Wikipedia statt Social Media?

Es gibt viele Gründe, auf TikTok, X und Co. keine Wissenschaftskommunikation betreiben zu wollen. Aber was wäre die Alternative? Unsere Gastautorin Nicola Wessinghage sieht großes Potenzial bei Wikipedia.

Intransparente Algorithmen, politische motivierte Löschungen, das Fehlen einer Moderation, mangelnder Datenschutz, zunehmende Kommerzialisierung: Es gibt viele gute Gründe, das Engagement auf Social-Media Plattformen wie TikTok, Instagram und X zu hinterfragen und nach Alternativen Ausschau zu halten. Könnte die Online-Enzyklopädie Wikipedia eine Alternative, wenn nicht überhaupt die bessere Lösung sein?

Prof. Dr. Patrick Franke, Islamwissenschaftler an der Universität Bamberg und engagierter Wikipedia-Autor, ist davon überzeugt. Mit über 375 Artikeln ist er auf der Plattform bereits vertreten – darunter viele zur islamischen Welt, die in der „Bamberger Islam-Enzyklopädie (BIE)“ zusammengeführt werden. Bereits 2019 berichtete der Deutschlandfunk über sein Engagement. Frankes Beiträge verbuchen inzwischen im Durchschnitt rund 4.000 Aufrufe am Tag. Sein erfolgreichster Artikel, ein Beitrag über die Erzengel, wurde bereits über zwei Millionen Mal gelesen. Seine Motivation speist sich allerdings nicht aus Zahlen. Es ist vielmehr eine persönliche Mission, die er in der Wikipedia ausformuliert hat: Islambezogene Inhalte in der Wikipedia sollen wissenschaftlich fundiert sein, öffentlich zugänglich, korrekt und nachvollziehbar.

Wenig Anerkennung im wissenschaftlichen Publikationsbetrieb

Franke tritt mit Klarnamen auf, um seine Forschung in der Öffentlichkeit bekannt zu machen. Als Lehrender nutzt er die Plattform und ihr Schwesterprojekt, die Wikiversity, als digitalen Lernraum. Studierende dürfen bei ihm ihre Hausarbeiten auch in Form von Wikipedia-Artikeln erbringen, und in der Wikiversity hat er unter dem Titel Bamberger Einführung in die Geschichte des Islams (BEGI) seine Vorlesung veröffentlicht. Seine Hoffnung: dass die von ihm erstellte Enzyklopädie irgendwann von der Fachcommunity übernommen wird. Bislang beteiligen sich aber nur sehr wenige Fachkolleg*innen an dem Projekt, denn das Veröffentlichen von Wikipedia-Artikeln bringt im wissenschaftlichen Betrieb (noch) zu wenig Prestige.

Der Wissenschaft sehr nah

Doch für den Wissenstransfer in die Gesellschaft ist die Wikipedia gerade wegen ihrer besonderen Eigenschaften ein wirksames Medium. Die Plattform zählt laut dem Analyse-Tool von Semrush auch 2025 wieder zu den zehn meistaufgerufenen Seiten in Deutschland. Anders als klassische Publikationen werden Beiträge fortlaufend aktualisiert und präsentieren damit im besten Fall den aktuellen Wissensstand. Fehler können schnell korrigiert werden, Inhalte bleiben dauerhaft auffindbar. Die Reichweite ist enorm – nicht zuletzt, weil Artikel der Plattform bei Suchmaschinen prominent gelistet sind. Journalist*innen nutzen sie häufig als Recherchequelle. 

Für KI-basierte Suchsysteme wie ChatGPT spielt die deutschsprachige Wikipedia derzeit allerdings kaum eine Rolle. Diese Systeme greifen bislang vorrangig auf die englischsprachige Version zurück. 

Kontroverse Themen, sachliche Debatten

Es gibt einen weiteren guten Grund für Wissenschaftskommunikation über Wikipedia: Anders als auf vielen Social-Media-Plattformen kann hier durchaus auch Kontroverses präsentiert werden, ohne dass es gleich zu überbordenden Emotionen oder Shitstorms führt. Ein Beispiel: Im Jahr 2018 hatte die AfD einen Antrag an den Bundestag gestellt, die Verbreitung von Inhalten des Korans zu unterbinden. Das Argument der AfD damals: Islamischer Fundamentalismus und Terrorismus bedrohten Deutschland. Frank entwickelte gemeinsam mit Studierenden in einem Seminar einen Artikel über die Bundestagsdebatte anlässlich dieses AfD-Antrags zu Islam und Scharia. Wie die Versionsgeschichte und Diskussionsseite zeigen, gab es bisher kaum Wünsche nach Veränderung. Wichtig ist, so sagt Franke, dass bei kontroversen Themen die Argumente und Sichtweisen der verschiedenen Beteiligten sachlich und gut strukturiert dargestellt werden. Genauso also, wie man es sich für eine gute Diskussion mit wissenschaftlichen Themen wünscht. Auch in anderen Punkten ermöglicht die Struktur der Wikipedia einen guten Transfer von Wissenschaft in den gesellschaftlichen Diskurs: Das Wissen ist frei zugänglich – ganz im Sinne einer Open Science. Und wenn Franke berichtet, dass er vom Austausch mit den Nutzenden auch Anregungen und Inspirationen mitnimmt, dann erinnert das an die positiven Effekte einer Citizen Science. 

Publikation nicht frei von Hürden

Gleichzeitig herrschen strenge Regeln: Eigenwerbung ist untersagt, Aussagen müssen belegt sein, der Einstieg ist mit Community-Diskussionen verbunden. Diese Regeln stärken die Glaubwürdigkeit und dienen der Qualitätssicherung, könnten gute Wissenschaftskommunikation also eigentlich nur fördern. Wegen des damit verbundenen Aufwands schrecken sie aber viele Wissenschaftler*innen ab. 

Besonders die Hürden für einen Einstieg erscheinen vielen zunächst hoch: Es ist zwar sehr transparent, jeden Eintrag mit belastbaren Quellen zu belegen, aber auch schwierig, wenn es noch keine Veröffentlichungen der eigenen Arbeit gibt, die sich verlinken lässt. Über die Aufnahme eines Themas in der Enzyklopädie entscheiden Relevanzkriterien, nicht persönliche Expertise. Änderungen werden von der Community geprüft, fragwürdige Inhalte konsequent zurückgewiesen. Wer mitschreiben will, braucht also Geduld, Sorgfalt und die Bereitschaft, sich auf Diskussionen einzulassen. Für Einsteiger*innen gibt es Unterstützung: Ein Mentorenprogramm hilft Neulingen beim Start, und auch viele praktische Tipps dazu finden sich direkt in der Wikipedia.

Kooperation ist auch im Bereich der Darstellung von Inhalten ein wichtiges Merkmal der Plattform: Durch Zusammenarbeit mit anderen Wikipedianer*innen der Kartenwerkstatt oder Grafikwerkstatt entstehen zum Beispiel interaktive Visualisierungen — Infografiken, Karten, Diagramme. Ein Plus für die Verständlichkeit.

Fehler in der Wikipedia

Die Stärke der Wikipedia – ihre Größe und ihre Reichweite – wird zugleich zur Schwachstelle. Denn die ständig wachsende Menge an Artikeln aktuell und fehlerfrei zu halten, wird zunehmend zur Herausforderung. Anfang Juli sorgte ein Artikel in der FAZ („Wikipedia weiß immer weniger“, 5.7.2025 von Valentin Bauer, Patrick Bernau, Christopher Herstell, Jacob Kramer) für Aufsehen: Das Autorenteam hatte bei einer Stichprobe von 1.000 Artikeln mittels KI veraltete Informationen bei 20 Prozent der Seiten gefunden. Bei einem ähnlich großen Anteil seien Informationen von Anfang an falsch gewesen. 

Der Betriebswirt und Jurist Leonhard Dobusch von der Universität Innsbruck reagierte darauf in einem Text bei Netzpolitik.org und beschrieb, dass die Recherche der FAZ nur der Anfang der Geschichte gewesen sei. Denn kurz nach Erscheinen des Berichts sei die Übersicht der fehlerhaften Artikel in der deutschsprachigen Wikipedia veröffentlicht worden und noch am selben Wochenende hätten freiwillige Autor*innen einen Großteil der Fehler korrigiert. Ein Vorfall, der beweist, dass das Thema „Fehler“, vermeintliche Schwäche der Wikipedia, im Grunde ihre Stärke hervorhebt.  Aber auch Dobusch sieht, dass es für das Thema Korrektur noch mehr Ressourcen braucht. Er schlägt unter anderem bezahlte kleine Redaktionen und Task Forces vor.

Strategie zum Umgang mit gezielter Desinformation

Fehler sind die eine Herausforderung, bewusste Desinformation und KI-generierte Fake-Quellen eine weitere, mit der nicht nur die Wikipedia in Zukunft zunehmend konfrontiert werden wird. Wie die Journalistin Ulrike Langer in ihrem Newsletter schreibt, bereitet sich die Organisation genau darauf vor: Auf der South by Southwest Konferenz in London habe Wikipedia-Gründer Jimmy Wales seine Strategie im Umgang mit Fake-Quellen präsentiert: Man wolle künftig vermehrt KI-gestützt arbeiten, unter anderem um problematische Stellen zu identifizieren und die Autor*innen bei ihrer Arbeit zu entlasten – redaktionelle Entscheidungen aber blieben den Redakteur*innen vorbehalten. Das Motto der Strategie: „Humans first“. 

Netzwerk für Wissenschaftskommunikation auf Wikipedia

Um die Potenziale der Wissenschaftskommunikation auf Wikipedia besser zu nutzen, haben Interessierte einen Austausch initiiert.  Bei einer Konferenz im vergangenen Jahr im April an der Universität Innsbruck: „Enhancing the voice of science on Wikipedia. How universities can collaborate with the online encyclopedia in science communication” hat sich dafür das für institutionelle Wissenschaftskommunikator*innen offene Netzwerk „Wikimedia Science Communication Network (WiSciCoN)“ gegründet. Interessierte können an regelmäßigen Online-Treffen teilnehmen, eine Folgeveranstaltung ist für das kommende Jahr geplant. Ein Papier mit Vorschlägen zur Zusammenarbeit von Institutionen auf der Plattform sowie eine Toolbox für Wissenschaftskommunikation auf Wikipedia sind in Arbeit. Weitere Informationen und ein Kontakt finden sich in der Meta-Wiki-Präsenz des Netzwerks.

Wikipedia folgt anderen Regeln als die meisten institutionellen Kommunikationskanäle. Hier entstehen Beiträge kollaborativ. Relevanz, Neutralität und Nachvollziehbarkeit sind Grundprinzipien. Selbstdarstellung? Tabu. Institutionelles Marketing? Ebenfalls. Genau das macht die Plattform so glaubwürdig  und so wirkungsvoll für die Wissenschaftskommunikation. Wer sich auf die Spielregeln der Wikipedia einlässt, kann mit fundierten Inhalten nachhaltige Aufmerksamkeit für wissenschaftliche Inhalte schaffen. Dabei werden die Nutzer*innen nicht nur als Rezipient*innen angesprochen, sondern auch als Autor*innen, die sich mit wissenschaftlichen Inhalten produktiv beschäftigen. Auf aktuelle Herausforderungen wie KI-Quellen und Desinformation bereitet sich die Plattform gerade vor, die Strategie wirkt überzeugend. Wikipedia ist womöglich mehr als nur eine Alternative – sie ist die zeitgemäße Plattform für Wissenschaftskommunikation.

Der Text basiert auf einem Treffen des Hamburger Stammtischs Wissenschaftskommunikation im April, bei dem der Islamwissenschaftler Patrick Franke zu Gast war. Der Stammtisch wird regelmäßig von Marcus Flatten und Nicola Wessinghage organisiert. Bei LinkedIn gibt es eine Gruppe von Interessierten – dort werden regelmäßig auch die Termine bekanntgegeben.

Die redaktionelle Verantwortung für diesen Beitrag lag bei Sabrina Schröder.