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Wissenschaft mit Kopf, Herz und Hand

Marcel Tanner ist seit Mai Präsident der Akademien der Wissenschaften Schweiz und will dort vor allem den Dialog zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und Politik fördern. Warum sich dafür die Wissenschaftskultur ändern muss, Emotionalität eine große Rolle spielt und was sich dabei von der Corona-Debatte lernen lässt, erzählt er im Interview.

Herr Tanner, bei der ScienceComm Tagung heute in Solothurn leiten Sie eine Diskussionsrunde zur Frage „Wie emotional ist Wissenschaft?“. Wie würden Sie diese Frage für sich beantworten?

Wissenschaft muss immer emotional sein. Es ist sehr wichtig, dass wir Wissenschaft mit Kopf, Herz und Hand betreiben, und zwar auf drei Ebenen: Das, was mich selbst in der Wissenschaft immer getragen hat, ist die Freude am Entdecken. Da ist viel Passion dabei. Das Zweite ist die Freude am Teilen, also am Mitteilen und Unterrichten. Auch das erfordert viel Enthusiasmus. Und das Dritte ist die Freude an der praktischen Umsetzung von Erkenntnissen. Da kommt es natürlich auch auf den Forschungsbereich an, inwiefern das geht. In meinen Jahren am Schweizerischen Tropen – und Public-Health-Institut etwa haben wir nicht nur Wissen produziert und publiziert, sondern auch umgesetzt, also viel mit den betroffenen Menschen gearbeitet, die von Gesundheitsproblemen  betroffen waren.

Die Wissenschaft gilt als rationales System. Wie passt das zusammen mit diesem Ideal einer leidenschaftlichen Wissenschaft?

Marcel Tanner ist Präsident der Akademien der Wissenschaften Schweiz und emeritierter Professor für Epidemiologie und medizinische Parasitologie der Universität Basel. Er leitet die Gruppe Public Health und ist im Beratungsgremium der Swiss National COVID19 Science Task Force. Foto: Joachim Pelikan

Es kommt darauf an, welche Passion verfolgt wird. Wenn man als Forscher oder Forscherin nur darauf aus ist, seine Meinung kundzutun, wird das in der Öffentlichkeit wahrscheinlich schlecht aufgenommen. Was aber gut ankommt, ist, wenn man mit Emotion an seine Forschungsfragen herangeht. Das heißt nicht, dass man wissenschaftliche Prinzipien vergisst. Man arbeitet natürlich danach, zeigt aber der Öffentlichkeit, dass und warum man viel Freude daran hat. Das ist eine gute Voraussetzung für die Wissenschaftskommunikation. Die Öffentlichkeit sieht Forschende positiver, die mit einem gewissen Enthusiasmus ein Virus erklären. Es gibt aber auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die glauben, sie würden besser gehört, wenn sie völlig kalt und rational über ihre Arbeit berichten. Damit würden sie sich den Expertenstatus sichern. Dem widerspreche ich. Wir Forschenden haben das Privileg, Wissenschaft betreiben zu können, und wir sollten ausstrahlen, dass wir das gerne tun. Schwierig sind allerdings auch Forschende, die zu Aktivistinnen und Aktivisten werden und die Wissenschaft dafür nutzen, andere und vor allem eigene Ziele zu verfolgen.

Welche Rollen nehmen Forschende aus Ihrer Sicht in der Debatte um die Corona-Pandemie ein?

Da gibt es das ganze Spektrum. Es äußern sich viele Forschende und die meisten sicher auch wissenschaftlich richtig. Aber die wenigsten von ihnen – gerade hier in Europa – haben je eine Epidemie erlebt. Sie haben nie in einer Situation gearbeitet, in der ihr Wort die Gesundheit vieler Menschen, sogar die ganze Gesellschaft beeinflussen kann. So wird das Virus erst einmal als riesiges Problem, aber losgelöst von seinem Umfeld betrachtet. Sicher ist es spannend, sich rein forschend mit Corona zu beschäftigen. Aber das führt zu einem Bild von Wissenschaft, die relativ losgelöst von der Gesellschaft agiert. Für die Wissenschaft wäre es aber gut, mehr Staub an den Schuhen zu haben. Mir hat die jahrelange Feldarbeit in vielen Ländern Afrikas oder die Ebolabekämpfung zum Beispiel einen sehr viel breiteren Kontext für meine Arbeit gegeben. Eine Epidemie besteht dann nicht nur aus Kranken- und Reproduktionszahlen, sondern aus vielen Möglichkeiten der Zusammenarbeit in einem betroffenen Gebiet. Das hypothesengetriebene Arbeiten bleibt natürlich als Methode. Trotzdem wird dieses direkte Erleben der Pandemie jetzt hoffentlich einen großen Einfluss auf die Verbindung der Forschung zur Öffentlichkeit haben.

Wie sollte sich das im Idealfall weiter entwickeln?

„Als Forschende sind wir ein Teil der Gesellschaft, der zur Lösung von Problemen beiträgt.“ Marcel Tanner
Ich wünsche mir, dass die Forschenden bescheiden bleiben und nicht nur sagen, was sie wissen, sondern auch, was sie nicht wissen. Man sollte sich auch bewusst sein, dass man nicht der alleinige Experte oder die Expertin für ein Thema ist, weil jeder Mensch einen Erfahrungshintergrund mitbringt. Das Prinzip sollte sein, miteinander zu lernen. Als Forschende sind wir ein Teil der Gesellschaft, der zur Lösung von Problemen beiträgt. Dafür braucht es auch Task-Forces, in denen Menschen aus vielen Bereichen zusammenkommen, neben Virologie und Epidemiologie beispielsweise auch die Ökonomie, Soziologie und viele weitere.

Gerade in der Corona-Debatte in den Medien ging es manchmal zwischen verschiedenen wissenschaftlichen Persönlichkeiten hin und her. Wie bewerten Sie diese Personalisierung in der Kommunikation zu Corona?

Das ist ziemlich dumm. Es sind ja keine Glaubensgemeinschaften, die sich da treffen. Historisch haben solche Gefolgschaftssituationen viel Unheil über unsere Gesellschaft gebracht. Aber bei der Wissenschaft geht es ja nicht um Glauben, sondern darum, dass man differenziert zuhören und abwägen kann. Und das Wichtige ist, den Leuten auch zu vermitteln, dass sie selbst das Hirn einschalten müssen und offen zuhören. Wenn man also zum Beispiel in den Dialog mit den skeptischen Gruppen tritt, die gerade die Demokratie in Gefahr sehen, sollte man sie auch in die Pflicht nehmen, die wissenschaftlichen Publikationen selbst zu studieren, um dann darüber mit ihnen in eine tiefere Auseinandersetzung zu gehen.

Sie sind seit Mai Präsident der Akademien der Wissenschaft Schweiz und sehen deren Rolle „im Dialog zwischen Wissenschaft, Politik und Gesellschaft“. Was möchten Sie in Ihrer Amtszeit konkret erreichen?

„Es ist wichtig, dass sich die Wissenschaftskultur verändert, um diesen Dialog in den Vordergrund zu rücken.“ Marcel Taner
Es ist wichtig, dass sich die Wissenschaftskultur verändert, um diesen Dialog in den Vordergrund zu rücken. Das heißt, dass man nicht Einzelleistungen lobt, sondern Gemeinschaftsleistungen in den Vordergrund stellt. Dass man nicht nur Metriken wie Impactfaktoren und H-Indizes heranzieht. Die taugen nur zur Selbstglorifizierungen und regen nicht zum Zusammenarbeiten an. Auch der Politikdialog ist ein wichtiges Feld. Da wollen wir deutlich machen, dass wir zwar wissenschaftliche Statements zu politisch relevanten Themen abgeben, aber keine politischen Vorgaben machen. Auch die Veröffentlichungen, die wir selbst als Akademien machen, zeigen lediglich Handlungsoptionen auf, die sich aus der wissenschaftlichen Analyse ergeben. Es soll eine gute Übertragung der wissenschaftlichen Evidenz in den politischen Dialog stattfinden.

Wir politisch darf Wissenschaft sein?

Überhaupt nicht. Dann werden wir unglaubwürdig. Wenn sich Forschende politisch äußern, dann sollten sie das unbedingt nur als Privatperson tun.

Was wünschen Sie sich von der Politik?

Ich wünsche mir mehr Kooperation. Gerade in Bezug auf die Corona-Lage müssen wir unbedingt alle zusammenarbeiten. Viele Menschen schauen mehr in den Spiegel, als dass sie zum Fenster hinausschauen. Aber genau das wünsche ich mir von den Politikern. Da draußen sind nicht nur die Wissenschaften, sondern auch die Bevölkerung, und wir müssen alle gemeinsam ins Gespräch kommen.

Welche Rolle können Wissenschaftskommunikation und Journalismus dabei spielen?

„Im Idealfall stehen wir als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in der Mitte der Gesellschaft und führen dort den Dialog über unsere Arbeit.“ Marcel Tanner
Sie können diese Idee des Dialogs aufnehmen und daran mitwirken. Die Wissenschaftskommunikation kann die Forschenden dabei unterstützen, diese Kooperation mit Freude, Bescheidenheit und Bodenständigkeit einzugehen und nicht als abgehobenen akademischen Diskurs.

Wie sollten Debatten um Wissenschaft in der Öffentlichkeit in der Zukunft aussehen?

Im Idealfall stehen wir als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in der Mitte der Gesellschaft und führen dort den Dialog über unsere Arbeit. Eine gewisse Bescheidenheit ist nötig und eine Enthierarchisierung der Wissenschaften. Als Junge aus einfachen Verhältnissen hat mich schon immer gestört, dass da so eine Klassengesellschaft geschaffen wird. Wir haben alle unsere Erfahrungen und wenn wir die zusammenbringen, kommen wir alle weiter. Dann kann man sich auch jeden Tag über das ungeheure Privileg der Arbeit in den Wissenschaften freuen und diese Begeisterung weitergeben. Auch wir, die Akademien der Wissenschaft, sind ein Teil der Gesellschaft und leisten unseren Beitrag. Aber eben bescheiden, näher an den Problemen, mehr mit den Menschen. Dann können wir auch viel mehr bewirken.