Foto: Ryoji Iwata, CC0

Eine offensichtlich spinnerte Idee (OSI)

Die Zukunft der Wissenschaftskommunikation im Aktionsfeld Social Media wird stark abhängig sein von technischen Entwicklungen, Mensch-Maschine-Schnittstellen, Trends wie Apps und Gadgets, Geschäftsmodellen und politischen Vorgaben zu Netzneutralität und Co. Aber die Wissenschaft könnte sich auch für eine freiere Alternative einsetzen. Eine Open Social Infrastructure (OSI).

Sie hassen E-Mails? Ich auch! Aber gleichzeitig mag ich E-Mail. Nicht eine spezielle, sondern E-Mail als Dienst. Und das hat einerseits mit Technik zu tun, andererseits aber auch mit Demokratie und Freiheit. Nicht dass ich die Technologie schätzen würde, sich einander bei einer Textabstimmung mit fünf Leuten gegenseitig versionsüberholende Mailanhänge der Form „PresseInfo_20180315_final_final2_mueller_schmidt_freigegeben.docx“ hin- und herzuschicken. Ich meine eher, wie die Infrastruktur aufgebaut ist, die uns den Austausch über E-Mail ermöglicht. Dazu braucht es nämlich kein Facebook, kein WeChat, kein Youtube. Okay, mittlerweile haben viele Menschen ihre E-Mails bei Google liegen. Aber mein Punkt ist: Das müsste eigentlich nicht sein.

Das System E-Mail ermöglicht es jedem Menschen, sich zu Hause in den Flur (oder gegen Bezahlung bei einem Rechenzentrum) einen E-Mail-Server hinzustellen und damit ihr/sein eigener E-Mail-Provider zu sein. Klar: Dafür braucht es etwas Enthusiasmus, Technikkompetenz und Leidensfähigkeit. Aber im Prinzip ist es möglich. Jede Uni, jede Firma aber eben auch jede Bürgerin und jeder Bürger kann – einen Internetanschluss vorausgesetzt – selbst an der E-Mail-Infrastruktur teilnehmen. Nicht nur als Nutzerin oder Nutzer, sondern eben auch als E-Mail-Server-Betreibender.

Warum ich hier auf so einem IT-Aspekt einer 1980er-Jahre-Technologie herumreite? Weil wir in Zeiten von diskursbeeinflussenden Algorithmen, die nur von privatwirtschaftlich betriebenen Plattformen und deren Geschäftsmodellen bestimmt werden, von einer solch dezentral-verteilten, offenen Infrastruktur etwas lernen können. Gerade bei den Diskussionen um Echokammern und alternative Fakten stelle ich mir immer die Frage: Müssen Soziale Netzwerke, wie wir sie heute kennen, wirklich von privatwirtschaftlichen Firmen betrieben werden? Wieso ist das eigentlich so? Und wäre es nicht auch denkbar, diese Dienstleistung – eine Plattform, die den digitalen Austausch von Menschen ermöglicht – anders zu organisieren. Zum Beispiel als dezentral-verteilte Infrastruktur, bei der jeder Mensch eine Server-Instanz betreiben kann – analog zum E-Mail-Server, den man sich als kleines Plastikgerät neben den Router in den Wohnungsflur stellt.

OSI – Digitale Infrastruktur so ernst nehmen wie Straßen

Geben wir dem Kind mal einen Namen: OSI – Open Social Infrastructure. Eine solche OSI wäre entkoppelt von den Geschäftsmodellen und damit den Interessen der Firmen wie Facebook, Google, Amazon, Tencent/WeChat, Alibaba und Weiteren. Aus meiner Sicht hätte eine solche Infrastruktur Bedeutung für unsere ganze Gesellschaft. Der digitale Diskursraum ist mittlerweile zu einem zentralen Teil unseres demokratischen Austausches geworden. Wir Bürgerinnen und Bürger sollten uns wegen ihrer Bedeutung dafür einsetzen, dass die Politik sich um eine solche digitale Infrastruktur genauso kümmert, wie um die Verkehrswege-Infrastruktur.1

Was es dafür aber bräuchte, wäre eine Art digitale Straßenverkehrsordnung. Ich meine damit ein Protokoll, das die Spielregeln festlegt, wie man OSI-Server betreibt, wie diese miteinander kommunizieren und wie Endnutzerinnen und -nutzer mit den OSI-Servern interagieren. Genau ein solches Protokoll regelt zum Beispiel auch die E-Mail-Infrastruktur: Welche Arten von Inhalten gibt es? Wie ist ein Inhalt aufgebaut? Wie wird er weiterverteilt? Ist er privat oder öffentlich? Wer ist überhaupt berechtigt, sich auf einem OSI-Server einzuloggen? Wie werden Identitäten geregelt? Ein solches Protokoll aufzusetzen, kann aus meiner Sicht nur in einem demokratisch legitimierten Prozess stattfinden, den der Staat organisieren sollte. Wohlgemerkt: Der Staat soll weder das OSI-System betreiben, noch die Regeln dafür festlegen, sondern lediglich den Prozess organisieren, um zu einem OSI-Protokoll zu kommen.

Ein solches OSI-Protokoll müsste ständig weiterentwickelt werden. Wir sehen das bei aktuellen Social-Media-Trends: SnapChat hat beispielsweise in den vergangenen Jahren immer wieder Innovationen in den App-Markt gebracht, die Facebook daraufhin schamlos in seiner Instagram-App nachgebaut und kopiert hat, um die Nutzerinnen und Nutzer bei sich zu halten. Solche neue Features müssen also stets implementiert werden, Apps für Nutzerinnen und Nutzer müssen geschrieben und an sich stets weiterentwickelnde Betriebssystemversionen angepasst werden. Das alles muss natürlich open source sein. Eine solche Software-Entwicklung kostet aber ebenso Geld, wie der Betrieb und die Wartung der dezentral-verteilten OSI-Server. Mir schwebt hierfür ein abgabenfinanziertes Modell analog zum Rundfunkbeitrag pro Haushalt vor. Waaas? Noch mehr Geld bezahlen für Dienste, die man selbst vielleicht gar nicht nutzt? Ja! Nur eine solche OSI-Haushaltsabgabe durch die Bürgerinnen und Bürger kann die notwendige Unabhängigkeit garantieren. Und für unsere Gesellschaft halte ich eine solche Infrastruktur für vergleichbar relevant wie den öffentlich-rechtlichen Rundfunk.2

Wie sähe so eine Open Social Infrastructure konkret aus?

Stellen wir uns vor, es gäbe bereits eine demokratisch legitimierte Digital-Straßenverkehrsordnung – das OSI-Protokoll. Dann kann sich jeder Mensch einen OSI-Server zu Hause ins Flurregal stellen und mit Strom sowie Internet versorgen. Das muss nicht jeder machen, sondern nur manche. Nennen wir eine dieser Betreiberinnen einmal Beate. Sie erhält für den Betrieb des OSI-Servers eine finanzielle Entschädigung aus dem großen Topf der OSI-Haushaltsabgaben. Beate stellt bei sich in Hamburg der Allgemeinheit gewissermaßen eine digitale Kreuzung zur Verfügung. Viele weitere tun dies auch, zum Beispiel Charlotte in München. Die OSI-Server von Beate, Charlotte und vielen weiteren Personen verbinden sich in einem Peer-to-peer-Netzwerk, sie tauschen also untereinander Informationen aus. 3

Beates Freundin Anne hat sich gerade ein neues Smartphone gekauft. Sie installiert sich eine kostenlose OSI-App (es muss nicht nur eine geben). Zum Einrichten eines neuen OSI-Accounts muss sie sich bei einem OSI-Server anmelden. Sie benutzt dafür Beates OSI-Server. Jetzt kann sie mit allen anderen OSI-Nutzenden interagieren: chatten, Texte/Bilder/Videos teilen, kommentieren, liken etc. Zum Beispiel mit ihrem Bekannten Dietmar. Der hat sich mit seinem OSI-Account über Charlottes Server ins OSI-Netzwerk eingeloggt. Die Interaktion zwischen Anne und Dietmar funktioniert insofern über die OSI-Server von Beate und Charlotte hinweg. Die Spielregeln hierfür legt das OSI-Protokoll fest. Es brauchen lediglich alle Beteiligten einen Internet-Zugang hierfür. Dieses Modell funktioniert genau wie das E-Mail-System, nur dass wir es hier mit Beate und Charlotte bzw. den kleinen Plastikkästchen neben ihren WLAN-Routern zu tun haben, statt mit Mailservern von Unis, Arbeitgebern oder Google.

Bedenkträger are gonna …

Und so kann eben auch Social Media funktionieren: Ohne ein Facebook dazwischen, das die Algorithmen diktiert und unsere Nutzungsprofile vermarktet. Ohne WhatsApp (also auch Facebook) dazwischen, dem wir glauben müssen, dass die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung der Chats schon funktionieren wird. Ohne ein Youtube, das einzelne Kanäle dichtmachen kann und das größte Videoarchiv der Welt (in meinen Augen ein Kulturgut der Menschheit) mit einem Schlag offline nehmen kann. Nutzerinnen und Nutzer wie Anne und Dietmar könnten nun in den Settings ihrer Apps selbst entscheiden, ob sie die Einträge der anderen streng chronologisch sortiert oder doch gewichtet nach Interaktionen sehen wollen – wir könnten die Algorithmen also selbst bestimmen. Das Ganze natürlich werbefrei und ohne dass der Nutzer hier das Produkt ist, das an Werbetreibende vermarktet wird.

Kommen wir zu den Abers und den offenen Fragen. Derer gibt es viele: Das ist doch so eine große Aufgabe, dazu bräuchte es doch das Commitment einer Bundesregierung. Ja! Das kann doch nicht nur ein nationales Projekt sein. Eine solche Infrastruktur müsste doch europaweit, ach was, weltweit laufen. Ja! Da müsste man aber die UN, die ICANN, die IETF und Weitere ins Boot holen. Ja! Ein solches System kann aber nur funktionieren, wenn die Netzneutralität gewährleistet ist. Ja! Angesichts der fortdauernden Probleme, Rechtsgebiete wie das Urheberrecht sinnvoll ins digitale Zeitalter zu übertragen, erscheint die Umsetzbarkeit der OSI-Idee unrealistisch. Vielleicht. Wenn wir nicht mal eine Kulturflatrate hinbekommen, ist so was erst recht zum Scheitern verurteilt. Vielleicht. Ist das nicht Sozialismus? So, what? Andere Bereiche der Infrastruktur wie das Gesundheitswesen werden auch nicht dem reinen Markt überlassen. Wie soll denn das OSI-Protokoll genau ausgehandelt werden? Gute Frage. Wie kriegen wir denn dann ganzen Menschen von Facebook rüber ins OSI-Netzwerk? Noch bessere Frage.

Was hat das mit Wissenschaftskommunikation zu tun?

Ja, ich weiß. Es ist eine offensichtlich spinnerte Idee (OSI). Aber immer wenn ich über die aktuellen Debatten nachdenke, die wir in Bezug auf die negativen Auswirkungen von Echokammern und die Verbreitung falscher Behauptungen führen, komme ich erstens immer wieder zu diesem Knackpunkt: Solange wir die Hoheit über die digitalen Interaktionen Firmen und ihren Geschäftsmodellen überlassen, können wir diese negativen Auswirkungen nicht in den Griff bekommen. Es ist Zeit für eine demokratisch legitimierte und als eine Art öffentliche Daseinsvorsorge verstandene Infrastruktur für Social-Media-Kommunikation. Und zweitens erhoffe ich mir durch das Hier-zur-Diskussion-Stellen eine Verbesserung der hier dargestellten Skizze hoffentlich zahlreiche Kritik.

Okay, aber wo kommt da jetzt die Wissenschaft ins Spiel? In der Tat würde man eine solche OSI nicht nur für die Wissenschaftskommunikation bauen und betreiben. Dort sollen sich die Menschen über alles austauschen können, was sie bewegt: vom Wetter über Frauenfußball bis hin zu den Oscars. Die Wissenschaft als ein gesellschaftliches Subsystem könnte eine solche OSI-Initiative mit vorantreiben – auch weil sie für ihre Kommunikation einen Mehrwert darin sehen könnte. Aber natürlich gibt es viele weitere Gruppen, die hier aktiv werden müssten: Medien, die Kunst, Kirchen, Gewerkschaften, Bürgerinitiativen, Non-Profit- und Nicht-Regierungsorganisationen. Nicht zuletzt könnte die Wissenschaft aber auch eigene Instanzen für das OSI-Netzwerk zur Verfügung stellen – natürlich nicht nur für Mitarbeitende wie bisher bei den E-Mail-Servern, sondern für alle Menschen.

Dieser Text steht unter der Lizenz CC-BY-4.0. Und für die Suchmaschinenoptimierung wollte ich hier am Schluss noch die Begriffe Blockchain, bedingungsloses Grundeinkommen und disruptiv unterbringen.

Gastbeiträge spiegeln nicht zwangsläufig die Meinung unserer Redaktion wider.


Reaktionen

Im Debatten-Podcast von Spiegel Online diskutiert Sascha Lobo die OSI-Idee und ihre Umsetzbarkeit:

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Und auch die Frankfurter Allgemeine Zeitung diskutiert in einem Artikel „Facebooks Schwachstellen“ gemeinsam mit Henning Krause.