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„Wichtig ist das Vertrauen in die eigene sprachliche Erfahrung“

Je nach Situation drücken sich Menschen unterschiedlich aus. Sie passen Wortwahl, den Satzbau, Betonung oder Lautstärke der Umgebung und ihrem Gegenüber an. Über die Bedeutung dieser unterschiedlichen Register des Sprechens und ihre Rolle in der Wissenschaftskommunikation spricht die Linguistin Anke Lüdeling. 

Frau Lüdeling, Sie forschen zum Thema „Register“. Den Begriff kennen einige vielleicht aus dem Orgelbau, wo er verschiedene Klangfarben beschreibt. Aber was kann man sich in der Linguistik darunter vorstellen? 

Anke Lüdeling ist Professorin für Korpuslinguistik und Morphologie am Institut für deutsche Sprache und Linguistik der Humboldt-Universität zu Berlin und Sprecherin des Sonderforschungsbereichs 1412 „Register: Situationelle und funktionale Aspekte sprachlichen Wissens“. Sie forscht unter anderem zu Registern und Sprachwandel, zu Wortbildung, morphologischem Wandel und dem Aufbau von Korpora von „Nichtstandardsprache“ wie etwa gesprochener Sprache.
Anke Lüdeling ist Professorin für Korpuslinguistik und Morphologie am Institut für deutsche Sprache und Linguistik der Humboldt-Universität zu Berlin und Sprecherin des Sonderforschungsbereichs 1412 „Register: Situationelle und funktionale Aspekte sprachlichen Wissens“. Sie forscht unter anderem zu Registern und Sprachwandel, zu Wortbildung, morphologischem Wandel und dem Aufbau von Korpora von „Nichtstandardsprache“ wie etwa gesprochener Sprache. Foto: Sven Oliver Müller

Mit Register meinen wir intraindividuelle Variationen, die sich durch situative und funktionale Unterschiede begründen lassen. Das klingt kompliziert, also noch mal im Detail: Es gibt Personengruppen, die regional bedingte Varietäten – also Dialekte – oder sozial bedingte Ausprägungen ihrer Sprache sprechen. Uns interessieren aber nicht so sehr Gruppenunterschiede, sondern vielmehr die Variation innerhalb jedes einzelnen Menschen. Uns aber interessiert, wie einzelne Menschen in unterschiedlichen Situationen oder Funktionen sprechen. Sprecher*innen variieren ihre Sprache ständig – je nachdem, mit wem und aus welchem Grund sie sprechen. Das betrifft den Textaufbau, syntaktische Unterschiede, also den Satzbau, sowie subtile morphologische und lexikalische Unterschiede, also die Struktur und Verwendung von Wörtern. Es geht aber auch um die Lautung, also beispielsweise, wie schnell oder wie laut man spricht. Unterschiede sind fast immer quantitativ. Das bedeutet, dass man nicht ganz andere Dinge tut, sondern nur in anderen Häufigkeiten. Wenn ich dieses Interview führe oder eine Vorlesung halte, spreche ich anders, als wenn ich mit einem kleinen Kind spreche. Ich weiß als Sprecherin, dass das nicht angemessen wäre. Und genauso wenig wäre es angemessen, mit einem Vierjährigen zu sprechen wie in einer Vorlesung. 

Das klingt nach einem Wissen, das man sich im Laufe der Zeit aneignet. Kann man lernen, diese Register bewusst zu bedienen? 

Das ist eine der schwierigsten Fragen: Wie erwerbe ich Wissen über die Angemessenheit in bestimmten Registern? Es gibt sicherlich explizite Regeln, die früh erlernt werden. Zum Beispiel, dass man die Lehrerin siezen muss. In der ersten Schulklasse kriegen Kinder das oft noch nicht so richtig hin und sagen dann: „Du, Frau so und so“. Dann lernen sie langsam, dass Personen in bestimmten Situationen gesiezt werden. Dieses Wissen können sie bewusst einsetzen und man kann es sogar teilweise explizit vermitteln. Die allermeisten Register aber erwerben wir implizit dadurch, dass wir in einer Situation merken, was andere machen. Dabei gibt es subtile Unterschiede. Man hat nicht drei oder sieben verschiedene Register, sondern beliebig fein unterscheidbare. 

„Wenn ich nach Bayreuth in die Oper gehe, weiß ich, dass ich Abendgarderobe tragen muss. Wenn ich im Garten arbeite, sollte ich das wohl nicht mit Abendgarderobe tun.“ Anke Lüdeling
Wenn ich nach Bayreuth in die Oper gehe, weiß ich, dass ich Abendgarderobe tragen muss. Wenn ich im Garten arbeite, sollte ich das wohl nicht mit Abendgarderobe tun. Das sind weit auseinander liegende und eher klare Situationen. In anderen Situationen hat man mehr Freiheiten. Die Frage ist: Woher weiß man in jeder Situation, was angemessen wäre und was nicht? Dazu gibt es schon Forschung, aber noch nicht genug. Deshalb arbeiten wir in unserem Sonderforschungsbereich viel zur Frage: Wie erwirbt man Registerwissen?

In der Wissenschaft lernt man bestimmte Fachsprachen. Sind das auch Register? 

Ja, genau. Das ist natürlich nicht ein einziges Register. Auch im akademischen Leben gibt es zig unterschiedliche Situationen. Wir merken bei unseren Studierenden, dass sie das in den ersten Semestern erst lernen müssen. Was wird auf welche Weise verhandelt und mitgeteilt? Welche Art von Neutralität muss ich wahren? Welche Art der Präsentation von Evidenz kann ich bringen? Es geht dabei nicht nur um Inhalte, sondern auch um die Art, wie wir sie präsentieren. Sehr oft sind die ersten Hausarbeiten sehr journalistisch. Dann muss man den Studierenden beibringen, dass diese Art von Textsorte nicht das ist, was wir in dieser Situation brauchen.

Ich merke immer wieder, dass Studierende, wenn sie zum ersten Mal in die Kolloquien kommen, mit großen Augen dasitzen. Sie hören, wie man einander auf konstruktive und kooperative Weise kritisieren kann. Auch, wie man Kritik umgeht, gehört zu den akademischen Registern. Dieses Wissen erwerben Studierende in den Seminaren, aber sie lernen auch sehr viel voneinander. Das ist übrigens etwas, was während Corona weitgehend wegfällt.

Ist eine Herausforderung für Wissenschaftskommunikation, die im akademischen Betrieb erlernten Register wieder zu verlassen und andere zu bedienen? 

„Ich mache jeweils verschiedene Annahmen darüber, wer meine Hörer*innen sind und was sie interessieren könnte. Aber natürlich kann ich dabei total falsch liegen.“ Anje Lüdeling
Ja, ganz klar. Die erste Herausforderung ist, Inhalte interessant zu machen. Wenn ich mich in einer Vorlesung oder in einem Grundkurs hinstelle, habe ich die Aufgabe, bestimmte Inhalte zu vermitteln und muss überlegen: Wie kann ich das so machen, dass es Leute neugierig macht? Und das Gleiche gilt, wenn ich einer nichtakademischen Öffentlichkeit etwas vermitteln möchte. Welche Komplexität ist erforderlich? Ich kann natürlich nicht genauso reden wie in einem wissenschaftlichen Vortrag. In jedem Gespräch habe ich Annahmen darüber, was diejenigen, mit denen ich spreche, wissen – und woran ich anknüpfen könnte. Diese Annahmen können richtig oder falsch sein, aber erst einmal richte ich danach aus, was ich sage und wie ich es sage. Kinder haben oft noch keine Vorstellung davon, was andere wissen. Sie erzählen eine Geschichte über etwas, was bei ihnen im Kindergarten passiert ist. Dabei setzen sie voraus, dass man alle Namen von allen Kindergärtner*innen und Freund*innen kennt. Dass das nicht so ist, müssen sie erst herausfinden. Das ist Teil des Registerwissens. 

Sie sagen, dass wir unser Registerwissen in verschiedenen Situationen automatisch anwenden. Kann es also auch in der Wissenschaftskommunikation helfen, auf die eigene Intuition zu vertrauen? 

Wichtig ist das Vertrauen in die eigene sprachliche Erfahrung. Auch in der  Wissenschaftskommunikation gibt es viele Register. Habe ich zwei Minuten im Radio oder ein längeres Interview? Spreche ich mit einem Zeitungsredakteur, der nur oberflächlich ins Thema einsteigen möchte? Bei einem öffentlichen Vortrag verwende ich weniger Fachbegriffe und erkläre mehr. Ich mache jeweils verschiedene Annahmen darüber, wer meine Hörer*innen sind und was sie interessieren könnte. Aber natürlich kann ich dabei total falsch liegen. Und dann scheitere ich zumindest bei einem Teil des Publikums. Aus diesen Erfahrungen kann ich dann lernen.

Sie forschen im Sonderforschungsbereich „Register“ der Humboldt-Universität zu unterschiedlichen Aspekten des Themas. Können Sie einen Einblick in Ihre Arbeit geben? 

„Wir haben unglaublich viel Wissen über Sprache, aber auch unglaublich viele Vorurteile.“ Anke Lüdeling
Wir forschen auf vielen Ebenen mit vielen verschiedenen Methoden, also mit experimentellen genauso wie mit korpusbasierten Methoden oder theoretischen Modellen, aus denen man Dinge ableitet. Das alles muss zusammenwirken, um am Ende die Phänomene, die uns interessieren, besser zu verstehen. Zum Beispiel bauen wir gerade einen Korpus über die Entwicklung der Wissenschaftssprache auf. Extrem verkürzt erklärt, hat im Mittelalter die wissenschaftliche Kommunikation im Wesentlichen auf Latein stattgefunden und ist dann im Laufe von 300 Jahren langsam gewechselt, bis sie im 19. Jahrhundert vorwiegend auf Deutsch stattfand. In dieser Zeit musste sich die deutsche Sprache, die diese Register vorher gar nicht bedient hat, syntaktisch verändern. Es musste eine Lexik entwickelt werden, eine Fachsprache und so weiter. Das untersuchen wir anhand eines Korpus von Kräuter-Texten, die wir digitalisieren und analysieren. 

Wie sieht Ihre experimentelle Forschung aus? 

In einem Experiment sitzen sich beispielsweise zwei Proband*innen gegenüber, die einander nicht kennen. Gemeinsam müssen sie Unterschiede zwischen Bildern finden – ohne jeweils zu wissen, was die andere Person sieht. Einmal sitzen die Proband*innen einer Person gegenüber, deren Muttersprache Deutsch ist, und beim zweiten Mal einer Person, die gut Deutsch spricht, aber einen deutlichen englischen Akzent hat. Uns interessiert, wie Proband*innen ihre Sprache verändern. Sprechen sie langsamer oder deutlicher?

Was haben Sie herausgefunden? 

Wir haben bisher nur wenige Ergebnisse, da wir durch Corona schwieriger experimentell arbeiten konnten. Aber was wir sehen, ist, dass es leichte Unterschiede gibt. Es gab in den 70er- und 80er-Jahren schon Forschung zu dem, was man damals „Gastarbeiterdeutsch“ nannte. Damals gab es Studien, in denen gezeigt wurde, dass Menschen, die mit Personen sprechen, die nicht so gut Deutsch konnten, langsamer werden, repetitiv sind, auch manchmal lauter reden. Jetzt gucken wir uns eine Person an, die eine Prestigesprache, also Englisch, als erste Sprache hat. Das Prestige spielt eine riesige Rolle – und auch, dass die Person schon relativ gut Deutsch spricht. Trotzdem finden wir leichte Veränderungen, aber die sind sehr subtil. 

Was wären interessante Fragestellungen in Bezug auf Register und Wissenschaftskommunikation? 

„Wenn ich in einer informellen Situation plötzlich anfange, mich sehr formell, in langen komplexen Sätzen auszudrücken, dann habe ich etwas falsch gemacht.“ Anke Lüdeling
Mich würde interessieren, wie Studierende wissenschaftliche Register erwerben. Spannend wäre ein Projekt, in dem wir Studierende über die Semester hinweg beobachten und dabei nicht nur die Hausarbeiten betrachten, sondern auch die mündlichen Register. Wahrscheinlich funktioniert der Erwerb von Registern bei jungen Erwachsenen anders als bei Kindern. 

Ich würde auch sehr gerne weiter an der Veränderung von Wissenschaftssprache forschen. Unser Korpus endet im Jahr 1914. Man könnte weitermachen und zum Beispiel gucken, wie sich das mit dem neuen Sprachenwechsel hin zum Englischen verschiebt. 

Interessant ist natürlich auch die Rezeption. Wann funktioniert Kommunikation, wann funktioniert sie nicht? Woran liegt es, wenn sich in einer Vorlesung niemand beteiligt oder jemand eine schlechte Klausuren schreibt? Liegt es daran, dass Leute keine Lust haben oder aufgeregt sind? Es kann hundert Gründe geben. Einer könnte eben auch sein, dass ich mit meiner Ansprache das falsche Register gewählt habe. 

Sollte das Thema Registerwissen eine größere Rolle in der Wissenschaftskommunikation spielen? 

Unbedingt. Ich glaube, generell müssen wir ganz viel über Variation von Sprache reden. Wir haben unglaublich viel Wissen über Sprache, aber auch unglaublich viele Vorurteile. Zum Beispiel, dass das schriftliche akademische Schreiben richtig ist und unsere Sprache „bloß Umgangssprache“. So etwas höre ich oft von Studierenden. Dabei müssen wie klarmachen: Bestimmte Register sind nicht besser oder wichtiger als andere. Den Begriff der Umgangssprache, was auch immer das sein möge, verwenden wir gar nicht. Auch die alltägliche Kommunikation besteht aus vielen verschiedenen Registern, die in bestimmten Situationen angemessen sind. Wenn ich in einer informellen Situation plötzlich anfange, mich sehr formell, in langen komplexen Sätzen auszudrücken, dann habe ich etwas falsch gemacht. Wenn wir uns sprachlich in allen Situationen angemessen verhalten wollen, müssen wir diese unterschiedlichen Register lernen. All diese Variation zeigt, was für ein unglaublich reiches Wissen wir über sprachlich angemessenes Verhalten haben.