Das größte Problem der Wissenschaftskommunikation? Epistemische Arroganz!

Das eigene Wissen überschätzen – das zählt für unseren Gastautor Martin Krohs zu den größten Problemen der Wissenschaftskommunikation. Aber was ist „Wissen“? Und wie unterscheidet es sich von „Erkenntnis“? Eine philosophische Betrachtung. 

Das größte und hartnäckigste Problem, dem sich die Wissenschaftskommunikation zu stellen hat, ist nicht Desinformation, Wissensmangel oder Vertrauenserosion, sondern epistemische Arroganz: die Überzeugung, mehr zu wissen, als man tatsächlich weiß und als zu wissen überhaupt möglich ist.

Diese These – eine philosophische, keine wissenschaftliche – will ich hier in aller Kürze plausibel machen und einige ihrer Konsequenzen skizzieren. 

Systemische Überheblichkeit

„Epistemisch“ bedeutet: die Erkenntnis (gr. epist) betreffend; „Arroganz“ kommt von lat. arrogare, Fremdes für sich beanspruchen, sich etwas anmaßen. Epistemische Arroganz ist also eine Erkenntnis-Anmaßung oder Erkenntnis-Überheblichkeit. Hauptursache für epistemische Arroganz ist in der hier vorgestellten Konzeption, dass wir unterschiedliche Arten wissenschaftlicher Erkenntnis, wie etwa zwischen Geistes- und Naturwissenschaften, sprachlich und kognitiv nicht differenzieren können.

Epistemische Arroganz führt zu folgenschweren Störungen an der Schnittstelle von Politik, Gesellschaft und Wissenschaften. Sie erhöht das Risiko politischer Fehlentscheidungen, weil man aufgrund übertriebener „Wissens-Gewissheit“ Unwägbarkeiten unterschätzt und mögliche Alternativen ignoriert. Sie führt zu hyperpolarisierten, toxischen Debatten, weil gegnerische Argumente delegitimiert werden, auch wenn diese gut begründet wären. Und sie generiert Fehlkommunikation aus der Wissenschaft heraus, weil Botschaften, die unterschiedslos alle Arten von Erkenntnis als „Wissen“ darstellen, den prozessualen, dialektischen und oft approximativen Charakter von Wissenschaft verschleiern und das Publikum durch konfligierende Wissens-Aussagen in Verwirrung stürzen.

Will man eine zuverlässige Funktion der Transfer-Schnittstelle erreichen, so muss man epistemische Arroganz abbauen. Wie kann das erreicht werden, und was kann die Wissenschaftskommunikation dazu beitragen? Dazu muss man sich zunächst fragen, woher epistemische Arroganz überhaupt stammt. 

Veraltete Erkenntniskultur

In meiner Konzeption ist epistemische Arroganz nichts Individuelles, kein Charakterdefizit einer ihr Wissen überschätzenden Einzelperson. Sie ist angelegt in unserer derzeitigen Erkenntniskultur – dem Gesamt aller Praktiken, Begrifflichkeiten, Logiken und Heuristiken („Erkenntnis-Daumenregeln“), mit denen wir das Nachdenken und Sprechen über Erkenntnis organisieren, ähnlich wie in der Erinnerungskultur kollektive Erinnerungen organisiert werden. 

Diese Erkenntniskultur ist seit der Antike, vielleicht sogar buchstäblich seit Menschengendenken in ihren Grundzügen unverändert. In ihr gibt es nur eine einzige Erkenntnisart: das Wissen. Wissen ist gebunden an Wahrheit. Wenn ich von etwas Nicht-Wahrem überzeugt bin, etwa davon, dass niemals ein Mensch den Mond betreten hat, dann habe ich eben kein Wissen. Und Wahrheit ihrerseits verstehen wir als das Übereinstimmen mit einer als extern oder „objektiv“ gedachten Wirklichkeit.1

Ein solches Dreieck aus Wissen, Wahrheit, Wirklichkeit („W-W-W-Dreieck“) funktioniert bestens in der konkreten, alltäglichen Lebenswelt. Es funktioniert überraschenderweise ebenfalls recht gut in der klassischen Physik und anderen klassischen empirischen Wissenschaften.2 Die Lage ändert sich jedoch grundlegend mit dem Aufkommen der modernen, multidisziplinären Wissenschaften3 und insbesondere mit deren medialer und politischer Verstrickung in aktuelle Hyperproblematiken wie Klima, Pandemien, KI oder Gender.

Wissenschaften = „Wissen schaffen“?

Wie ist es zum Beispiel mit dem „Output“ der Sozialwissenschaften? Die Soziologie produziert Modelle, die uns ermöglichen, unsere moderne Lebensrealität zu verstehen, erfolgreich in ihr zu agieren und sie weiter zu transformieren. Selbstverständlich sollen diese Modelle empirisch abgestützt sein. Aber die eigentliche soziologische Erkenntnisleistung ist eine konzeptuelle, gedankliche. 

Wer sich eine solche Erkenntnis zu eigen macht, hat der dann ein „Wissen“? Das kann allein deshalb nicht sein, weil sozialwissenschaftliche Befunde unterschiedlicher akademischer Schulen einander oft diametral widersprechen. Wissen ist aber, wie wir gesehen haben, an Wahrheit gebunden, und es können nicht zwei einander widersprechende Dinge gleichzeitig wahr sein.

Subsummiert man derartige Erkenntnis dennoch unter „Wissen“, dann praktiziert man epistemische Arroganz: Man folgt der Überzeugung, mehr zu wissen, als man tatsächlich weiß und als zu wissen überhaupt möglich ist.

Daher ist diese Einsicht, selbst wenn sie erst kontraintuitiv scheinen sollte, die Grundvoraussetzung aller Bemühungen gegen epistemische Arroganz: Viele Ergebnisse der modernen Wissenschaften fallen gar nicht unter den Begriff „Wissen“.4  

Namenlose Erkenntnis

Sie sind aber natürlich weiterhin Erkenntnisse. Sie sind ja durch wissenschaftliche Methodiken entstanden und beweisen ihre Erkenntniskraft auch alltäglich in gesellschaftlicher Debatte und politischer Entscheidungsanbahnung. Man hat sie, auch ohne Wissensstatus, unbedingt ernst zu nehmen. Die Resonanzen eines Hartmut Rosa5 oder die Valorisierungsregimes eines Andreas Reckwitz6, um einmal zwei aktuelle Konzepte aus der Soziologie herauszugreifen, kann man wohl kaum als etwas bezeichnen, das „wahr“ ist oder ein „Wissen“ darstellt (wenn, dann kann man mit ihnen auf einer Meta-Ebene vertraut sein oder sie kennen). Die wahr-falsch-Matrix ist auf sie gar nicht anwendbar. Aber sie sind doch zweifellos, mitsamt der auf sie rekurrierenden Theorien und Modelle – ja, was denn eigentlich? „leistungsfähig?“ „stimmig“? „tauglich“? Wir haben kein passendes Wort dafür. 

Und das wäre eine zweite hilfreiche Einsicht für den Umgang mit epistemischer Arroganz: Dass unserer traditionellen Erkenntniskultur jegliche Begriffe fehlen für solche „nichtwissliche“, dabei aber zweifellos wissenschaftliche Erkenntnis und dafür, wie sie, wenn nicht kraft ihres wahr-Seins, dennoch Gültigkeit erlangt. 

Post-normale Normalität

Blindheit gegenüber nichtwisslicher Erkenntnis ist mehr als nur ein theoretisches Problem. Am Transfer-Interface der Wissenschaftskommunikation geht es ja meist um durchaus praktische epistemisch-politische Issues – eben zum Beispiel um die oben erwähnten Problematiken KI, Pandemien, KIima oder Gender. 

Diese Issues sind ausnahmslos multidisziplinär, mehr noch: Sie sind zudem auch rekursiv, denn jede getroffene Maßnahme wirkt sofort auch wieder auf die Problemstellung selbst zurück. Das heutige wissenschaftliche „Objekt“ präsentiert sich mehr und mehr als ein hochdynamischer, hyperhybrider, gordischer Knoten aus Aufgaben und Erkenntnissen der allerverschiedensten Provenienzen.

Bereits 1993 hat das argentinisch-britische Forscherduo Silvio Funtowicz und Jerome Ravetz diese Situation auf die Formel gebracht: „facts are uncertain, values in dispute, stakes high and decisions urgent“.7Heute ist ihre Post-Normal Science, geprägt von epistemischer Ungewissheit, wissenschaftlicher Multidisziplinarität und politisch-gesellschaftlichem Entscheidungsdruck, ein wissenschaftlicher Normalfall.8

Für die Transfer-Schnittstelle heißt das: Es gibt wohl keine aktuell relevante Problematik, in der jene namenlosen nicht-wissensförmigen Erkenntnisarten, die in unserer derzeitigen Erkenntniskultur durch alle Maschen fallen, nicht eine essenzielle Rolle spielen würden.

HiFi Wisskomm

Es sollte jetzt klarer geworden sein, in welch schwieriger Lage sich die Wissenschaftskommunikation aufs Ganze gesehen befindet – jedenfalls meiner hier vertretenen Konzeption nach. Auf eine kurze Formel gebracht: Wissenschaftskommunikation soll den Transfer aller Arten wissenschaftlicher Erkenntnis sicherstellen, kann aber nur innerhalb der aktuellen Erkenntniskultur agieren, die jedoch für einen Gutteil der modernen, post-normalen Erkenntnis überhaupt keine passenden Werkzeuge besitzt. 

Einen schnellen Ausweg aus dieser misslichen Lage scheint es nicht zu geben. Gegen epistemische Arroganz helfen jedenfalls keine gutgemeinten Appelle für Toleranz oder eine bessere Debattenkultur. Aussichtsreicher ist es, bewusst auf maximalistische Wissensansprüche zu verzichten und wo immer möglich innerwissenschaftliche Kontroversen mit darzustellen.

Die Kunst einer high fidelity scicomm, die es schafft, nicht nur Fakten, sondern auch unterschiedlichste wissenschaftliche Abstraktionen, Modelle, Entwürfe, Hypothesen, kritische Interventionen und so weiter quellengetreu zu kommunizieren, liegt dann darin, jeweils individuell möglichst passende sprachliche und kognitive Mittel zur Kommunikation der verschiedenen Inhalte, Erkenntnisarten und gegebenenfalls mit einander im Widerstreit stehenden Gültigkeitsansprüche zu finden. Etwa kann man anstatt von Formulierungen, die pauschalisierend Wissen implizieren („Im Interview erklärt Prof. X, wie Phänomen Y zustande kommt“), je nach Einzelfall solche verwenden, die Perspektivität und Vorläufigkeit transportieren („Prof. X präsentiert ein Modell, das seine Arbeitsgruppe als Erklärung für das Zustandekommen von Y vorschlägt“).

Solch feinfühlige Arbeit mit der Sprache, noch dazu im oft knappen Format der einzelnen Medienbeiträgen, ist eine mehr als herausfordernde Aufgabe.

Aber immer wieder gelingt es ja auch, sie auf exzellente Art und Weise zu lösen. Sei es in differenzierten, an den passenden Stellen abwägenden wissenschaftsjournalistischen Formaten oder in multiperspektivischen, plural angelegten Berichten über aktuelle Forschung, die jeweils auch skeptische Fachkollegen zu Wort kommen lassen. Ermutigend ist auch, dass die Wissenschaftskommunikation der Geisteswissenschaften, die lange ausgeblendet oder nach naturwissenschaftlichem Schema behandelt wurde, endlich verstärkt in den Fokus der Forschung rückt.9

Um die hier beschriebenen Problematiken nachhaltig und systematisch zu bewältigen, scheint mir darüber hinaus allerdings auch unumgänglich, unsere Erkenntniskultur selbst einer kritischen Bestandsaufnahme und, wo nötig, einer fundamentalen Überholung zu unterziehen. Utopisch? Vielleicht, aber das spräche ja nicht unbedingt dagegen. 

  1. Ebenfalls relevant für die Überlegungen zur epistemischen Arroganz: Wir handhaben die Begrifflichkeit aus WissenWahrheit und Wirklichkeit mit einer binären Logik. Zum Beispiel: Weißt du, wie man Feuer macht? Ja oder nein. Ist es wahr, dass Brutus Caesar ermorden will? Ja oder nein. Gibt es das Phlogiston wirklich? Ja oder nein. Weder gestatten wir etwas dazwischen (ein „jein“), noch akzeptieren wir ein Sowohl-als-auch. Auch das trägt zur gegenwärtigen Überdehnung des Wissensbegriffs bei, denn wo es nur zwei Möglichkeiten gibt, bleibt uns in Zweifelsfällen gar nichts anderes übrig, als etwas, das in irgendeiner Weise Erkenntnischarakter hat, gleich „ganz und gar“ zu Wissen zu deklarieren. ↩︎
  2. „klassische“ empirische Wissenschaften, weil gerade eine empirische Wissenschaft par excellence wie die Physik über die vergangenen einhundert Jahre zeigt: Mit Wissen, Wahrheit und Wirklichkeit ist alles ganz und gar nicht so einfach, wie uns die gängige Erkenntniskultur suggeriert. Im Gegenteil: Moderne Quantenphysik, Teilchenphysik und Kosmologie führen die Idee einer universellen Anwendbarkeit des W-W-W-Dreiecks geradewegs ad absurdum. ↩︎
  3. Ich spreche bewusst von Wissenschaften im Plural, denn „die Wissenschaft“ gibt es nicht. Wissenschaften sind ein Bündel von erkenntnisschaffenden Disziplinen, die sich zwar eines gemeinsamen Methodenkatalogs bedienen, dieser kann aber je nach Disziplin vollkommen unterschiedlich realisiert sein. Der Wissenschaftstheoretiker Holm Tetens (FU Berlin) redet metaphorisch von einem „Vielfächerzoo“, der nicht nur vollkommen unterschiedliche Lebewesen beheimatet, sondern in dem es auch „nicht nur friedlich zugeht“, weil immer wieder Disziplinen untereinander ihre Wissenschaftlichkeit bestreiten. Was als Wissenschaft zu gelten hat, ist ein altes und nicht kategorisch lösbares Problem (boundary problem), über die Pluralität der Wissenschaften herrscht aber unter heutigen Theoretikern weitgehende Einigkeit. Empfehlenswert und ohne Fachjargon: Holm Tetens, Wissenschaftstheorie: Eine Einführung, München 2013 (Beck). ↩︎
  4. Das Verhältnis der Konzepte „Erkenntnis“ und „Wissen“ zueinander kann natürlich auf sehr unterschiedliche Weise bestimmt werden. In meiner Konzeption ist „Erkenntnis“ der Oberbegriff und „Wissen“ einer unter verschiedenen möglichen Unterbegriffen. Auf etwas anders akzentuierte Art und Weise konzipiert auch der Philosoph Gottfried Gabriel (Universitäten Bochum und Jena) einen erweiterten, pluralistischen Erkenntnisbegriff, unter den bei ihm z. B. auch literarische und ästhetische Erkenntnisse („Vergegenwärtigungen“) fallen. Siehe etwa: G. Gabriel, Erkenntnis, Berlin/Boston 2015. Wie auch immer man die Begrifflichkeit ansetzt: Alle derartigen Ordnungssysteme sind historische Erzeugnisse, die auch wieder revidiert und verändert werden können.  ↩︎
  5. H. Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin (Suhrkamp) 2016. 2. Aufl. 2019 ↩︎
  6. A. Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten : zum Strukturwandel der Moderne, Berlin (Suhrkamp) 2017 ↩︎
  7. Silvio O. Funtowicz, Jerome R. Ravetz: Science for the post-normal age, Futures 25/7, 1993 ↩︎
  8. Im Jahr 2021 veröffentlichten Daniel Sarewitz (Professor of Science and Society, University of Arizona) und Steve Rayner (Institute for Science, Innovation and Society, Oxford) einen umfangreichen Artikel, in dem sie die Corona-Krise als ein Paradebeispiel für Post Normal Science beschreiben (Policy Making in the Post-Truth World, Breakthough Journal 13/2021). Das folgende längere Zitat ist für die angesprochene Problematik sehr ergiebig: „Successfully navigating the divisive politics that arise at the intersections of technology, environment, health, and economy depends not on more and better science, nor louder exhortations to trust science, nor stronger condemnations of “science denial.” Instead, the focus must be on the design of institutional arrangements that bring the strengths and limits of our always uncertain knowledge of the world’s complexities into better alignment with the cognitive and political pluralism that is the foundation for democratic governance — and the life’s blood of any democratic society.“ ↩︎
  9. Georgia Gödecke, Andreas Grünewald (Hg.): Wissenschaftskommunikation in den Geisteswissenschaften, Bielefeld 2024 (wbv) ↩︎

Die redaktionelle Verantwortung für diesen Beitrag lag bei Sabrina Schröder.