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„Der Friedhof der gescheiterten Innovationen ist voll“

Während manche Technologien die Welt verändern, geraten andere in Vergessenheit. Der Technikhistoriker Reinhold Bauer interessiert sich vor allem für das, was nicht funktioniert hat. Er erklärt, warum wir über das Scheitern sprechen sollten.

Herr Bauer, wir wollten auf Wissenschaftskommunikation.de über „Kommunikationsfails“ berichten – das Interesse war groß, aber niemand wollte seine eigenen Erfahrungen öffentlich machen. Warum fällt uns das Reden übers Scheitern so schwer?

Meine These ist, dass Scheitern nach wie vor stark tabuisiert wird. Zwar ist das Thema seit mindestens zehn Jahren sehr präsent – man denke nur an die Fuck-up-Nights.  Wenn es aber konkret wird, zeigt sich genau das, was Sie gerade beschrieben haben. Eigentlich will niemand übers Scheitern sprechen. Wenn wir darüber berichten, dann meist nur, wenn sich das in ein Erfolgsnarrativ einbetten lässt. 

Reinhold Bauer ist Technikhistoriker. Seit 2011 ist er Professor für Wirkungsgeschichte der Technik am Historischen Institut der Universität Stuttgart und seit 2019 Vorsitzender des Direktoriums des Internationalen Zentrums für Kultur- und Technikforschung der Universität Stuttgart. Bild: Reinhold Bauer

Das funktioniert natürlich nur, wenn am Ende der große Erfolg steht. Dann kann ich erzählen, dass ich vorher dreimal gescheitert bin. Wenn die positive Wendung aber ausbleibt, führt Misserfolg eher zum Verstummen. Das ist ein kulturell-gesellschaftliches Phänomen. Wir sind auf Erfolg programmiert. Wir haben Angst, uns zu entblößen oder angreifbar zu machen. Das ist bedauerlich, denn so werden Chancen vergeben, produktiver mit dem Thema umzugehen. 

Was für ein Feedback bekommen Sie, wenn Sie öffentlich über Ihre Forschung berichten?

Was regelmäßig nach meinen Vorträgen passiert, ist, dass sich Leute nachträglich bei mir melden. Sie erzählen mir dann Geschichten vom Scheitern, aber eben nicht öffentlich. Nicht im Vortrag, nicht in einem größeren Forum. Sie sagen dann zum Beispiel: „Ich könnte Ihnen da Geschichten erzählen…“ oder „Jetzt bin ich ja nicht mehr aktiv, nun kann ich Ihnen etwas berichten.“ Das passiert in einem geschützten Raum, also in einer Umgebung, in der es möglich ist, über Dinge zu sprechen, über die man öffentlich lieber schweigt.

Warum ist es wichtig, sich mit Niederlagen zu beschäftigen?

Als Historiker, speziell als Technikhistoriker, möchte ich Geschichte anders erzählen. Betrachtet man nur erfolgreiche Entwicklungen, entsteht das Bild eines linearen Fortschritts, als ob alles von Erfolg zu Erfolg führen würde und unsere heutige Welt die einzig mögliche wäre. Das ist jedoch eine grobe Verzerrung.

Deshalb ist es historisch sinnvoll, auch das Scheitern in den Blick zu nehmen. So erkennt man, dass historische Prozesse voller Sackgassen, Nebenwege und Fehlversuche sind. Es zeigt sich, dass sich nicht unbedingt die „beste” Technik durchgesetzt hat, sondern dass die Entwicklung viel komplexer war. Um ein realistischeres Verständnis der Geschichte zu bekommen, müssen Erfolg und Scheitern gleichwertig untersucht werden.

Politiker*innen bemängeln immer wieder, dass Deutschland nicht innovativ genug ist. Stimmt dieses Bild überhaupt, wenn man die historische Entwicklung von Innovationen berücksichtigt?

Innovation ist omnipräsent im öffentlichen Diskurs, und die Forderung danach taucht bei fast jeder ökonomischen, kulturellen, gesellschaftlichen oder ökologischen Krise auf. Dabei ist oft gar nicht klar, was genau damit gemeint ist. 

Meist wird nur impliziert, dass es sich um eine Verbesserung handelt, eine positive Veränderung. Das ist dieses Denken in “Technological Fixes”: Ein Problem taucht auf, wir antworten mit einer technischen Innovation und können dann im Grunde weitermachen wie bisher.

Dabei wird jedoch übersehen, dass Innovationen nicht für alle Beteiligten positive Effekte mit sich bringen. Sie erzeugen jedes Mal Gewinner*innen und Verlierer*innen und verursachen Kosten, die gezahlt werden müssen, um sie umzusetzen. Es sollte anerkannt werden, dass erfolgreiche Innovationen nicht automatisch für alle von Vorteil sind und die Vorstellung, alle gesellschaftlichen Probleme darüber lösen zu können, zu einfach ist. 

Elektromobilität ist ein gutes Beispiel: Zwar reduziert sie die CO2-Emissionen im Straßenverkehr, löst aber viele andere Probleme unseres Verkehrssystems nicht. Stattdessen wird der technische Wandel zum zentralen Punkt erklärt, wodurch wir oft davon abgehalten werden, grundsätzlicher über die Zukunft des Verkehrs nachzudenken.

Sie nutzen den Begriff des “innovatorischen Scheiterns”. Was versteht man darunter?

Bei Innovation geht es darum, neue Problemlösungsansätze in die Praxis zu bringen, in konkrete Anwendungen oder wirtschaftliche Nutzung. Ich beschäftige mich vor allem mit technischen Innovationen in Unternehmen. 

Meine Definition von Scheitern ist relativ simpel und hoffentlich einigermaßen konsensfähig: Ich betrachte Innovationen als erfolgreich, wenn die Implementierung dieser neuen Lösung mindestens die Kosten wieder einspielt, die für die Umsetzung aufgewendet wurden. Wenn das nicht gelingt, sehe ich das als gescheiterte Innovation.

Diese Definition funktioniert nur unter bestimmten Bedingungen, also in einer kapitalistischen Konkurrenzwirtschaft. Es ist also eine sehr eingeschränkte Definition. Aber selbst mit dieser engen Sichtweise eröffnet sich ein riesiges Gebiet – der Friedhof der gescheiterten Innovationen ist voll.

Kann ein fehlgeschlagenes Projekt trotzdem wertvoll sein?

Wenn man über technische Innovation spricht, muss man berücksichtigen, dass Innovationsprozesse stets Handeln unter Bedingungen unvollständiger Informationen bedeutet. Es ist nie genau bekannt, welche Rahmenbedingungen relevant sind oder wie etwas genau ablaufen muss, um erfolgreich zu sein. Die Wahrscheinlichkeit, dass Entscheidungen sich als falsch herausstellen, ist deshalb relativ hoch. Scheitern ist also der Regelfall, Erfolg die Ausnahme.

Erfolg verstellt oft den Blick auf die schwierigen Entstehungsbedingungen neuer Technologien, da er selbsterklärend wirkt. Misserfolg macht diese Bedingungen dagegen sichtbar. Durch das Scheitern können die schwierigen Verhältnisse, unter denen Innovationsprozesse ablaufen, die Fallstricke und die entstehenden Probleme genauer verstanden werden. Ein gescheitertes Projekt eröffnet also die Chance, diese Entstehungsbedingungen besser zu analysieren und daraus zu lernen.

Würde es der Wissenschaft gut tun, das Misslingen von Projekten und Prozessen ein bisschen transparenter zu machen?

Absolut. Scheitern in der Wissenschaft zu thematisieren, ist genauso wichtig wie bei technologischer Innovation. Das System belohnt es, Erfolge zu präsentieren, und Misserfolge werden oft ausgeblendet oder gelten als nicht verwertbar. Genau wie bei Innovationen wäre es sehr hilfreich, hier einen anderen Blick zu entwickeln. Die Idee, Erfolg und Misserfolg als gleichwertig zu betrachten, zielt darauf ab, eine realistischere Wahrnehmung dessen zu entwickeln, was an Neuem entsteht oder was unsere heutige Welt hervorgebracht hat. 

Brauchen wir eine neue Kultur des Scheiterns? 

Ich würde sagen: Ja. Das sage ich auch schon seit einiger Zeit. Ob es diese Kultur jemals wirklich geben wird, weiß ich allerdings nicht. Wir brauchen eine größere Bereitschaft, über Misserfolge zu sprechen, und sollten uns die Chance eröffnen, mit Scheitern produktiver umzugehen.

Das ist der Appell aus meiner Auseinandersetzung mit Misserfolg: Wir sollten besser scheitern. In Innovationsprozessen beispielsweise gelingt es oft nicht, misslungene Projekte frühzeitig zu beenden. Stattdessen entwickeln die Prozesse eine Eigendynamik und scheitern am Ende dramatisch und teuer. Das liegt daran, dass im Entwicklungsprozess selbst unzureichend über mögliche Probleme gesprochen wird, weil eine Kultur des Scheiterns schlichtweg fehlt.

Was wäre ihr Tipp für Menschen, die heute an Innovationen in Technik und Wissenschaft arbeiten: Worauf sollten sie besonders achten?

Auf ihr Umfeld. Vor einiger Zeit habe ich eine Topologie des Scheiterns erarbeitet. Ein Problem, das in Innovationsprozessen sehr häufig auftritt, nenne ich das Abschottungsproblem. Das bedeutet, dass sich Entwickler*innen von der Außenwelt abschotten und irgendwann nicht mehr ausreichend darüber nachdenken, ob das, an dem sie arbeiten, noch mit der Realität, den Bedürfnissen der Nutzer*innen und der Entwicklung der Welt harmoniert.

Wenn dieser Kontakt zur Außenwelt verloren geht, entstehen angesichts der technischen Begeisterung Lösungen, die am Ende überhaupt nicht mehr passen. Das Scheitern ist dann vorprogrammiert. Ein Beispiel ist das Flugtaxi Volocopter, das trotz großer Fördermittel und Euphorie kaum Bezug zu den realen Verkehrs- und Energieproblemen hat.