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„Gesundheit ist kein Privileg, sondern ein Menschenrecht“

Wie können in der Gesundheitskommunikation Angebote für spezifische Zielgruppen konzipiert werden? Omer Idrissa Ouedraogo ist Fachreferent der Deutschen Aidshilfe im Bereich Migration und spricht im Interview über die Rolle von Partizipation in der HIV-Prävention. 

Welche Aufgaben hat der Fachbereich Migration der Deutschen Aidshilfe? 

Den Fachbereich Migration gibt es seit 2017. Es war der Deutschen Aidshilfe wichtig, eine eigene Abteilung zu initiieren, damit zielgruppenspezifische Angebote für verschiedene Gruppen von Migrant*innen entwickelt werden können. Wir arbeiten dafür mit Kooperationspartnern in verschiedenen Bundesländern und Migrant*innen-Communities zusammen. Gleichzeitig agieren wir auch auf politischer Ebene. Wir sprechen mit Politiker*innen, um die Bedarfe und Bedürfnisse der verschiedenen Zielgruppen zu kommunizieren. 

Omer Idrissa Ouedraogo ist Fachreferent für Migration der Deutschen Aidshilfe. Der Sozialarbeiter und Psychologe hat als Sozialpädagoge bei der Aids-Hilfe in Hamburg gearbeitet und die Fallstudie PaKoMi (Partizipation und Kooperation in der HIV-Primärprävention) in Hamburg als Koordinator begleitet. Ursprünglich stammt er aus Burkina Faso und lebt seit 2007 in Deutschland. Er ist Vorstandsvorsitzender von Abed e.V., einem Hilfsverein für Kinder und Jugendliche, und Mitgründer des afrikanischen Gesundheits- und HIV-Netzwerks in Deutschland (AGHNiD). Foto: privat

Warum ist es wichtig, zielgruppenspezifische Angebote für Migrant*innen zu schaffen? 

Statistisch gesehen betrifft in Deutschland circa jede dritte HIV-Neudiagnose eine Person, die zugewandert ist. Das zeigt also, dass es Angebote und Maßnahmen braucht. Es geht dabei in erster Linie darum, Ungleichheiten abzubauen und Zugang zu Informationen, zu Prävention, zu Beratung und Versorgung zu schaffen. Die Gruppe der Migrant*innen ist sehr heterogen. Es gibt queere Menschen, Geflüchtete, Leute, die zum Beispiel Arabisch, Englisch oder Französisch sprechen. Eine unserer Zielgruppen sind Männer, die Sex mit Männern haben. Eine andere Zielgruppe sind Menschen, die Drogen gebrauchen. 

Eine bisher vernachlässigte Gruppe in der HIV-Prävention in Deutschland sind Menschen ohne gültige Aufenthaltspapiere  und Krankenversicherung. Diese Gruppe wird vom Gesundheitssystem de facto ausgeschlossen. Denn viele haben Angst, sich testen zu lassen, weil sie keinen Aufenthaltsstatus haben. Sie fürchten zum Beispiel, abgeschoben zu werden. Denn ohne Krankenversicherung oder gültige Aufenthaltspapiere ist eine Antiretrovirale Therapie nicht möglich. Für diese Menschen müssen Wege zu Testangeboten und Kampagnen, sowie Infomaterial und Schlüsselstellen für Behandlung und Betreuung gefunden werden.

Wir denken, die Zeit ist reif, dass Menschen ohne gültigen Aufenthaltstitel keine Angst mehr haben sollten, Angebote der Gesundheitsversorgung zu nutzen. Wir setzen uns politisch dafür ein, dass es eine Gesundheitsversorgung gibt, die nicht abhängig vom Aufenthaltstitel oder dem Geburtstort ist. Gesundheit ist kein Privileg, sondern ein Menschenrecht. 

Welche Hürden gibt es für Ihre Zielgruppen, an Informationen zu kommen? 

„Es ist wichtig, dass man die Menschen kennenlernt und von Anfang an partizipativ Angebote entwickelt.“ Omer Idrissa Ouedraogo
Die Hürden sind sehr unterschiedlich. Wenn man die Sprache nicht kennt, kann das ein Hindernis sein. Schwierigkeiten können aber auch kulturell oder religiös bedingt sein. Wir müssen sensibel agieren und genau gucken, welche Zielgruppe welche Bedürfnisse hat. Die Deutsche Aidshilfe hat im Laufe der Zeit gelernt, dass es Sinn macht, afrikanische Migrant*innen anzusprechen, indem wir mit Schlüsselpersonen der religiösen Gemeinschaften und Kirchen zusammenarbeiten. Deshalb haben wir partizipative Angebote mit afrikanische Pastor*innen initiiert. 2015 wurde das Projekt „Deine Gesundheit, Dein Glaube – HIV-Prävention in afrikanischen Kirchengemeinden“ ins Leben gerufen. Sprache ist ein Thema, aber es geht um mehr. Es ist wichtig, dass man die Menschen kennenlernt und von Anfang an partizipativ Angebote entwickelt. 

Wie entwickeln Sie zielgruppenspezifische Angebote?

Die Methoden sind sehr verschieden. Als Dachverband versuchen wir im Fachbereich Migration Konzepte in unterschiedlichen Sprachen zu entwickeln, die die lokalen Aidshilfen vor Ort in ihrer Präventionsarbeit umsetzen können. Es sollte immer Teil der HIV-Prävention sein, dass Mitarbeiter*innen die Menschen vor Ort aufsuchen, um Präventionsangebote anzubieten. Positive Ergebnisse haben wir erzielt, indem wir mit Menschen aus den verschiedenen Communities zusammengearbeitet haben, die dann als Gesundheitsbotschafter*innen oder Mediator*innen Peer-to-Peer-Arbeit leisten. 

Wir arbeiten auch partizipativ mit Menschen zusammen, die mit HIV leben. Es gibt zum Beispiel die Kampagne „selbstverständlich positiv“ von Menschen mit HIV für Menschen mit HIV.  Hör zu! Selbstverständlich positiv“ ist ein Podcast für ein aktives, offenes und selbstbewusstes Leben mit HIV. Die Gäst*innen der Podcasts erzählen persönliche Geschichten über Erfolge aber auch Rückschritte und deren Bewältigung. Der Podcast, der sich an erster Stelle an Menschen mit HIV richtet, möchte hier Ratgeber sein, unterstützen und auf dem Weg zur Selbstverständlichkeit stärken. 

„Von Anfang an haben wir uns mit den Schlüsselpersonen aus den Communities auseinandergesetzt und gemeinsam Fragen und Methoden entwickelt.“ Omer Idrissa Ouedraogo
Wir unterstützen auch Selbstorganisationen der Communities, die eigene Angebote schaffen, zum Beispiel das Netzwerk AfroLebenPlus. Das ist ein Zusammenschluss von HIV-positiven Migrant*innen. AfroLeben Plus wurde 2001 gegründet und ist ein bundesweiter Zusammenschluss von HIV-positiven Migrant*innen, der strukturell von der Deutschen Aidhilfe unterstützt wird. Die Mitglieder kommen aus verschiedenen Ländern der Welt. AfrolebenPlus verfogt unter anderem folgenden Ziele: niederschwellige HIV-Prävention in Migrant*innen-Communities, Förderung der Solidarität mit HIV-positiven Menschen und die Förderung der Inklusion von Geflüchteten und Migrant*innen in Deutschland. Sie sind als Multiplikator*innen in ihren Communities aktiv, leisten Präventionsarbeit, engagieren sich politisch und versuchen, die Lebenssituation HIV-positiver Migrant*innen zu verbessern.

Warum denken Sie, ist partizipative Beteiligung wichtig?

Ich bin ein Fan von Partizipation. Wir haben zum Beispiel das Projekt PaKoMi entwickelt, kurz für „Partizipation und Kooperation in der HIV-Prävention mit Migrantinnen und Migranten“ und in verschiedenen Städten partizipative Fallstudien durchgeführt. Ich habe in Hamburg mitgewirkt, wo es darum ging: Wie kann man französischsprachige Afrikaner*innen besser erreichen? Von Anfang an haben wir uns mit den Schlüsselpersonen aus den Communities auseinandergesetzt und gemeinsam Fragen und Methoden entwickelt. Dabei haben wir identifiziert: Wer bringt welche Kompetenz mit? Denn jeder Mensch ist Expert*in für irgendwas.

Dann haben wir die Befragung innerhalb der Community durchgeführt und auch gemeinsam ausgewertet. Die Ergebnisse der Begleitstudien haben gezeigt: Wenn die Menschen von Anfang an involviert sind und eigene Ideen und Wünsche einbringen, kann man herausfinden, was sie wirklich brauchen. Durch aktive Beteiligung von Menschen mit einer Migrationsbiografie kann die Primärprävention deutschlandweit die Zielgruppen erreichen. Gezielt muss es auch um Menschen ohne gültige Aufenthaltspapiere oder/und ohne Krankenversicherung gehen.

Welche Rolle spielen Vorurteile und Diskriminierung bei der Präventionsarbeit mit Migrant*innen?  

„Menschen, die Ausgrenzung und Ablehnung erfahren, brauchen Empowerment.“ Omer Idrissa Ouedraogo
Es ist die traurige Realität, dass man als Migrant*in in Deutschland Diskriminierungen und Rassismus erlebt. Wenn man außerdem HIV-positiv ist, kann es dazu führen, dass man auch innerhalb der eigenen Community ausgegrenzt wird. Das bedeutet, dass man mehrfach diskriminiert wird. Menschen, die Ausgrenzung und Ablehnung erfahren, brauchen Empowerment. Deshalb leisten wir antirassistische Arbeit und unterstützen Gruppen und Initiativen, damit sie gegensteuern können. Menschen mit HIV sind Teil der Gesellschaft. Mit dem Virus kann man gut leben, es ist eine gut therapiebare Infektion. Ablehnung und fehlendes Wissen aber können gefährlich werden, wenn es dazu führt, dass sich Menschen nicht testen lassen, das Virus weitergeben und nicht behandelt werden.

Migrant*innen erleben Alltagsrassimus, aber auch strukturellen Rassismus. Viele von uns haben keine Chance, bessere Stellen zu besetzen und auf gleicher Stufe in der Hierarchie zu arbeiten wie Menschen ohne Migrationshintergrund. Ein Problem ist, dass Schulabschlüsse oft nicht anerkannt werden. Durch die Polizei werden einige Menschen aufgrund der Herkunft, der Ethnie bzw. der Hautfarbe ständig kontrolliert. Auch im Gesundheitswesen erfahren BPoC (Black und People of Color) Rassismus und Diskriminierung. Gerade im Gesundheitswesen ist das absolut unerträglich, denn dort treffen wir auf Menschen in besonders vulnerablen Lebenssituationen.

Was bedeutet das für partizipative Forschungsprojekte und die Institutionen dahinter? 

„Die Covid-Pandemie hat dazu geführt, dass die HIV-Prävention in Vergessenheit geraten ist.“ Omer Idrissa Ouedraogo
Projektbezogene Arbeit für sechs Monate oder ein Jahr reicht nicht. Es braucht langfristige Anstellungen für Menschen mit Migrationshintergrund. Viele haben Familien und Kinder und sie müssen auch von seiner Arbeit leben können. Am Anfang haben wir das bei PaKoMi als Problem kritisiert. Die Deutsche Aidshilfe hat die Mitgliedsorganisation dann motiviert, Menschen mit Migrantionsgeschichte die Chance zu geben, angestellt zu werden. Es sollte generell in Stellenausschreibungen die Möglichkeit betont werden, dass sich dort Menschen mit Migrationshintergrund bewerben können. Denn sie bringen viele Kompetenzen mit, sprechen unterschiedliche Sprachen und können verschiedene Zielgruppen erreichen. Es geht darum, Macht abzugeben und Strukturen zu öffnen. Inzwischen haben viele Aidshilfen Migrant*innen angestellt. Das ist etwas, was wir begrüßen. Partizipative Projekte und Forschungen werden gemeinsam mit der Zielgruppe der Migrant*innen umgesetzt. 

Wie läuft HIV-Präventionsarbeit in Zeiten von Corona?

Die vergangenen zwei Jahre haben uns gezeigt, dass nichts vorhersehbar oder selbstverständlich ist.  Die Gesundheitskrise hat die Fortschritte und jungen Siege im Kampf gegen HIV direkt getroffen. 

Wir spüren, dass bei unserer Arbeit weniger finanzielle Mittel zur Verfügung stehen. Die Covid-Pandemie hat dazu geführt, dass die HIV-Prävention in Vergessenheit geraten ist. Das ist ein Problem, denn HIV ist nach wie vor da. In Frankreich läuft gerade die Kampagne „l’épidémie n’est pas finie“, „die Epidemie ist noch nicht vorbei“. Wir als Aktivist*innen im HIV-Bereich sagen, dass wir die Aufklärung nicht vernachlässigen dürfen. Wir befürchten, dass zum Beispiel die Nutzung von PrEP zurückgeht, der „Prä-Expositions-Prophylaxe“, bei der Menschen ein Medikament einnehmen, um sich vor einer möglichen Infektion zu schützen. Wir haben auch die Sorge, dass Menschen sich weniger testen lassen. Das heißt: Man muss parallel etwas gegen Corona und HIV tun.

Die Aidshilfen haben viel Erfahrung in der Gesundheitskommunikation. Lässt sich daraus etwas mitnehmen für den Umgang mit der Corona-Pandemie? 

Klar. Die Aidshilfen sind aus einer Bürger*innen- und Menschenrechtsbewegung heraus entstanden und haben professionelle Präventionsarbeit etabliert. Daraus lässt sich auch für die Covid-19-Prävention lernen. Durch ihre Erfahrungen sind die Aidshilfen in der Lage, parallel Maßnahmen der Präventionsarbeit zu unternehmen. Es gibt Angebote zum Thema HIV-Prävention und auch zu Covid-19. Es wurden Informationsmaterialen entwickelt, um verschiedenen Zielgruppen zu erreichen. 

Im Fokus unserer Migrationsarbeit im Jahr 2021 standen zum Beispiel weiterhin die Umstellung der Fortbildungen auf digitale Formate, so haben wir von Januar bis April sieben Fortbildungen online anbieten könnten. Themen wie Hepatitis B und Covid-19 wurden in Präventionsveranstaltungen in afrikanischen Kirchengemeinden aufgenommen.  Auch Präventionsangebote für queere Geflüchtete wurden weiterentwickelt. Darüber hinaus wurden die Fortbildungen zu Diversity um die Module Intersektionalität & Praxisreflektion sowie rassismuskritische Sozialarbeit erweitert. Die Fortbildungen zu „Migration, Flucht und Trauma“ wurden inhaltlich erneuert und mit verschiedenen Schwerpunkten angeboten.

Gesundheitskommunikation lässt sich in verschieden Formen umsetzen, wenn alle Beteiligten involviert werden. Der partizipative und integrative Dialog bleiben unumgänglich zum Erfolg der Präventionsarbeit in Gesundheitsbereich.