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Kommt mal runter! Plädoyer für depolarisierende Kommunikation

Ob Genderfragen, Klimawandel, Impfen oder Gentechnik – wissenschaftliche Themen stehen im Zentrum vieler gesellschaftlicher Debatten. Dabei prallen Positionen und Meinungen aufeinander, Kompromisse erscheinen unmöglich. Lily Tonger-Erk, Isolde Sellin und Olaf Kramer machen in ihrem Gastbeitrag Vorschläge, wie wir der Polarisierungsfalle entkommen.

Im Wissenschaftsbarometer 2025 stimmten über 70 Prozent der Befragten der Aussage zu, dass Meinungen in der Gesellschaft zunehmend auseinanderdriften. Viele Menschen scheinen derzeit die Erfahrung zu machen: Oft genügt schon ein einziges Wort der Gegenseite, und die Kommunikation eskaliert – oder bricht komplett ab.

Wie also lässt sich diese wahrgenommene gesellschaftliche Polarisierung mindern – im Großen wie im Kleinen, im Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft wie in ganz alltäglichen Situationen und Begegnungen? Wie gelingt De-Polarisierung?

Polarisierung ist keine unveränderliche Größe. Sie ist kein statischer Zustand der Gesellschaft, sondern das Ergebnis eines sprachlich-rhetorischen Prozesses. Das bedeutet aber auch: Polarisierung lässt sich durch Kommunikation nicht nur vorantreiben, sondern auch mindern und verhindern. 

In polarisierten Debatten werden komplexe Sachverhalte auf simple Lösungen heruntergebrochen, sodass man am Ende nur entweder für oder gegen eine Sache sein kann, für Zwischentöne ist kein Raum. Besonders in emotional aufgeladenen Auseinandersetzungen stößt eine rein faktenbasierte Kommunikation schnell an ihre Grenzen: Wer etwa den Klimawandel leugnet, tut dies selten aus bloßer Unwissenheit, sondern häufig aus unterschiedlichen Motiven. Das können konkrete Ängste, als Zumutung wahrgenommene Forderungen nach einer Verhaltensänderung oder Identitätskonflikte sein. 

In solchen Auseinandersetzungen sollte die Wissenschaftskommunikation an ihrer sachlichen Argumentationskraft festhalten, sollte gesellschaftliche Debatten mit wissenschaftlicher Expertise auf eine solide Basis stellen. Gleichwohl braucht es in solchen Situationen aber andere Formen des Austauschs, eine Wissenschaftskommunikation, in der man die Perspektive der anderen Seite ernst nimmt, ihre Bedenken und Interessen berücksichtigt. Die folgenden acht Ansätze für eine depolarisierende (Wissenschafts-)Kommunikation verstehen wir daher als Strategien, um aus der Polarisierungsfalle zu kommen. Sie sollen Impulse geben für eine Gesprächskultur, die Brücken baut, anstatt Gräben zu vertiefen. 

1. Outgrouping und Ingrouping vermeiden

Polarisierte Debatten neigen zur Vereinfachung: Man ist entweder für das Gendern oder dagegen, befürwortet Klimaschutzmaßnahmen – oder lehnt sie ab. Solche Schwarz-Weiß-Muster überdecken nicht nur wichtige Zwischentöne, sie befeuern auch ein spaltendes Gruppendenken: Wir gegen die. Was als sachliche Auseinandersetzung beginnt, wird zu einer Identitätsfrage. Die eigene Position wird Teil der Selbstverortung – und jede abweichende Meinung wirkt wie ein Angriff auf die Person und eigene Gruppe. Die Sozialpsychologie beschreibt dieses Phänomen als „Ingrouping“ und „Outgrouping“: Die eigene Gruppe gilt als im Recht, moralisch überlegen, während die andere abgewertet, belächelt oder gar als gefährlich betrachtet wird.1

So wird aus einer Meinungsverschiedenheit ein Loyalitätskonflikt – und aus dem Austausch ein Lagerkampf. Kritik an einer Position trifft nicht mehr nur ein Argument, sondern das Selbstverständnis des Gegenübers. Das führt zu Abwehr, Reaktanz und weiterer Verhärtung.

Wer Polarisierung entgegenwirken will, muss deshalb genau diese Dynamik unterbrechen – durch den bewussten Verzicht auf „Wir“- und „Die“-Denken. Denn wie soll ein echtes Gespräch entstehen, wenn das Gegenüber nur noch als Teil der „anderen Seite“ gesehen wird?

2. Common Ground suchen

Oft scheint er verloren, und doch lohnt sich die Suche nach ihm: der Common Ground. Nach Robert Stalnaker (2002) bezeichnet er jene Annahmen, auf die sich alle Beteiligten einigen können – eine gemeinsame Ausgangsbasis.2 Und wenn es nicht mehr den großen Common Ground mit dem Gegenüber gibt, dann helfen auch viele kleinere Common Grounds, eine Verbindung mit dem Gegenüber herzustellen. 

Selbst in hitzigen Debatten lässt sich meist ein gemeinsamer Ankerpunkt finden: Das kann sowohl ein Fakt oder eine Meinung sein, auf die man sich verständigt, als auch ein geteilter Aspekt der Identität. Denn neben unserer politischen Identität haben wir viele weitere Identitäten: etwa als Eltern, als Sportbegeisterte oder als Anwält*innen für Fairness. Ezra Klein argumentiert in seinem Buch Why We’re Polarized, dass geteilte Identitätsmerkmale zwischen Menschen verbindend wirken können und dazu beitragen, Gräben zwischen Gruppen zu überbrücken.3 Eine solche Brücke schafft die Möglichkeit, trotz unterschiedlicher Ansichten konstruktiv im Gespräch zu bleiben. 

3. Perspektiven einladen, Perspektiven verstehen

Debatten zielen oft auf Überzeugung: Die andere Seite soll am Ende unsere Position übernehmen. Die Idee der Invitational Rhetoric schlägt einen anderen Weg vor. Statt missionarisch zu argumentieren, geht es darum, die eigene Perspektive ohne Überzeugungsdruck anzubieten – und die des Gegenübers anzuerkennen.4

Das Gegenüber muss nicht eines Besseren belehrt werden, es hat ein Anrecht auf seine eigenen Ansichten. Aber gerade in einem wertschätzenden Umgang sinkt der Druck, seine angestammten Meinungen verteidigen zu müssen und steigt die Möglichkeit, sich allererst mit neuen, wissenschaftlichen Erkenntnissen auseinanderzusetzen. Dafür ist es wichtig, eine Gesprächssituation zu schaffen, die auf Anerkennung, Sicherheit und Wertschätzung basiert. 

4. Triggerpunkte durchschauen

Die Soziologen Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser stellen vier „Triggerpunkte“ in ihrer gleichnamigen Analyse vor, die zu einer plötzlichen Emotionalisierung und ultimativ zum Abbruch des Gesprächs führen können: 

Ungleichbehandlungen, Normalitätsverstöße, Entgrenzungsbefürchtungen und Verhaltenszumutungen.5

Sich dieser Triggerpunkte bewusst zu sein, hilft, einer Eskalation vorzubeugen. Beispielsweise lösen vermeintliche Vorschriften zur Verhaltensänderung – sei es beim Gendern, beim Heizen oder beim Fleischessen – Widerstände aus, dagegen lassen sich gezielt die positiven Effekte oder die Freiwilligkeit von Verhaltensänderungen betonen.

5. Verstehen – Verständnis – Einverständnis unterscheiden

Kommunikation mit Gleichgesinnten ist angenehm: Sie bestätigt uns und kostet weniger Energie. Empathie gegenüber Andersdenkenden hingegen ist anstrengend – aber zentral.

Die Invitational Rhetoric schlägt vor, der Gegenseite nicht mit Konfrontation, sondern mit Fragen zu begegnen. Dylan Marron schreibt in Conversations With People Who Hate Me (2024): „Empathy is not endorsement.“6 Zuhören und Verstehen bedeuten nicht, zustimmen zu müssen.

Gerade in dieser Haltung kann sich eine neue Gesprächsebene öffnen – eine, die Austausch ermöglicht, ohne dass sofort Einverständnis hergestellt werden muss. Das Ziel ist nicht, die andere Seite zu bekehren, sondern ihre Perspektive anzuerkennen.

Veränderung kann dabei trotzdem geschehen – nicht unbedingt als Positionswechsel, wohl aber als vertieftes Verstehen der Motive, Ziele und Geschichten des Gegenübers. Und manchmal ist schon viel erreicht, wenn ein Gespräch nicht eskaliert, sondern schlicht weitergeführt werden kann.

6. Persönliche Geschichten statt Faktenkriege

So sehr in wissenschaftlichen Texten – vor allem im deutschsprachigen Raum – gerne passiv gesprochen und das „ich“ vermieden wird, so sehr nutzt gerade die persönliche Perspektive in der Kommunikation mit der Öffentlichkeit. In polarisierten Debatten geht es längst nicht mehr nur um Fakten, sondern um Emotionen, Ängste und grundlegende Werthaltungen. Wer etwa in einer Diskussion über den Klimawandel nicht mit Statistiken beginnt, sondern erzählt, was ihn oder sie persönlich motiviert, sich mit dem Thema zu beschäftigen – sei es eine Kindheitserfahrung, eine konkrete Beobachtung in der Forschung oder ein Moment des Zweifelns – öffnet eher einen Raum für echtes Zuhören. 

,Personal narratives‘ – also das Erzählen von sich selbst, vom Forschungsprozess, den eigenen Interessen, Fragen und auch Unsicherheiten – können dabei helfen, Forschung und vor allem Forscher*innen nahbar erscheinen zu lassen. Während Fakten leicht geleugnet oder ignoriert werden können, laden persönliche Erzählungen dazu ein, überhaupt – und länger – zuzuhören.

7. Medienspezifisch und adressat*innenorientiert kommunizieren

Wissenschaftskommunikation sollte sich bewusst sein, dass nicht alle Personen erreichbar sind – insbesondere „Polarisierungsunternehmer“7, die strategisch gesellschaftliche Konflikte schüren, sind selten an echten Argumenten interessiert, sondern vor allem an Aufmerksamkeit. Dennoch lohnt sich die Kommunikation, wenn sie zielgerichtet erfolgt: In sozialen Medien etwa kann es effektiver sein, nicht den lautesten Kritiker, sondern die vielen stillen Mitlesenden anzusprechen. Dagegen erlaubt ein persönliches Gespräch – etwa im Rahmen einer Fishbowl-Diskussion – ein empathisches und einladendes Eingehen auf das Gegenüber. Entscheidend ist also, sorgfältig über die Adressat*innen und das Medium nachzudenken und die Fragen zu beantworten, wen ich wirklich erreichen möchte – und wie mir das in einem spezifischen medialen Kontext gelingen kann.

8. Grenzen setzen

Alle Ansätze haben Grenzen. Wenn Meinungen beleidigen oder Hass verbreiten, ist die Gesprächsbasis zerstört. Anerkennung, Sicherheit und Wertschätzung sind Grundvoraussetzungen – werden sie verletzt, darf und muss ein Gespräch beendet werden.

In einer idealen Welt würden Fakten nicht polarisieren. In der Realität tun sie es. Wenn Polarisierung ein kommunikativer Prozess ist, dann liegt die Antwort womöglich darin, Depolarisierung ebenfalls als Aufgabe der Wissenschaftskommunikation zu verstehen. Auch wenn sich Wogen oft leichter aufpeitschen als glätten lassen. 

  1. Vgl. Hogg, Michael A. „Uncertainty-Identity Theory“. In Handbook of Theories of Social Psychology, herausgegeben von Paul A. M. van Lange, Arie W. Kruglanski, und E. Tory Higgins. Sage, 2012, Seite 67. ↩︎
  2. Vgl. Stalnaker, Robert. „Common Ground“. Linguistics and Philosophy 25, Nr. 5/6 (2002): 701–21, Seite 701. ↩︎
  3. Vgl. Klein, Ezra. Why We’re Polarized. Avid Reader Press, 2020, Seite 67f.  ↩︎
  4. Vgl. Foss, Sonja K, und Cindy L Griffin. „Beyond persuasion: A proposal for an invitational rhetoric“. Communications Monographs 62, Nr. 1 (1995): 2–18. ↩︎
  5. Vgl. Mau, Steffen, Thomas Lux, und Linus Westheuser. Triggerpunkte: Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft. Suhrkamp Verlag, 2023. ↩︎
  6. Marron, Dylan. Conversations With People Who Hate me. 12 Things I Learned from Talking to Internet Strangers. Atria, 2022, Seite 141. ↩︎
  7. Mau/Lux/Westheuser 2023, S. 375. ↩︎

Gastbeiträge spiegeln nicht zwangsläufig die Meinung unserer Redaktion wider. Die redaktionelle Verantwortung für diesen Beitrag lag bei Inga Dreyer.