Wissenschaftskommunikation für und mit Menschen, die in einem marginalisierten Stadtteil leben, die Berufsschule besuchen oder einen muslimischen Migrationshintergrund haben – das Team von „Wissenschaft für alle“ berichtet von den Erfahrungen aus der Zusammenarbeit mit diesen drei unterschiedlichen Zielgruppen und der Evaluation der Pilotformate.
Mit „Wissenschaft für alle“ neue Zielgruppen erreichen: Was hat funktioniert und was nicht?
Viele gesellschaftliche Gruppen werden von Wissenschaftskommunikation bislang kaum erreicht. In unserem von der Robert Bosch Stiftung geförderten Projekt „Wissenschaft für alle“ haben wir uns mit Exklusionsfaktoren für Wissenschaftskommunikation und konkreten Empfehlungen für deren inklusivere und offenere Gestaltung (hier als englischsprachige Publikation) befasst.
Daneben haben wir drei Formate umgesetzt und evaluiert, um neue Zielgruppen zu erreichen. Dazu wurden drei Gruppen ausgewählt, die von klassischen Formaten der Wissenschaftskommunikation oft nicht erreicht oder ausgeschlossen werden:
- sozial benachteiligte Menschen in marginalisierten Stadtteilen
- Berufsschülerinnen und Berufsschüler
- muslimische Jugendliche mit Migrationshintergrund.
Deren Situation und Bedürfnisse haben wir in Interviews und Fokusgruppen mit Vertreterinnen und Vertretern der Gruppen, Multiplikatorinnen und Multiplikatoren sowie bestehenden Initiativen ausführlich erhoben. Davon ausgehend haben wir mit den Beteiligten gemeinsam partizipativ neue Formate für Wissenschaftskommunikation entwickelt und erprobt.
Im Folgenden wollen wir zum Abschluss des Projektes „Wissenschaft für alle“ Einblicke in die Umsetzung und Evaluation der Pilotformate geben – Aspekte, die gut funktioniert haben, genauso wie Stellen, an denen wir selbst auch nicht alle Hürden überwinden konnten. Die Einblicke sind Kurzfassungen der jeweiligen Erfahrungsberichte zu den Pilotformaten, die im Anschluss an die Kapitel verlinkt sind.
Wissenschaftskommunikation für und in marginalisierten Stadtteilen: Forschungsrallye für Groß und Klein in Spandau, Falkenhagener Feld
Marginalisierte Quartiere sind im Vergleich zu anderen Stadtteilen geprägt durch höhere Arbeitslosigkeit, niedrigere Bildungsabschlüsse, ein niedriges Einkommensniveau, geringere Mobilität der Bewohnerinnen und Bewohner sowie eine schlechtere soziale und kulturelle Infrastruktur. Angebote der Wissenschaftskommunikation sind vor Ort kaum präsent, da diese häufig an den wissenschaftlichen Einrichtungen selbst oder in innerstädtischen Bereichen an etablierten Kulturorten stattfinden. Neben der räumlichen Trennung zu Wissenschaft bieten auch die Lebensrealitäten vieler Menschen in marginalisierten Stadtteilen kaum Berührungspunkte mit Wissenschaft und die zentralen Herausforderungen des täglichen Lebens haben verständlicherweise Priorität.
Für das Pilotpformat wurde in Berlin-Spandau das Stadtentwicklungsgebiet Falkenhagener Feld Ost/West gewählt. In den Interviews vor Ort wurden häufig die Bildungsperspektiven für die eigenen Kinder als Priorität genannt – sowohl in Bezug auf schulische Bildung und spätere Karriereperspektiven als auch als kultureller Faktor. Dies wurde daher zusammen mit einer engen lokalen Verankerung des Formats als Ansatzpunkt gewählt.
Entwickelt wurde eine Forschungsrallye „Für Groß und Klein“, die mit dem Klubhaus Spandau umgesetzt wurde; bestehend aus Ständen mit Mitmachexperimenten auf dem zentralen Westerwaldplatz im Falkenhagener Feld.
An insgesamt sieben Stationen (betreut von der Beuth Hochschule, dem NatLab der FU Berlin, dem Forschergarten, der Klimawerkstatt Spandau und dem Museum für Kommunikation) konnten Kinder zusammen mit ihren Eltern unterschiedliche Aufgaben zu verschiedenen Themen aus Wissenschaft und Forschung bearbeiten. Die Stationen wurden an zwei Grundschulen im Stadtteil im Unterricht vorbereitet. Bei der Rallye konnten dann die absolvierten Stationen in einer Laufkarte eingetragen werden. Eine volle Karte konnte am Ende gegen ein kleines Give-away, Essen und Getränke eingetauscht werden.
Die Rallye wurde von den etwa 150 teilnehmenden Kindern gut angenommen. In der Evaluation konnten wir die Angaben von 10 Elternteilen auswerten. Dabei zeigte sich ein höherer Anteil an Eltern mit Abitur (4 von 10) im Vergleich zum Durchschnitt im Stadtteil , und die Hälfte gab an, studierende Familienmitglieder zu haben. Nur 2 Personen gaben allerdings an, sonst häufig oder sehr häufig Wissenschafts-Veranstaltungen zu besuchen, und 8 gaben an, neues gelernt zu haben. Bei diesen Ergebnissen sollte aber die geringe Fallzahl an Rückläufern und ein mutmaßlicher Teilnahme-Bias an der Befragung bedacht werden.
Sowohl in der Vorbereitung als auch in der Ansprache der Teilnehmenden war die Zusammenarbeit mit den Schulen ein zentraler Erfolgsfaktor, ebenso die Durchführung an einem zentralen Platz, der durch das anliegende Stadtteilzentrum und die Bibliothek aktiv genutzter Teil des Alltagslebens im Quartier ist. Bei der Durchführung der Rallye hat sich gezeigt, dass für den eigentlichen Plan, die Eltern gleichermaßen einzubeziehen und mit Wissenschaft in Kontakt zu bringen, noch weitere Angebote speziell für Eltern nötig sind (zum Beispiel weiterführende Experimente, Materialien). Viele sahen die Rallye primär als Aktivität für die Kinder und haben sich selbst zurückgenommen.
Eine ausführlichere Beschreibung der Erfahrungen und der Evaluationsergebnisse der Forschungsrallye ist hier in einem Bericht auf Zenodo zu finden.
Wissenschaftskommunikation für und mit Berufsschülerinnen und Berufsschüler: das Science-Pub-Quiz „Handwerk trifft Wissenschaft“ in Karlsruhe
Berufsschulen kommen in Bildungsdebatten kaum vor und auch ihre Schülerinnen und Schüler werden von der Wissenschaftskommunikation als eigene Zielgruppe bis auf einzelne Ausnahmen meist nicht beachtet. Sie sitzen gewissermaßen zwischen den Stühlen. Viele spezielle Angebote richten sich entweder an Kinder und Jugendliche, für die Berufsschülerinnen und -schüler schon zu alt sind, an Gymnasialschülerinnen und -schüler, die als künftige Studierende angeworben werden sollen, oder an bestimmte Gruppen älterer Erwachsener. Berufsschülerinnen und Berufsschüler sind zudem durch Arbeit und Unterricht in der dualen Ausbildung doppelt belastet. Gleichzeitig haben Berufsschülerinnen und -schüler aber je nach Ausbildungszweig auf der praktischen Seite große Berührungspunkte mit Technik und Wissenschaft.
Zur Umsetzung des Pilotformates arbeiteten wir mit der Heinrich-Meidinger-Schule für Sanitär- und Heizungstechnik in Karlsruhe zusammen. Die gemeinsame Ausarbeitung eines Pilotformats erfolgte mit einer Klasse während der Unterrichtszeit. Um ein interaktives Format zu gestalten, das potenziell auch die anderen Berufsschulen in Karlsruhe einbindet, wurden für das Pilotformat zwei Ideen der Berufsschüler kombiniert: Einerseits ein Quiz, das auch als Challenge zwischen verschiedenen Klassen oder Schulen gestaltet werden kann, und andererseits ein Event in Kneipenatmosphäre mit Essen oder Getränken. Heraus kam ein Science-Pub-Quiz, bei dem es für die ersten drei Plätze ein Preisgeld gab.
In den Fragerunden wurden sowohl wissenschafts- als auch handwerksbezogene Fragen sowie Fragen zum Allgemeinwissen gestellt. Teil des Programms waren zudem zwei kurze Präsentationen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, auf die thematisch anknüpfend jeweils ein Frageblock folgte.
Bei der Evaluation hat sich gezeigt, dass bei den insgesamt 80 Teilnehmenden sowohl eine hohe Zufriedenheit mit dem Format (30% sehr gut, 56% gut) als auch ein Lerneffekt festgestellt werden konnten, dabei aber ein eher bildungs- und wissenschaftsnahes Publikum (37% Abitur, 51% Studium) teilgenommen hat – trotz intensiver Werbemaßnahmen an allen Berufsschulen in Karlsruhe. Gründe für die Nicht-Teilnahme anderer Berufsschülerinnen und-schüler liegen nur als einzelne Rückmeldungen vor. So waren die in die Entwicklung eingebundenen Schülerinnen und Schüler zum Zeitpunkt des Quiz wieder in Phasen der betrieblichen Arbeit und oft auch geografisch im Umland verstreut . Andere Berufsschülerinnen und -schüler berichteten, dass sie zu dem vorher unbekannten Format keinen Bezug hatten. Hier könnten Unterrichtsbesuche und das Einbinden in den Schulalltag, etwa bei Schulfesten, mögliche Lösungen sein.
Bei der Auswahl und Gestaltung der Fragen ist es wichtig, nicht nur bildungsbürgerlich geprägtes und akademisches Wissen abzufragen, sondern auch Aspekte, zu denen die Teilnehmenden gemeinsam knobeln und überlegen können. Ebenso sollten die Frage-Typen variiert werden (Schätzfragen, Erklärungen, zeitliche Einordnungen usw.). Die Einbindung der wissenschaftlichen Kurzvorträge hat gut funktioniert – wenn sie nicht zu lang sind und ansprechend präsentiert werden, bilden sie offenbar eine gute Ergänzung. Auch die Wahl von Doktorandinnen und Doktoranden als Vortragenden hat sich bewährt. Diese konnten auch in anschließenden Gesprächen einen authentischen Einblick in ihre tägliche Arbeit in der Forschung geben und mehr Nähe zu einem jüngeren Publikum als Professorinnen oder Professoren haben.
Eine ausführlichere Beschreibung der Erfahrungen und der Evaluationsergebnisse des Science-Pub-Quiz ist hier in einem Bericht auf Zenodo zu finden.
Wissenschaftskommunikation für und mit muslimischen Jugendlichen mit Migrationshintergrund: Science- & Poetry-Slam in Berlin-Neukölln
Religionszugehörigkeit und Migrationshintergrund sind zwei in der Literatur immer wieder genannte Faktoren für Benachteiligung beziehungsweise Exklusion. So kann beispielsweise eine religiöse Weltanschauung – unabhängig von der Glaubensrichtung – den Zugang zu bestimmten wissenschaftlichen Themen, wie etwa Evolution oder Klimawandel, erschweren.
Viel bedeutender aber ist, dass insbesondere Menschen mit Migrationshintergrund, deren Herkunftsländer muslimisch geprägt sind, häufig Diskriminierungen oder rassistischen Anfeindungen ausgesetzt sind, auch im Bildungsbereich. Insgesamt fühlt sich fast jede und jeder fünfte Muslimin oder Muslim in Deutschland aufgrund von Religion oder religiöser Überzeugung diskriminiert. Diese Diskriminierungserfahrung kann dazu führen, dass sich Musliminnen und Muslime von Veranstaltungen der Wissenschaftskommunikation – die zudem oft inhaltlich und personell eurozentrisch gestaltet sind – nicht angesprochen oder sich dort nicht willkommen fühlen.
In der ersten Entwicklungsphase des Pilotformats wurden Stakeholder sowie Multiplikatorinnen und Multiplikatoren, wie muslimische Initiativen und Jugendprojekte (z. B, HEROES und i,Slam) und Vertreterinnen und Vertreter aus muslimischen Gemeinschaften, interviewt. Für die weitere partizipative Entwicklung und Umsetzung wurde der Fokus dann auf Berlin gelegt. Häufig benannte Aspekte aus den durchgeführten Fokusgruppen waren Diskriminierungserfahrungen in verschiedenen Ausprägungen, darunter insbesondere unzutreffende Fremdzuschreibungen und Stereotype, Diskriminierung im Bildungssystem und in der Wissenschaft sowie eine fehlende Sichtbarkeit von Role-Models in der Wissenschaft.
Da die beteiligten Initiativen nur begrenzt Ressourcen und Zeit für Aktivitäten neben ihrem eigentlichen Engagement hatten, erfolgte die Entwicklung eines Pilotformates durch das Projektteam selbst – auf Basis des Inputs der Fokusgruppen. Ergebnis war ein hybrides Format, das bestehende Veranstaltungselemente kombiniert: ein Science- & Poetry-Slam.
Im Rahmen des Formats traten sowohl Science- als auch Poetry-Slammerinnen und -Slammer gemeinsam auf. Die Poetry-Slammerinnen und -Slammer reflektierten in ihren Texten Bildung, Wissenschaft, gesellschaftliche Entwicklungen und Diskriminierung. Die Science-Slammerinnen und -Slammer präsentierten in Kurzvorträgen ihre konkrete Forschung oder ihr wissenschaftliches Fachgebiet und ihren Werdegang (beim Pilotformat waren Medizin, Technik und Mathematik repräsentiert). Als Vortragende in beiden Bereichen wurden Musliminnen und Muslime sowie Menschen mit Migrationshintergrund eingeladen. Die Veranstaltung fand im Jugendzentrum Manege in Berlin-Neukölln statt.
Zusammenfassend ließ sich eine sehr hohe Zufriedenheit mit dem Format (80% sehr gut) und ein Lerneffekt (64% der Befragen gaben an, dass sie etwas Neues gelernt hätten) unter den etwa 60 Personen im Publikum feststellen. Die Zielgruppe (Migrationshintergrund: 56%, 48% gaben an, sich dem Islam zugehörig zu fühlen) konnte angesprochen werden, wenn auch eine relativ große Nähe zu Wissenschaft festzustellen bleibt (40% Abitur, 24% Studium, 72% studierende Familienmitglieder).
Die Kombination aus Science-Slam und Poetry-Slam hat gut funktioniert und dem Event eine besondere Gesamtperspektive ermöglicht, in der sich sowohl wissenschaftliche Inhalte als auch persönliche Sichtweisen und künstlerische Reflexionen aus der Sicht der Zielgruppe wiederfanden. Durch den Fokus der Veranstaltung gestaltete sich die Suche nach Vortragenden noch schwieriger, als es schon bei anderen Slam-Veranstaltungen der Fall ist. Es ist daher unbedingt ratsam, eng mit Multiplikatorinnen und Multiplikatoren zusammenzuarbeiten, ausreichend Zeit einzuplanen und gegebenenfalls mit einem Vorbereitungs- oder Coaching-Workshop in Zusammenarbeit mit den Communities oder den Multiplikatorinnen und Multiplikatoren die Zugangs- und Aktivierungshürden weiter zu senken.
Eine ausführlichere Beschreibung der Erfahrungen und der Evaluationsergebnisse des Science- & Poetry-Slams ist hier in einem Bericht auf Zenodo zu finden.
Übergreifende Erfahrungen
Bei allen drei Pilotformaten war die größte Herausforderung, Kontakte zu den Akteurinnen und Akteuren zu knüpfen, Kooperationen anzubahnen und Vertrauen in der Community aufzubauen. Für andere Projekte empfiehlt es sich daher, genügend Zeit einzuplanen, sich selbst auch anderweitig in die Community einzubringen und langfristig zu denken. Einmalige Aktivitäten (wie in unserem Fall durch den explorativen Pilotcharakter bedingt) erfordern nicht nur mehr Aufwand im Vergleich zur erzielten Wirkung sondern können sogar schlechter aufgenommen werden, da sie als zeitlich begrenzter „Aktivismus“ / „Showeffekt“ ohne echtes Interesse an einer Kooperation mit der Community wahrgenommen werden können.
Ebenso gilt es zu berücksichtigen, dass auch eine angestrebte längerfristige Kooperation kein Selbstläufer ist. Die möglichen Partnerinnen und Partner aus den Communities haben selbst nur begrenzte Ressourcen, setzen bereits eigene Projekte um und sind meist hauptsächlich auf freiwilliges Engagement angewiesen. Auch in Bezug darauf gilt es, respektvoll und gemeinsam nach Formen der Zusammenarbeit und Unterstützung in beiderseitigem Interesse zu suchen.
Gastbeiträge spiegeln nicht zwangsläufig die Meinung unserer Redaktion wider.