treffen verfolgt und wie geht es nun weiter?

Während der Konferenz hat uns die Position der Geisteswissenschaften in Deutschland interessiert – mit Blick auf Forschung, Lehre und Kommunikation zur Gesellschaft –, aber insbesondere auch in der arabischen Welt. Von Marokko bis in den Irak arbeiten Geisteswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler unter unterschiedlichsten Bedingungen. Ihre Arbeit wird in Deutschland viel zu wenig wahrgenommen. Zum Teil, aber nicht immer, sind die Geisteswissenschaften mit Problemen konfrontiert. Das gilt in Hinblick auf Forschungsressourcen, aber auch auf gesellschaftliche Anerkennung. Arabische Schülerinnen und Schüler mit guten Noten würden sich wohl selten für Geschichte oder Literaturwissenschaft, sondern eher für Medizin oder Ingenieurwissenschaften entscheiden. Vor allem ging es uns aber darum, die Stimmen unserer arabischen Kolleginnen und Kollegen hörbar zu machen, die unter erschwerten politischen und gesellschaftlichen Bedingungen arbeiten. Nun fassen wir die gesammelten Ergebnisse zu Themen wie dem Wissenstransfer in die Gesellschaft, arabisch-deutsche Kooperationen und Förderstrategien zusammen. Diese Überlegungen sowie Interviews mit wichtigen Vertreterinnen und Vertretern werden anschließend in ein Policy-Paper fließen. Vor allem aber für die Zukunft bot die Konferenz eine Plattform für deutsch-arabische Kollaborationen zwischen einzelnen Forschenden, nicht zuletzt auch zwischen Geistes- und Naturwissenschaften.

Was müsste aus Ihrer Sicht strukturell passieren, damit wir den Geisteswissenschaften wieder mehr Platz einräumen in der Debatte?

Fortschritt scheint das Zentralwort für die Ausrichtung aller Wissenschaften zu sein. Natürlich ist Innovation wichtig, aber ich glaube, wir Geisteswissenschaftlerinnen und Geisteswissenschaftler können zeigen, dass neben Fortschritt und Futurisierung auch Tradition und die Verbindung der Vergangenheit mit dem, was kommt, unverzichtbar ist. Wir könnten sozusagen im Zuge der vielen Innovationen und Neuerungen eine Reflexionsinstanz der Fortschrittsgetriebenheit darstellen. Das Bewusstsein in allen Wissenschaften zu verankern, dass Fortschritt Chance und Risiko in einem ist, wäre ein Schritt, zu dem wir beitragen könnten.


Zu AGYA: Die Arab-German Young Academy of Sciences and Humanities ist an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften sowie an der Akademie für Forschung und Technologie in Ägypten angesiedelt. Sie ist die erste bilaterale junge Wissenschaftsakademie weltweit und wird vom BMBF mitgefördert. Ziel ist es, junge Forschende aus Deutschland und arabischen Ländern zu vernetzen und gemeinsame, interdisziplinäre Forschungsprojekte zu ermöglichen.