Maren Urner bei der Jahreskonferenz von Netzwerk Recherche. Foto: Nick Jaussi

„Die Krise ist sehr viel akuter, als wir sie journalistisch abbilden“

Wie erreichen Journalist*innen ihre Leser*innen mit Fakten und Geschichten rund um den Klimawandel? Was muss sich in der Medienbranche ändern, damit Klima-Berichterstattung einen angemessenen Platz bekommt? Bei der Jahrestagung von Netzwerk Recherche spielten solche Fragen eine zentrale Rolle. 

Maren Urner stellt dem Journalismus ein schlechtes Zeugnis aus. „Durchgefallen“ lautet das Fazit der Neurowissenschaftlerin in ihrer Keynote bei der Jahreskonferenz von Netzwerk Recherche, einem Verein von Journalist*innen zur Stärkung von Recherche und Qualitätsjournalismus. Bei der diesjährigen Konferenz am 30. September und 1. Oktober beim NDR in Hamburg widmete sich erstmals eine ganze Themenreihe verschiedenen Aspekten des Klimajournalismus. Auch bei der Keynote von Maren Urner steht das Thema im Zentrum. Ziele des Journalismus seien unter anderem zu „sagen, was ist“ und „Relevantes abzubilden.“ Aber passiert das wirklich? 

„Wir haben sechs von neun planetaren Grenzen überschritten“, sagt die Neurowissenschaftlerin und Professorin für Medienpsychologie an der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft in Köln. 2016 war sie Mitgründerin von Perspective Daily, einem Online-Magazin für konstruktiven Journalismus. „Was kann es eigentlich Relevanteres geben, als das Überleben – oder das gute Leben – der Menschen auf unserem Planeten?“, fragt Urner. Im Journalismus aber werde die aktuelle Lage nicht angemessen abgebildet. 

Die Neurowissenschaftlerin spricht von einem Zustand „globaler Hilflosigkeit.“
Dass Menschen negative Informationen ausblenden, habe auch mit bestimmten Funktionsweisen unseres menschlichen „Steinzeitgehirns“ zu tun. Ein Problem sei, dass Menschen sich allzu schnell in einen Zustand von erlernter Hilflosigkeit begäben. „Das passiert, wenn man einem Menschen sagt: Du kannst nichts tun“, sagt Urner. Wir machen es uns in der eigenen Ohnmacht gemütlich – was nicht nur auf individueller Ebene Folgen habe. Die Neurowissenschaftlerin spricht von einem Zustand „globaler Hilflosigkeit.“

Dass sich Verhaltensweisen neurowissenschaftlich erklären lassen, heißt jedoch nicht, dass Maren Urner den Journalismus aus seiner Verantwortung entlässt. Sie fordert, tradierte Narrative zu hinterfragen und zu überlegen, welche Fragen wirklich relevant sind. Ist Geld wirklich die wichtigste Währung der Welt? Tatsächlich seien es Kalorien, sagt die Neurowissenschaftlerin. Um uns zu ernähren brauche es Wasser und gesunde Böden – Themen, die klassischer Weise in Umwelt-Ressorts angesiedelt sind. Aber was bedeute eigentlich „Umweltschutz“, fragt Maren Urner, „Schützen wir die Umwelt oder schützen wir uns?“

Einblicke in die Sneaker-Jagd 

Wer morgens aus der Tür tritt und merkt, wie heiß es ist, lese eher einen Text zu Hitze.
Diskussionen um die Relevanz und Platzierung von Themen, die Suche nach angemessen Begriffen und die Frage, wie Leser*innen mit Klimathemen erreicht werden können, zieht sich wie ein roter Faden durch die zwei Tage. Journalist*innen und Vertreter*innen von Nichtregierungsorganisationen geben Tipps zur Recherche und Themenfindung. Investigativreporter Christian Salewski von der Rechercheplattform Flip gibt Einblicke in die „Sneakerjagd“. Bei dem Projekt haben Journalist*innen über GPS-Tracker Sneaker verfolgt, nachdem deren Besitzer*innen sie an vermeintlichen Recycling-Stellen abgegeben hatten. 

Indem die Tracker in Schuhen von Prominenten wie Carolin Kebekus, Kevin Kühnert und Fynn Kliemann zu platzieren, sollte ein möglichst breites Publikum erreicht werden. Letztendlich sei der Promi-Faktor jedoch nicht ausschlaggebend für die große Reichweite des Projekts gewesen, sagt Christian Salewski. 

Das Lokale als Schlüssel 

Als Schlüssel, um Menschen mit Nachhaltigkeits-, Umwelt- und Klimathemen zu erreichen, wird bei der Konferenz immer wieder räumliche Nähe genannt. „Wir merken bei der taz, dass Klimathemen mit lokalem Aufhänger mehr Leser*innen finden“, sagt Luise Strothmann von der Tageszeitung, die eine Runde zu lokaler Investigativrecherche moderiert. Mit dabei ist Gesa Steeger von Correctiv. Das Recherchezentrum stellt einem Netzwerk für Lokaljournalist*innen Recherchematerial für Themen zu Verfügung, die sowohl lokal wie auch national von Bedeutung sind – beispielsweise zum Thema Wasser.

Wie Klimawandel in der lokalen Berichterstattung an Bedeutung gewinnt, erzählt Aline Pabst von der Saarbrücker Zeitung. Mitte September wurde sie beim K3-Kongress in Zürich mit einem Preis für Klimakommunikation in der Kategorie „Journalismus“ ausgezeichnet. Die Redakteurin hat bei ihrer Zeitung eine wöchentlich erscheinende Schwerpunktseite zum Thema „Klima & Umwelt“ ins Leben gerufen. Ob Verkehr, Heizen oder Ernährung: Klimathemen fänden sich überall, sagt Pabst. Ob das auch die Leser*innen so sehen? „Was interessiert mich der Klimawandel, ich lebe im Saarland“, habe ihr mal jemand geschrieben. Allerdings scheint das ein Großteil der Leser*innen anders zu sehen, wie eine Umfrage nach Einführung der Themenseite gezeigt habe. Demnach sind rund 50 Prozent mit der Berichterstattung zufrieden, mehr als 30 Prozent wünschen sich sogar noch mehr Inhalte zum Thema.

Entscheidender Faktor: das Timing

Um Leser*innen zu erreichen, sei das Timing entscheidend, sagt Pabsts Kollege Simon Koenigsdorff von der Stuttgarter Zeitung. Journalistische Berichterstattung sei für Menschen besonders dann interessant, wenn sie Bezug zu ihren Beobachtungen und Empfindungen habe. Wer morgens aus der Tür tritt und merkt, wie heiß es ist, lese eher einen Text zu Hitze.

„Wir müssen irgendwie zeigen, welche Auswirkungen die Politik von heute hat.” Sören Müller-Hansen
Koenigsdorff stellt bei der Konferenz die „Klimazentrale Stuttgart“ vor, ein Projekt zur Frage „Ist das Wetter noch normal?“. Für Stuttgart und die Region zwischen Heilbronn, Nordschwarzwald und Schwäbischer Alb können sich Leser*innen vergleichende Wetterdaten des Deutschen Wetterdienstes und anderer Wetterstationen anzeigen lassen. So lässt sich beispielsweise einordnen, ob an einem Frühlingstag 35 Grad noch „normal“ sind. 

Über ein spürbares Phänomen wie das Wetter lasse sich eine Brücke zu Klimathemen schlagen, sagt Sören Müller-Hansen von der Süddeutschen Zeitung bei einem Podium zum Thema „Klimadaten kommunizieren“. Wie Simon Koenigsdorff unterstreicht er, dass Themen mehr Beachtung finden, wenn sich Anknüpfungspunkte zur Lebensrealität der Leser*innen finden. „Die Weltklimakonferenz ist leider immer November“, sagt er und vermutet, dass sie im Sommer wahrscheinlich mehr Beachtung finden würde. 

Klimadaten visualisieren

Müller-Hansen und seine Kolleg*innen auf dem Podium sind sich einig: Dass es die Klimakrise gibt, hätten die meisten Menschen verstanden. Teilweise müsse man aber erklären, wie ernsthaft das Problem ist, sagt Elena Erdmann, Wissenschafts- und Datenjournalistin bei ZEIT ONLINE. Viele Menschen hätten sich Scheuklappen zugelegt, sagt die Wissenschaftsjournalistin Andrea Wille, Redakteurin bei Quarks (WDR). Die Kunst sei, sie trotzdem zu erreichen. Früher habe es oft geheißen: „Ihr betreibt Panikmache.“ Ihrem Empfinden nach habe sich das im Verlauf des letzten Jahres verändert – hin zu einem Gefühl von „Jetzt kann man eh nichts mehr machen.“

Ist die Visualisierung von Klimadaten ein erfolgversprechendes Mittel, um Fakten begreifbar zu machen? In der Corona-Krise funktionierte das gut. Doch beim Klimawandel sei das schwieriger. Ein Grund dafür sei, dass beispielsweise zu Treibhausgasemissionen zu wenig Daten zu Verfügung stünden, sagt Elena Erdmann. „Das Problem liegt nicht in der Darstellung, sondern in der Erhebung.“ 

Eine andere Schwierigkeit sei der hohe Erklärungsbedarf. CO2-Budget, Klimaneutralität oder Netto-Null: Man könne nicht davon ausgehen, dass das jede*r verstehe, sagt Andrea Wille. 

„Wo sind die Datenprojekte, die sagen, wie es weitergeht?“. Andrea Wille
Eine weitere Herausforderung: Zahlen zum Klimawandel veränderten sich nicht so schnell, sagt Steffen Kühne vom Bayrischen Rundfunk, der die Diskussion moderiert. Bei den Corona-Inzidenzen sähe man beispielsweise sehr anschaulich, dass die Kurve runtergeht, wenn Menschen im Lockdown zu Hause bleiben. Beim Klima ist das anders. „Entscheidend sind die großen politischen Schrauben. Als einzelner User kannst du nicht viel machen“, sagt Andrea Wille. 

Reicht es aus, Daten zum Status Quo aufzubereiten? „Wo sind die Datenprojekte, die sagen, wie es weitergeht?“, fragt Wille. Zwar gäbe es bereits konstruktive Ansätze, es brauche aber mehr davon. Einen Blick in die Zukunft wirft beispielsweise der Climate Action Tracker vom SZ-Klimamonitor. Er zeigt, welche Länder nach aktuellen Berechnungen mit ihrem Regierungshandeln das 1,5-Grad-Ziel erreichen würden. Die Antwort lautet aktuell: keines. Bei acht Ländern werden die Bemühungen immerhin als „fast ausreichend“ bewertet. 

Es sei wichtig, keine Prognosen abzugeben, sondern von Szenarien zu sprechen und die damit verbundenen Unsicherheiten zu kommunizieren, sagt Sören Müller-Hansen. „Denn am Ende können wir nicht sagen, was passiert. Aber wir müssen irgendwie zeigen, welche Auswirkungen die Politik von heute hat.“

Wenn Journalist*innen über Klimawandel schreiben, kann es passieren, dass ihnen Aktivismus vorgeworfen wird. Auch das ist Thema eines Podiumsgespräches bei der Konferenz. „Ich würde es Klimarealismus nennen statt Aktivismus“, sagt dazu Bernd Ulrich von der ZEIT. Sara Schurmann vom Netzwerk Klimajournalismus Deutschland erzählt von Fortbildungen, die sie Journalist*innen zum Thema Klimawandel anbietet. Wenn alle Teilnehmenden am Ende die Dramatik der aktuellen Situation begriffen hätten, spiele der Aktivismusvorwurf keine Rolle mehr.

So könne man vermitteln: „Wir haben den Notfall erkannt und wollen nun Teil der Lösung sein.“ Maren Urner
Dass bei der Konferenz ein Raum für Klimajournalismus geblockt ist, sei ein Erfolg. Allerdings reiche das nicht, sagt Schurmann. Im nächsten Jahr müsse das Thema auf der Hauptbühne verhandelt werden. 

So lange aber dauert es nicht. Am nächsten Vormittag bei einem Panel zu „Journalismus in Krisenzeiten“ bittet Maren Urner zur Überraschung der Moderatorin, der anderen Podiumsteilnehmer*innen und des Publikums Sara Schurmann auf die Bühne, die erklärt: „Ich kann nicht warten, bis ich nächstes Jahr freundlich auf die Hauptbühne gebeten werde.“ Der Klimajournalismus kapert spontan das Podium, was Moderatorin Christina Elmer von der TU Dortmund, Stern-Chefredakteur Gregor Peter Schmitz, MDR-Programmdirektor Klaus Brinkbäumer und Hannah Suppa, Chefredakteurin der Leipziger Volkszeitung, begrüßen. 

„Die Krise ist sehr viel akuter, als wir sie journalistisch abbilden“, sagt Sara Schurmann. Das liege aber nicht an einzelnen Journalist*innen. „Das ist ein strukturelles Problem, weil das lange ein Fachjournalisten-Thema war.“ Dass das inzwischen nicht mehr so ist, zeigen Berichte aus den verschiedenen Redaktionen. Beim MDR gäbe es Fortbildungen, Netzwerkbildungen, Programmschwerpunkte zum Thema, sagt Klaus Brinkbäumer. Das spiegele sich auch in fiktionalen Formaten, in denen Klimawandel bisher keinen Platz fand, wie die neue Krimiserie „Lauchhammer“ zeige, die in einem Braunkohlerevier spiele und die Veränderung der Region in den Blick nehme. 

Aus dem Publikum kommt die Frage, welche Begriffe der Journalismus verwenden solle. Maren Urner schlägt vor, von einem „Klimanotfall“ zu sprechen. Das habe eine gewisse Dringlichkeit, aber suggeriere noch keine Panik. So könne man vermitteln: „Wir haben den Notfall erkannt und wollen nun Teil der Lösung sein.“