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„Wir können komplexe Probleme nur gemeinsam lösen“

Digitale Transformation, Demokratiekrise und Desinformation sind nur drei von zahlreichen aktuellen Herausforderungen. Dejan Mihajlović berichtet aus seinen Erfahrungen als Pädagoge, wie man ihnen begegnen kann – und welche Rolle die Demokratisierung von Wissen und der Abbau von Machtstrukturen bei der gesellschaftlichen Transformation spielen sollten.

Sie beschäftigen sich als Lehrer und Autor mit aktuellen Entwicklungen und der Frage, wie wir diesen im Bildungssystem und gesamtgesellschaftlich begegnen können. Was denken Sie zum Thema Digitale Transformation?

Dejan Mihajlović unterrichtet an der Freiburger Pestalozzi-Realschule. Er arbeitet außerdem als Referent für Demokratiebildung und Digitale Transformation beim Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung Baden-Württemberg. Er war vier Jahre im Vorstand von D64 – Zentrum für digitalen Fortschritt und leitet dort den Bildungsbereich. Mihajlovićs Schwerpunktthemen sind Demokratiebildung und Digitalität. Dazu hält er Vorträge, gibt Workshops, organisiert Veranstaltungen, schreibt Artikel auf seinem Blog und berät Politik und Verwaltung. Foto: Fionn Große

Ich zeichne gerne das Bild eines tiefgreifenden kulturellen Wandels, weil die Digitale Transformation alle Lebensbereiche betrifft. Betrachtet man die vier medialen Paradigmen Kulturgeschichtlich, hatten wir zuerst eine Kultur der Oralität, dann die Weiterentwicklung zur Schrift, zum Druck und zuletzt zur Kultur der Digitalität. Wie bei jedem Kulturwandel gibt es grundlegende Veränderungen. Bevor wir Schrift nutzten, haben sich Menschen Geschichten erzählt gemerkt und so über Generationen weitergegeben. Mit der Kultur der Digitalität ändert sich nun wieder die Art, wie wir auf Wissen zugreifen. Hierarchien und Machtkonstellationen ändern sich, Grenzen lösen sich teilweise auf. Das ist etwas, das die Gesellschaft und ihre Institutionen an verschiedenen Stellen fordert und überfordert. 

Inwiefern? 

Betrachten wir das beispielsweise am System Schule: Durch das Internet können Schüler*innen plötzlich viel leichter auf Informationen zugreifen. Dadurch verliert Schule ihre Gatekeeper-Funktion. In meiner Schulzeit war es so: Ich bin ein Gastarbeiterkind, wir hatten keinen Brockhaus zu Hause. Ich hätte nicht nachschlagen können, um zu überprüfen: Stimmt das, was der Lehrer da vorne erzählt? Der Kontrollverlust ist auch ein Grund, warum Smartphones an Schulen verboten waren und teilweise sind: Der neue Zugang zu Wissen mischt die bisherige Struktur auf. Schüler*innen können sich selbständig im Netz in den unterschiedlichsten Themenfeldern Kompetenzen und Wissen aneignen und sich zu Expert*innen entwickeln, die theoretisch die Rollen im schulischen Raum umkehren (können). Natürlich bringt das neue Herausforderungen mit sich – angefangen damit, welche Quellen genutzt werden und wie kommuniziert wird. Wie transparent sind Kanäle, Prozesse und Strukturen? Die Welt wird komplexer und deshalb müssen Menschen befähigt werden, diese Komplexität zu erfassen – und auch zu ertragen.

Wie das gelingen kann, ist auch in der Wissenschaftskommunikation eine zentrale Frage. Was denken Sie?

„Die Welt wird komplexer und deshalb müssen Menschen befähigt werden, diese Komplexität zu erfassen – und auch zu ertragen.“ Dejan Mihajlović
Ich glaube, dass Vertrauen hier eine große Rolle spielt. Sobald man einen Bereich erreicht, der das eigenes Verständnis übersteigt, muss man Vertrauen in die Person oder die Institution haben, die einem etwas erklärt. Die Coronapandemie könnte in dieser Hinsicht zu einem größeren Vertrauensverlust beigetragen haben, den man in den letzten Jahren bei nicht wenigen Menschen beobachten konnte. Aufgrund dessen, dass Fehler nicht zugegeben oder schlecht kommuniziert wurden, stellten viele grundsätzlich alles in Frage. An diesem verlorenen Grundvertrauen zu arbeiten, wäre für mich ein erster wichtiger Schritt. Der zweite wäre, dass es in der Kommunikation gelingen muss, Dinge so zu erklären, dass sie für ein breites Spektrum an Menschen nachvollziehbar werden – aber gleichzeitig deutlich machen, dass sie in Wirklichkeit komplexer sind. Menschen müssen auch ertragen lernen, Dinge nicht zu verstehen. 

Vertrauen ist wichtig, aber man muss wissen, welchen Quellen man vertrauen kann. Wie kann das nötige Wissen dafür vermittelt werden?  

Ich störe mich ein bisschen an dem Begriff „vermitteln“, weil damit auch ein Bild und eine Idee von einem überholten Lernverständnis reproduziert werden und es sich bezüglich der Einordnung von Quellen nicht so einfach gestaltet, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Zumal wird Wissen nicht vermittelt, es wird erworben, wie auch die Kompetenzen, die für den Umgang mit Quellen nötig sind. Der Unterschied ist groß. Beim Vermitteln geht man unter anderem davon aus, zu wissen, was richtig ist, dass es ein einfaches Rezept gäbe und das nur auf eine passende Weise kommuniziert, transportiert werden müsste. Beim Wissens- und Kompetenzerwerb geht es darum, selbst einen komplexen Sachverhalt kritisch denkend zu zerlegen und neu zusammenzusetzen. Das betrifft auch den Wissenschaftsbetrieb. Wer gibt Studien in Auftrag? Wie unabhängig agieren Wissenschaftler*innen in einem Kontext? Auch Strukturen müssen kritisiert werden – Stichwort #IchBinHanna. Diesen komplexen Dingen muss man eigentlich schon in der Schule begegnen. Der finnische Ansatz, dass auch Lehrkräfte wissenschaftlich arbeiten, zeigt hierzu eine gute Möglichkeit auf. In Deutschland sind die Institutionen noch zu stark voneinander abgekoppelt. 

Aber es gibt doch auch Kooperationen zwischen Hochschulen und Schulen? 

Ja, es gibt eine große Bandbreite an Projekten. An manchen Schulen sollen Lehrkräfte dabei einfach umsetzen, was von der Hochschule vorgegeben wurde. Bei anderen Ansätzen werden sie von Beginn an in die Entwicklung der Fragestellung einbezogen. So sollte es eigentlich sein. Ich habe auch schon mal eine Zusammenarbeit abgelehnt, weil ich fand, dass die Fragestellung der Wissenschaftler*innen einen Bias enthielt. Es war herauszuhören, dass hier ein bestimmtes Ergebnis erwartet wurde. Das konnte ich nicht unterstützen. 

„Wenn Komplexität bewältigt werden soll, müssen unterschiedliche Perspektiven einbezogen werden.“ Dejan Mihajlović
Wenn Komplexität bewältigt werden soll, müssen unterschiedliche Perspektiven einbezogen werden. Das gilt nicht nur für die Perspektiven von Lehrkräften, sondern auch für die von Schüler*innen. In der Schule werden in der Regel Dinge von Erwachsenen konzipiert – beispielsweise Online-Plattformen, die eher Lehrkräften und weniger den Schüler*innen dienen. Das ist, als würde man ein Gerät entwickeln, ohne User*innen zu befragen. So kann manches scheitern. weil wichtige Perspektiven nicht mit einbezogen werden.

Können Sie dafür ein Beispiel nennen? 

Bei uns an der Schule gab es das Problem, dass Schüler*innen zunehmend nach der großen Pause zu spät zum Unterricht kamen. Die Lehrkräfte waren verärgert und dachten schon über härtere Strafen nach. Der Vorschlag, die Schüler*innen zu fragen, führte zum Ergebnis, dass ein Fünftklässler die Ursache erklärte: Etwas weiter weg vom Schulhaus war der Pausengong nicht zu hören. Und weil sie ihre Smartphones nicht rausholen durften, wussten sie nicht, wie spät es ist. Sein Vorschlag, außen am Schulgebäude eine Uhr aufzuhängen, löste ein Problem, an dem ein ganzes Kollegium vorbei gedacht hatte. 

Mit dieser Geschichte sind wir direkt bei der Demokratiebildung – ein Thema, mit dem Sie sich intensiv befassen. Warum ist das gerade in der heutigen Zeit so wichtig? 

Wir können komplexe Probleme nur gemeinsam lösen. Kollaborativ, interdisziplinär und multiperspektivisch. Dafür braucht es auch mehr Partizipation. Das bedeutet wiederum, Partizipation nicht nur mehr zuzulassen, sondern Menschen auch dazu zu befähigen. Es gibt das populäre Missverständnis, man müsse lediglich Räume für Beteiligung schaffen, die dann dort automatisch entsteht. Das ist, als würde man ein Mathebuch auf den Tisch werfen und viel Spaß damit wünschen. Partizipation erfordert wie Mathe, Geschichte oder Deutsch ein bestimmtes Wissen und Kompetenzen, die erst erworben werden müssen.

„Es gibt das populäre Missverständnis, man müsse lediglich Räume für Beteiligung schaffen, die dann dort automatisch entsteht.“ Dejan Mihajlović
Wir leben in einer Zeit komplexer, existenzieller Probleme. Wenn es uns über Jahrzehnte nicht gelingt, die Klimakrise so zu kommunizieren, dass Menschen verstehen, dass es um unser Dasein geht, haben wir ein Problem. Aus meiner Sicht hat auch in der Kommunikation rund um die Klimakrise Partizipation gefehlt. Es ist nicht gelungen, alle mit ins Boot zu holen. In der Pandemie haben wir gesehen: Wenn nur ein kleiner Teil der Bevölkerung Masken trägt, Abstände einhält und sich impfen lässt, genügt das nicht. Ein zentraler Aspekt der Demokratiebildung ist das Gefühl und Verständnis, Teil der Gesellschaft zu sein. Das benötigt eine Überzeugung durch Erfahrung, dass die eigene Stimme zählt. 

Wie kann sich dieses Vertrauen in die eigene Selbstwirksamkeit entwickeln? 

Bei uns an der Schule arbeiten wir mit dem aula-Konzept. Schüler*innen können über eine digitale Plattform Vorschläge machen, was sie an der Schule verändern, verbessern möchten wollen – zum Beispiel eine Tischtennisplatte aufstellen oder später mit dem Unterricht beginnen. Damit das umgesetzt wird, müssen sie Mehrheiten davon überzeugen, für ihr Projekt zu stimmen und ein Finanzierungs- und Umsetzungskonzept erarbeiten. 

Schüler*innen haben berichtet, dass sich durch aula bei ihnen einiges verändert hat. Sie haben erfahren, wie schwierig und komplex Aushandlungsprozesse sein können. Ein Schüler erklärte, bisher zu Hause immer nur seine eigene Perspektive gesehen zu haben, wenn er etwas haben wollte. Seitdem er bei aula Projekte eingestellt habe, denke er aber automatisch die Perspektiven der anderen mit. 

„Aus meiner Sicht hat auch in der Kommunikation rund um die Klimakrise Partizipation gefehlt.“ Dejan Mihajlović
Eine andere Schülerin berichtete, dass sie zu Hause mehr Mitspracherecht eingefordert habe, nachdem sie aula kennengelernt hatte. Das führte in der Familie zwar zu Konflikten, aber genau das, was eine demokratische Gesellschaft braucht: Wenn junge Menschen schon während der Schulzeit erfahren, dass sie Teil von ihr sind und dass sie etwas verändern können, lässt sich das auf die kommunale und die Bundesebene transferieren. Leider finden solche Erfahrungen in der Schule oft nicht statt. Zu viele geben an, in ihrer Schulzeit als Mensch nicht wahrgenommen worden zu sein und einiges als ungerecht empfunden zu haben. 

In digitalen Räumen herrscht häufig ein rauer Umgangston, es wird viel Hass verbreitet. Ist das ein Problem für die Demokratie? 

Wie Menschen im Netz miteinander umgehen, ist ein Problem, das durch die Struktur und Idee digitaler Plattformen zwar verstärkt werden kann, aber komplexe Ursachen hat, die sich politisch, soziologisch oder psychologisch begründen lassen. Leider nimmt man meist die negativen Aspekte in den Blick, wenn man über digitale Räume spricht. Dabei gibt es auch einige Punkte, die zur Demokratisierung beitragen können. Menschen, die zuvor keinen Zugang zu einer breiten Öffentlichkeit hatten, können sich relativ einfach über das Internet Gehör verschaffen und so z.B. auf ungerechte Strukturen oder Diskriminierungen hinweisen. Das kann auch kollektiv geschehen, über gemeinsame Hashtags und in ganzen Bewegungen münden, die einen politischen Druck erzeugen und Veränderungen erreichen können. 

Fridays For Future ist ein gutes Beispiel. Hier haben sich junge Menschen global vernetzt, Wissen ausgetauscht, sich gegenseitig geschult und gleichzeitig dezentral und basisdemokratisch in den Regionen und Kommunen organisiert. Die übertragen erfolgreich die Funktionsweisen sozialer Bewegungen aus dem Zeitalter vor dem Internet ins Digitale. Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, was das große Versprechen des Webs war und daran den Anschluss zu finden. 

Wie kann das gelingen, demokratische Prozesse zu stärken – innerhalb und außerhalb des Internets? 

Indem zum Beispiel den kritischen Aspekten der Digitalen Transformation möglichst früh entgegengewirkt wird. Manche Menschen lesen nur noch bestimmte Kanäle, glauben an Desinformation und haben weniger Vertrauen in Wissenschaft und Politik. In der Schule braucht es deshalb eine vertiefte Auseinandersetzung mit den Herausforderungen sozialer Netzwerke, um die Probleme ausfindig machen zu können. Gleichzeitig sollte auch gelernt werden, wie Social Media helfen können, eine eigene Stimme zu entwickeln und andere zu mobilisieren. 

Ein zentraler Aspekt für Partizipation und Demokratiebildung ist, Macht abzugeben. Das ist etwas, woran ganz viel scheitert – sei es in der Schule, im Hochschulbereich oder in Politik und Verwaltung. Dabei geht es immer auch um Machtstrukturen. Je hierarchischer ein System ist, desto schwerer ist es, diesen ersten Schritt zu gehen. Weshalb auch Bemühungen der Demokratiebildung im Bildungssystem entgegensetzt zu den vorliegenden Strukturen agieren, es schwer haben und vom Wohlwollen der Lehrenden und Leitungen abhängen. 

Schulen bilden die Gesellschaft ab, mit all ihren Problemen, aber auch Potenzialen. Wenn wir etwas erfolgreich verändern wollen, müssen wir alle zusammen an Lösungen arbeiten. Das gelingt nur mit einer echten kritischen Auseinandersetzung struktureller Probleme, wie Rassismus, Sexismus, Klassismus, Ableismus und alle anderen Ismen und einem Kulturwandel in der Lösungsfindungen, die auf Vertrauen und Zutrauen basiert und sich an einem Konsens gemeinsamer Werten orientiert.